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Flecken auf dem weißen Kittel

Allgemein

Flecken auf dem weißen Kittel
Ärzte im Kreuzfeuer der Kritik. Mediziner sind auch nur Menschen – doch unter ihren Fehlern, Mogeleien und Bestechlichkeiten leiden die Patienten. Etliche Bücher stellen das heikle Thema an den Pranger.

Unangefochten stehen Ärzte seit jeher an der Spitze der Rangliste angesehener Berufe. So auch 1996, als das Institut für Demoskopie Allensbach eine Gruppe von repräsentativ ausgewählten Deutschen bat, fünf Berufsstände zu nennen, die sie am meisten schätzen: 81 Prozent nannten die Ärzte – mit 37 Prozent teilten sich Rechtsanwälte und Pfarrer den zweiten Platz.

Buchhändler kamen nur auf sieben Prozent und wurden damit letzte. Ausgerechnet sie könnten nun dafür sorgen, daß die Luft für die Weißkittel an der Spitze etwas dünner wird. Dafür müssen sie nur die Werbetrommel für einige neue Bücher schlagen, die kräftig am Image der Ärzte kratzen.

Am brisantesten ist das Buch Patient: Nebensache. Auszüge aus diesem Tagebuch eines Arztes hat der „Spiegel“ bereits letztes Jahr vorab veröffentlicht. Warum sich der Autor hinter dem Pseudonym „Doktor Med“ versteckt, dafür gibt es zwei unterschiedliche Erklärungen: Während das Hamburger Wochenmagazin ihn angeblich durch Anonymität „vor dem Fallbeil der Standesgerichtsbarkeit“ schützen will, gibt der Buchverlag Hanser an, in erster Linie die Anonymität von Doktor Meds Patienten wahren zu wollen.

Ob es sich tatsächlich um ein authentisches Tagebuch handelt, ist unter diesen Umständen nicht zu überprüfen. Vermutlich hat der Schreiber von vornherein eine Veröffentlichung geplant – und Lektoren oder Journalisten haben während des Schreibens dirigierend eingegriffen. Aber selbst wenn ein Ghostwriter das Manuskript verfaßt hätte, wäre es deshalb nicht weniger alarmierend. Denn daß hier mit Insider-Wissen ein wahres Bild des ärztlichen Alltags gezeichnet wird, steht außer Zweifel.

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Zur Kurzweil des Lesers trägt der Umstand bei, daß Doktor Med Urologe ist: ein Facharzt also, der sich unter anderem mit ungewollter Kinderlosigkeit und Potenzproblemen beschäftigt. Die Behandlung der Patienten ist da oft im Spannungsfeld zwischen psychologischer Einflußnahme und operativer oder medikamentöser Hilfe angesiedelt. Fast nebenbei erfährt man so auch eine Menge über menschliche Verhaltensweisen rund um die Sexualität. Doch dem anonymen Mediziner geht es um mehr. Sein Anliegen ist es, auf die Krise unseres Gesundheitssystems aufmerksam zu machen.

In den letzten Jahren ist über die Ärzte eine Reformwelle nach der anderen geschwappt – nicht ohne Folgen: Alle paar Monate müssen sie neue Verordnungen und neue Gebührenziffern für die Abrechnung pauken. Doktor Med: „Statt wissenschaftlicher Kongresse besuche ich Abrechnungsseminare, statt über Problemfälle grüble ich über Abrech-nungstricks und Einnahmeverluste.“

Das unübersichtliche System fördert, daß der Kranke nicht so behandelt wird, wie es medizinisch sinnvoll erscheint, sondern so, daß es dem Einkommen des Arztes dient. Ein alltägliches Beispiel: Bei der Vorsorgeuntersuchung eines 75jährigen Mannes, der keinerlei Beschwerden hat, weist ein Bluttest auf Prostatakrebs hin. Der „normale“ Urologe ordnet eine Gewebsentnahme aus verschiedenen Stellen der Vorsteherdrüse an. Bestätigt sich der Verdacht, kastriert er seinen Patienten chemisch, indem er ihm alle paar Wochen eine Spritze (für 800 bis 2000 Mark) gibt.

Solche Urologen beachten nicht, daß 70 Prozent aller über Siebzigjährigen Prostatakrebs haben, der keinerlei Beschwerden macht – und nichts bedeutet. So hat ein 75jähriger „so gut wie keine Chance, an seinem Prostatakrebs zu sterben, ein anderes Leiden wird ihn im Laufe der nächsten Jahre dahinraffen“, notiert Doktor Med. Seine Schlußfolgerung: „Der Mann wäre ohne seinen Urologen besser dran: nicht verweiblicht, kräftiger, schlanker, munterer, optimistischer.“

Was Doktor Meds Buch hätte scheitern lassen können, sind ironische, oft sogar zynische Passagen. Schließlich berichtet der Arzt auch über Erlebnisse mit Todkranken oder über ärztliche Versäumnisse. Doch es ist zu spüren, daß sich hinter dem Zynismus nicht Menschenverachtung, sondern Mitleid, Hilflosigkeit und Wut verbirgt. Daß der Autor auch eigene Kunstfehler offenlegt, verstärkt seine Glaubwürdigkeit.

Vier ärztliche „Betrugs-Grade“ soll es laut Doktor Med geben: Erster Grad – überflüssige Untersuchungen. Zweiter Grad – Abrechnung von nicht erbrachten Leistungen. Dritter Grad – Abrechnung von nicht erbringbaren Leistungen (ohne entsprechende Kenntnisse, ohne notwendige Geräte). Vierter Grad – Durchführung nicht notwendiger gefährlicher Untersuchungen und Operationen.

„Die Politik ist es, die auch unseren Stand immer mehr zu Korruption und Schleicherei erzieht“, notiert der anonyme Urologe. Doch er weiß, daß Politik nicht nur in Bonn gemacht wird, sondern auch bei den Ärztekammern und Kassenärztlichen Vereinigungen, die den Geld-Kuchen in Selbstverwaltung verteilen.

Eine ungewöhnliche Sicht auf Gesundheitswesen und Politik eröffnet ein anderes Buch: Das Märchen von der Kostenexplosion. Die Autoren versuchen nachzuweisen, daß unser Gesundheitssystem weder zu teuer ist, noch die Patienten zu Mißbrauch einlädt.

Während der Ärzte-Alltag in Patient: Nebensache aus der persönlichen Perspektive eines einzelnen Mediziners geschildert wird, bezieht der Autor Klaus Waller in Habgier in Weiß sein Wissen vor allem aus Zeitungen und Zeitschriften für Ärzte. Weil dieser Berufsstand für die Pharmaindustrie extrem wichtig ist und massiv beworben wird, existieren Hunderte solcher Publikationen. Darin werden nicht nur medizinische Neuigkeiten ausgetauscht, sondern vor allem berufspolitische Themen und Honorarfragen diskutiert. Waller hat daneben auch die Publikumspresse und die Bücher von prominenten Medizinkritikern gesichtet – Julius Hackethal ist wohl der bekannteste unter ihnen. Waller schildert grundsätzlich ähnliche Phänomene wie Doktor Med – Diagnose: Honorarsuche, Therapie: Geldabschneiden, Ergebnis: Kunstfehler nennt er die drei Teile seines Buches. Er behandelt dabei auch Themen, die in Doktor Meds Tagebuch notwendigerweise nicht vorkommen: zum Beispiel die Geschäfte mit Zahngold und Schönheitsoperationen oder den Herzklappenskandal. Der Einfluß von Gesundheitsreform und Wirtschaftslage auf das Verhalten der Ärzte interessiert Waller dagegen nur am Rande.

Eine differenzierte Recherche und Darstellung sucht der Leser vergeblich. Das Buch lebt von zahlreichen Einzelbeispielen – man muß sich mit der Einschätzung des Autors begnügen, sie seien nur die „sprichwörtliche Spitze eines Eisberges“. Sehr störend: Das Buch ist platt und reißerisch geschrieben – eine schlichtere Wortwahl wäre angenehmer gewesen.

Auch Lynne McTaggart geht in Was Ärzte Ihnen nicht erzählen mit ihrer Kritik an Medizin und Medizinern sehr weit. „Nicht viel mehr als Vodoo des 20. Jahrhunderts“ sei ein großer Teil von dem, was man heute als medizinischen Standard betrachte, behauptet die Journalistin. Solche Pauschalurteile schaden ihrer Glaubwürdigkeit. Das ist zu bedauern, denn sie äußert auch berechtigte Kritik und unterbreitet einige vernünftige Ratschläge. So sollte ein Patient darauf drängen, daß der Arzt ihm überzeugend erklärt, warum er eine Computertomographie oder eine Mammographie für sinnvoll hält. Man denke an Doktor Med: In seiner Liste ärztlicher Mogeleien stehen überflüssige Untersuchungen ganz oben.

Ärzte-KRITIK

Doktor Med Patient: Nebensache Hanser 1998, DM 29,80

Braun, Kühn, Reiners Das Märchen von der Kostenexplosion Fischer, 1998, DM 19,90

Klaus Waller Habgier in Weiß Heyne 1998, DM 16,90

Lynne McTaggart Was Ärzte Ihnen nicht erzählen Sensei 1998, DM 36,90

Frank Frick

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