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STREIT UM CHINAS STEINZEIT

Geschichte|Archäologie

STREIT UM CHINAS STEINZEIT
Wann ging man im Reich der Mitte zur Pflanzen- und Tierzucht über? Viele Datierungen sind fehlerhaft. Und es ist unklar, was in China überhaupt „Jungsteinzeit” bedeutet.

MIT EINEM LACHENDEN und einem weinenden Auge hat die Archäologin Jeanette Werning den 1. Juni 2008 erlebt. Mit einem weinenden Auge, weil an diesem Tag die von ihr mit konzipierte und betreute Erfolgsausstellung „Ursprünge der Seidenstraße” an den Reiss-Engelhorn-Museen (REM) in Mannheim zu Ende gegangen ist. Aber auch mit einem lachenden: Denn jetzt hat sie wieder ein bisschen mehr Zeit, um sich ihrem ambitionierten Wörterbuch-Projekt zu widmen. Werning, Mitarbeiterin der Curt-Engelhorn-Stiftung der REM und wissenschaftliche Kuratorin an der Forschungsstelle „Archäologie und Kultur Ostasiens”, kann auf mehr als zwei Jahrzehnte zurückblicken, in denen sie vom Chinesischen ins Deutsche übersetzt und gedolmetscht hat. Man muss schon – wie Werning – in China studiert haben, um zu wissen, dass dort bei den Archäologen beispielsweise „hua tu” (wörtlich: „ geblümte Erde”) „von Menschenhand umgelagerter Boden” bedeutet und „banmasuo” (wörtlich: „Stolperdraht”) eine antike „ Pferdefessel aus Holz oder Leder”. Wer das nicht weiß, steht beim Lesen eines chinesischen Grabungsberichts vor Rätseln.

Hier will Jeanette Werning Abhilfe schaffen: Sie treibt als Projektleiterin die Arbeiten am ersten archäologischen Fachwörterbuch Chinesisch-Deutsch voran. Es wird rund 14 000 Begriffe umfassen. „Ich hoffe, die fachsprachliche Barriere lässt sich damit aus dem Weg räumen. Sie ist ein großes Hindernis zwischen den chinesischen und deutschen Kollegen”, sagt die Mannheimerin, „eine Quelle von Missverständnissen.” Doch die Verständnisprobleme zwischen den Archäologen im Westen und denen im Reich der Mitte reichen weit tiefer. Das wird besonders deutlich, wenn es um den Zeitraum von etwa 10 000 bis 5000 vor Christus in China geht. Innerhalb dieses Zeitfensters hat die „ Neolithisierung” stattgefunden, wie die Fachleute sagen: der Übergang von der Altsteinzeit zur Jungsteinzeit („Neolithikum”), der aus Wildbeutern am Ende Ackerbauern und Viehzüchter machte. In Mitteleuropa vollzog sich dieser epochale Wandel zwischen 5600 und 5000 vor Christus.

Und in China? Wenn es zum Beispiel nach den Veröffentlichungen des in China sehr bekannten Archäologen Zhao Zhijun geht, wurde schon 8000 vor Christus im mittleren Jangtse-Becken neben wildem Reis kultivierter verzehrt (Pengtoushan-Kultur). Andere chinesische Archäologen bieten 7000 vor Christus als Zeitpunkt für den Reisanbau im Jangtse-Delta (Hemudu-Kultur) und 7500 vor Christus für den Hirseanbau im Tal des Gelben Flusses (Cishan-Peiligang-Kultur). Die Neolithisierung wäre also extrem früh in China abgelaufen. Doch ein Schatten liegt über den chinesischen Datierungen. Und bei der Frage, was eigentlich „ neolithisch” bedeutet, sind Ost und West vollends überkreuz miteinander. Zu besserer Verständigung gehört ehrliche Kritik. Um die Fakten auf den Tisch zu legen, hat wiederum Jeanette Werning in den vergangenen Jahren Pionierarbeit geleistet. Systematisch klopfte die Mannheimerin die Angaben in chinesischen Publikationen über frühneolithische Ausgrabungen auf Plausibilität ab. Unter anderem besorgte sie sich die C-14-Messprotokolle der beteiligten chinesischen Physiklabors und kämmte sie durch. 2003 veröffentlichte sie ihre mühevolle Arbeit (siehe „Mehr zum Thema”). Sie kritisiert darin „methodische Mängel” – vor allem „große Datierungsprobleme”.

DIE CHINESEN RECHNEN ANDERS

Die Radiokohlenstoff-Datierung organischer Materie ist ein Standardverfahren der Altersbestimmung. Misst man den Anteil des Kohlenstoff-Isotops C-14 in kohlenstoffhaltigen Relikten einer Bodenschicht, kann man daraus auf das Alter der Schicht rückschließen. Weltweit legen die Experten bei solchen Messungen die sogenannte konventionelle Halbwertszeit des C-14-Isotops von 5570 Jahren zugrunde. „Die Chinesen rechnen aber mit der physikalischen Halbwertszeit von 5730 Jahren, ohne in ihren Publikationen immer darauf hinzuweisen”, entdeckte die Forscherin.

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Noch folgenschwerer sind Probennahme und -vorbereitung. Werning zählt auf:

• Bis Anfang der Neunzigerjahre haben die chinesischen Kollegen meist nur Holzkohlestückchen datiert. Die können aber aus den inneren Ringen von mehrhundertjährigen Bäumen stammen und dadurch erheblich älter sein als der Fund, neben dem die Holzkohle lag.

• Die Holzkohle in Kalksteinhöhlen ist oft mit wesentlich älteren Karbonaten verunreinigt. Diese Partikel muss man vor der Datierung umständlich herauslösen. Wird das nicht sorgfältig genug gemacht, erhält man ein viel zu hohes Alter.

• Die Messdaten müssen wegen Schwankungen des atmosphärischen Kohlenstoff-14-Gehalts im Lauf der Jahrtausende kalibriert werden – auch hierbei wurde gepatzt. Werning: „Durch die Kombination solcher Fehler wird dann eine neolithische Fundstelle auf 9000 Jahre datiert, die in Wahrheit höchstens 7500 Jahre alt ist.”

Sind die in den chinesischen Publikationen aufgeführten neolithischen Fundstätten wenigstens zweifelsfrei genau dies – „ neolithisch”? „Die Chinesen sagen ,ja‘, sobald sie Hüttengrundrisse, Mahlsteine und Keramik im Boden finden”, sagt Werning. Das hätte noch in den Sechzigerjahren auch ein westlicher Archäologe für „typisch jungsteinzeitlich” gehalten. Denn Hütten signalisieren Sesshaftigkeit, Mahlsteine sind zur Verarbeitung von Getreide nötig, und ohne Behältnisse lassen sich Lebensmittel weder aufbewahren noch zubereiten. Doch während Maos Kulturrevolution von 1966 bis 1976 Chinas Wissenschaftler isolierte, wurde im Westen die alte Definition von einer neuen abgelöst – die sich aber in China nur zögernd etabliert.

WESTLER FORDERN: DOMESTIKATION!

Westliche Archäologen orientieren sich heute an den Befunden zur Wirtschaftsweise. Hütten, Keramikscherben und Mahlsteine, so ihr Argument, können sehr wohl auch Attribute einer reinen Jäger-und-Sammler-Kultur sein: In einer wildreichen Gegend mit ausgedehnten Wäldern, die Nüsse, Eicheln und vieles mehr liefern, können sich Menschen jahrzehntelang ortsfest niederlassen, ohne zwangsläufig zu Züchtern zu werden. Und auf einem Mahlstein kann man alles mögliche reiben, um daraus in einem Tontopf einen Brei zu kochen – die Samen von Wildgräsern, Wurzeln, Nüsse, sogar getrockneten Fisch. Für das Prädikat „neolithisch” fordern die westlichen Archäologen eine weitere, notwendige Bedingung: „ Domestikation”. Das heißt: Die ausgegrabenen Tierknochen oder Getreidekörner müssen Anzeichen von züchterischer Veränderung tragen. Wildgräser beispielsweise – dazu gehören die Urformen der Getreidearten – säen sich aus menschlicher Perspektive viel zu leicht aus: Ihre Ährenspindel zerbricht bei der Reifung, und die Körner rieseln auf den Boden. Für die Vermehrung der Pflanze ist das von Vorteil, doch nicht für den Pflücker: Er will die Ernte möglichst vollständig heimbringen. Also wählt er im Lauf der Zeit Pflanzen aus, die stabilere Ähren haben. So beginnt die Domestikation. Die Ährenspindeln werden bruchfester, die domestizierten Getreidekörner größer und rundlicher, auch gleichförmiger.

Vor diesem echten Neolithikum liegt eine Übergangszeit, in der die Menschen noch die Wildformen angebaut haben. Ob man bei einer Grabung auf eine klar neolithische Siedlung gestoßen ist oder auf eine aus der Übergangszeit, lässt sich also an der Gestalt der dort gefundenen Getreidekörner ablesen. Das klingt nach einem simplen Kriterium, doch hier ist ein akademischer Ost-West-Konflikt im Gange. Wortführerin der chinesischen Fraktion ist Liu Li, Archäologin an der australischen La Trobe University, Wortführer der westlichen der Archäobotaniker Dorian Fuller vom University College London. Fuller sieht beispielsweise bei den frühen Ufersiedlungen am mittleren und unteren Jangtse eine zu geringe Größe und zu große Variabilität der Reiskörner, um an domestiziertes Getreide zu glauben. Er setzt den Beginn des Anbaus von eindeutig domestiziertem Reis im Jangtse-Delta auf 4000 vor Christus an – 3000 Jahre später als Liu.

Jeanette Werning wünscht sich eine Rückkehr zu kooperativer Forschungsarbeit. Denn gerade in China gebe es Erkenntnisschätze zu heben. „Es scheint”, sagt sie, „dass die Neolithisierung in China in besonderer Weise abgelaufen ist – ganz anders als in Europa.” In Europa hat sich in wenigen Hundert Jahren der Wechsel vom Wildbeutertum zu Ackerbau und Viehzucht komplett vollzogen: Bereits domestizierte Pflanzen und Tiere waren von bäuerlichen Pionieren in unsere Großregion eingeführt worden, meist aus Vorderasien. In China hingegen existierte mehrere Tausend Jahre eine ungewöhnliche Mischform: Einerseits lange belegte Siedlungen und Gräberfelder, qualitätvolle Keramik, perfekt geschliffene Steingeräte und Mahlsteine – alles wie in Europa. Doch die Domestikation von Tieren und Pflanzen kam offenbar erst spät.

„Die Menschen haben ihre Wohnplätze häufig am Fuß von damals bewaldeten Hügeln gebaut”, erklärt Werning. „Vor sich die Ebene mit Gewässern, im Rücken den Wald mit Wild und Wildfrüchten. Sie hatten eine spezielle Strategie: Sie wollten ein Maximum an Nahrungsquellen, mit einem Standbein im althergebrachten Jäger-Sammler-Dasein – und mit einem Spielbein in der neuen neolithischen Welt.” ■

von Thorwald Ewe

KOMPAKT

· Viele Funde aus dem Früh-Neolithikum in China sind jünger, als die Datierungen der chinesischen Forscher angeben.

· Etliche frühe Bodenfunde von Hirse und Reis – als Beweise für Pflanzenzucht präsentiert – sehen eher nach Wildformen aus als nach domestiziertem Getreide.

KULTUREN IM WANDEL – HUNDE, rEIS UND SEIDENRAUPEN

Die Zucht von Schweinen, Rindern und Schafen war in mehreren neolithischen Regionalkulturen Chinas seit etwa 6000 v.Chr. üblich. Schon 2000 Jahre früher hatte der Anbau von Reis begonnen – am Mittellauf und an der Mündung des Jangtsekiang. Die Menschen nördlich davon kultivierten um die gleiche Zeit Hirse und züchteten Hunde – als Fleischlieferanten. Um 4000 v.Chr. gab es in der Yang- shao-Kultur die ersten Seidenraupen. 1500 Jahre später wurden erstmals mit Erdmauern befestigte größere Siedlungen gebaut.

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Analyse der Datierungen und der Arbeitsweise chinesischer Archäologen: Jeanette Werning FRÜHESTE SCHERBEN, FRÜHESTER REIS, FRÜHESTE HIRSE In: Jörg Eckert, Ursula Eisenhauer, Andreas Zimmermann (Hrsg.) ARCHÄOLOGISCHE PERSPEKTIVEN Verlag Marie Leidorf, Rahden 2003 Studia honoraria, 20, S. 561–573 (vergriffen, nur noch antiquarisch erhältlich)

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