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AUFRÜSTUNG FÜRS GEHIRN

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AUFRÜSTUNG FÜRS GEHIRN
Taube hören, Blinde sehen und Lahme gehen – die moderne Neurotechnologie verwirklicht biblische Verheißungen. Und sie macht sich daran, ganze Hirnareale nachzubauen oder zu erweitern.

Dass Affen in den TV-Abendnachrichten vorkommen, ist nicht gerade üblich. Doch Ende Mai sorgten die beiden Rhesusaffen „A“ und „P“ für Aufsehen. Denn sie können etwas, das sich wie Parapsychologie anhört: Materie mit Geisteskraft bewegen. Gläserrücken wäre ein Kinderspiel für sie. Die beiden Affen sind in der Lage, mit einem Roboterarm praktisch in Echtzeit viel komplexere Handlungen auszuführen. Die setzen sich aus fünf Einzelbewegungen zusammen: drei mit dem Schultergelenk, eine mit dem Ellbogen und eine, das Zugreifen, mit der künstlichen Hand. So konnten die Affen millimetergenau kleine Leckerbissen packen und zum Mund führen, während ihre eigenen Arme an den Körper gefesselt waren. Essensreste, die ihnen aus dem Mund fielen, nahmen sie wieder auf, und sie leckten sich nach dem Mahl die künstlichen Finger – für die Forscher ein Indiz dafür, dass sie den Arm als ihren eigenen betrachteten. Über das Kunststück berichtete ein Forscherteam um Meel Velliste von der University of Pittsburgh in der Fachzeitschrift nature. Die Wissenschaftler hatten den Affen knapp 100 feine Elektroden in den primären motorischen Kortex unter dem Schädeldach implantiert. Diese Region der Großhirnrinde ist maßgeblich an der Bewegungsplanung und -steuerung beteiligt.

Die Rhesusaffen hatten innerhalb weniger Tage gelernt, zunächst über einen Joystick und dann direkt über ihre Hirnaktivitäten den Roboterarm zu bedienen und mit seiner Hilfe an Nahrung zu gelangen. Je nach Schwierigkeit der Bewegungen waren sie bei mehr als 60 bis fast 80 Prozent der Versuche erfolgreich – bei über 1000 insgesamt. Was sich gruselig liest, ist in dreifacher Hinsicht eine bemerkenswerte Leistung:

· für das Affengehirn, das unter so „unnatürlichen“ Bedingungen so komplexe Aktionen ausführen kann, und das bei nur wenigen Schaltverbindungen nach außen,

· für die Hard- und Software, die die neuronalen Impulse in sinnvolle Steuerungssignale umgerechnet hat,

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· und für die Weiterentwicklung der Brain-Computer-Interface-Technik, die ein großes Anwendungspotenzial verspricht. Denn wer mit „Gedankenkraft“ Prothesen steuern oder auch nur ein Computerprogramm bedienen kann, hat einen großen Gewinn an Freiheit. So hoffen viele schwerstbehinderte Menschen, die wie der Kosmologe Stephen Hawking total gelähmt sind, auf eine effektive Mensch-Maschine-Kommunikation. Bis zur Serienreife werden noch Jahre vergehen. Aber Hard- und Software-Lösungen sind ein technisches Problem, kein prinzipielles mehr. Tatsächlich wurde schon im Juni 2004 der erste Mensch mithilfe von Elektroden tätig: Matthew Nagle. Über ein Kabel, das vom Kopf zu einem Computer am Rollstuhl führte, konnte er den Cursor auf dem Monitor bewegen, E-Mails öffnen, das TV-Programm steuern und einfache Computerspiele machen. Künftig müssen die – noch sehr fragilen, kurzlebigen – Elektroden vielleicht nicht einmal mehr direkt ins Gehirn eingepflanzt werden. Experimente zeigen: Im Prinzip reichen Detektoren auf oder in der Kopfhaut aus, um die elektrischen Felder zu messen, die die Hirnaktivitäten begleiten.

GEHÖRLOSE KÖNNEN TELEFONIEREN

Schon weiter als die Technisierung der motorischen Seite des Gehirns ist die der sensorischen. Seit 1957 gibt es Cochlea-Implantate, die inzwischen von über 100 000 Gehörlosen getragen werden. Bei diesen Hörprothesen stimulieren Metallelektroden die Nervenzellen des Hörnervs in der Hörschnecke (Cochlea) des Innenohrs. Anfangs vernehmen die Patienten nur Rauschen und Knacken, doch nach einigen Monaten können sie Worte verstehen und sogar telefonieren.

Auch die künstliche Netzhaut gibt es schon in Form eines Retina-Chips, wie ihn ein Team um Eberhart Zrenner an der Universität Tübingen 2006 erstmals unter die Netzhaut eingepflanzt hat. Er erlaubt grobe Seheindrücke und somit zumindest eine gewisse Orientierung – ein Lichtblick für Blinde. „ Gleich der erste Patient konnte senkrechte von waagerechten Lichtbalken unterscheiden und genau sagen, in welche Richtung sich Punkte bewegen“, freut sich Zrenner über den Prototyp mit 16 Pixelfeldern unterschiedlicher Helligkeit. Nun kommen Chips mit 1500 Pixelfeldern zum Einsatz. Das ist zwar wenig im Vergleich zu den 110 Millionen Stäbchen und 6 Millionen Zapfen auf der Fläche eines 2-Euro-Stücks im gesunden Auge, aber doch weit mehr als nur ein Hoffnungsschimmer.

Auch wenn noch vieles Zukunftsmusik ist, zeigen die Experimente schon jetzt: Um verlorene Sinne zu kompensieren, reagiert das Gehirn selbst im Erwachsenenalter flexibler als bislang gedacht. In einem weiteren Schritt könnten Menschen mit ganz neuen Sinnen ausgestattet werden, um die biologischen Grenzen zu überwinden – mit Ultraschall-Ortungsgeräten oder Sensoren für Infrarot-, Ultraviolett- oder Röntgenstrahlung oder für Radioaktivität. Selbst funkgesteuerte Telepathie von Gehirn zu Gehirn ist denkbar.

ERSATZTEILE FÜRS GEHIRN

Noch größer ist die Herausforderung, die Areale des Gehirns aufzurüsten, die nicht direkt mit Sinnes- oder Muskelzellen kommunizieren, sondern beispielsweise für Denken, Planen und Erinnern „zuständig“ sind. Hirnersatzteile könnten eines Tages Hirntumor-, Schlaganfall- oder Alzheimer-Patienten helfen. Vielleicht lassen sich dann auch gesunde Gehirne verbessern: Ein Retina-Chip könnte die Sehleistung verzehnfachen, ein Google-Chip das Weltwissen sofort greifbar machen und ein lexikalischer Gedächtnis-Chip den Wortschatz fremder Sprachen bereitstellen, ohne dass man stupide Vokabeln pauken muss.

Das mag utopisch klingen. Doch der Nachbau von Teilen des menschlichen Gehirns hat bereits begonnen. So versucht der Bioingenieur Kwabena Boahen von der Stanford University mit seinem Team, die menschliche Sehrinde mit Hard- und Software zu imitieren. Auch ein Modell des Hippocampus gibt es schon. Diese Struktur im Schläfenlappen speichert räumliche Erinnerungen und dient als „Tor“ zum Langzeitgedächtnis. „Ich möchte herausfinden, wie das Gehirn funktioniert – und zwar so genau, dass ich es nachbauen kann“, sagt Boahen. Sein Ziel klingt vermessen, denn es ist unmöglich, die Gehirnaktivitäten von Säugetieren in Echtzeit zu verfolgen oder die Veränderungen an Tausenden von Nervenzellkontakten. Technische Modelle jedoch können die Grundprinzipien verstehen helfen und lassen sich auch viel besser analysieren. Und einer alten Ingenieursweisheit zufolge versteht man eigentlich nur das richtig, was man auch bauen kann.

Allerdings verarbeiten konventionelle Computer Informationen anders als lebende Gehirne. Die Computer operieren digital: mit Nullen und Einsen beziehungsweise auf der physikalischen Ebene mit Transistoren, deren Schalter Strom entweder durchlassen oder sperren. Außerdem ist eine zentrale Uhr nötig, um diese Prozesse zu synchronisieren. So „schlägt“ die Uhr in einem 2-Gigahertz-Pentium-Prozessor zwei Milliarden Mal in der Sekunde. Das ist exzellent für Textverarbeitung, Schachprogramme oder Grafikdesign, aber praktisch nutzlos für die Nachahmung von Fähigkeiten, die für Menschen selbstverständlich sind: Sätze aus dem Stimmgewirr einer Party herauszuhören oder einen bestimmten Gegenstand unter vielen zu erkennen.

IMITATE VON NERVENZELLEN

Nervenzellen sind zwar auch eine Art elektrische Schalter, aber sie arbeiten quasi analog: Sie können mehr oder weniger kontinuierlich Strom empfangen und abgeben. Zudem laufen im Gehirn viele Prozesse parallel, simultan und autonom ab. Jede Nervenzelle kann mehrere Tausend Signale von anderen Neuronen verarbeiten und feuert nur, wenn diese Inputs einen gewissen Schwellenwert überschreiten. Doch bereits Ende der Achtzigerjahre hat Computerwissenschaftler Carver Mead vom California Institute of Technology in Pasadena vorgeschlagen, Hardware-Äquivalente von Nervenzellen zu bauen, statt deren Funktion nur mit Software zu simulieren. Das ist sogar mit denselben Transistoren möglich, die in Digitalcomputern verwendet werden. Denn Transistoren können auf zweierlei Weisen arbeiten: Einerseits wird ab einer bestimmten Spannung der Transistor ein- oder ausgeschaltet; das geschieht in Computern. Andererseits verhält sich derselbe Transistor bei geringeren Spannungen wie ein Verstärker und produziert eine Ausgangsspannung, die proportional zur Eingangsspannung ist. Diese Eigenschaft lässt sich nutzen, um analoge Nervenzellen nachzuahmen. Eine Zentraluhr ist dafür nicht nötig.

Die ersten Silizium-Neuronen von Mead waren grobschlächtige Näherungen. Aber inzwischen wurde die Technik weiterentwickelt. Boahens Team hat damit Chips gebaut, die die Netzhaut und die primäre Sehrinde von Säugetieren realistischer nachbilden. So lassen sich bereits Bilder mit einer Auflösung von 96 mal 60 Pixeln registrieren. Das ist noch immer 200 Mal schlechter als bei einer menschlichen Retina, aber gut genug, um Gesichter wahrzunehmen und günstigstenfalls auch zu unterscheiden. Boahens bester „Sehcomputer“ besitzt 8000 künstliche Neuronen auf einer 10 Quadratmillimeter großen Siliziumplatte.

KÜNSTLICHES BEWUSSTSEIN?

Auch bei der Nachahmung der „neuronalen Plastizität“, die grundlegend für Entwicklung und Lernen ist, gibt es Erfolge. So hat der Computeringenieur Paul Hasler vom Georgia Institute of Technology in Atlanta Transistoren entwickelt, die mehr oder weniger Ladung durchlassen. Das soll einer stärkeren beziehungsweise schwächeren synaptischen Verbindung entsprechen. Eine solche flexible Anpassungsfähigkeit ist nicht nur nötig, um die Hirnsimulatoren realistischer zu machen, sondern auch erforderlich, um solche Neuro-Chips vielleicht eines Tages als Neuroprothesen zu nutzen: als Ersatzteile oder Erweiterungsmodule des menschlichen Gehirns. Präzise lassen sie sich nicht ins Nervengewebe einpassen – Gehirn und Chip müssen sich daher erst selbstorganisierend aufeinander einstellen.

Fraglich ist, ob es im Prinzip genügt, hier und da einen Chip anzuflanschen, oder ob ein kompletter Umbau des Gehirns nötig wäre. Möglicherweise reicht es, die entscheidenden „Flaschenhälse“ bei der neuronalen Informationsverarbeitung zu erweitern. Besonders wichtig ist dabei das Arbeitsgedächtnis, das die aktuellen Informationen „im Bewusstsein“ hält. Spätestens hier stellt sich eine Frage, die über die Wissenschaft hinausgeht: Werden die künstlichen Hirnteile oder gar ganze Silizium-Gehirne so etwas wie Bewusstsein ausbilden? Wie lange wird es noch dauern, bis sich die Kunstgehirne selbst in die Diskussion einschalten? Sie einfach auszuschalten, wäre dann womöglich Mord … ■

von Rüdiger Vaas

MEHR ZUM THEMA

LESEN

Drei Bücher über die Zukunft des Gehirns:

Rüdiger Vaas SCHÖNE NEUE NEURO-WELT Hirzel, Stuttgart 2008, € 19,80

Reinhard Merkel u.a. INTERVENING IN THE BRAIN Changing Psyche and Society Springer, Berlin 2007, € 80,20

Leonhard Hennen u.a. EINSICHTEN UND EINGRIFFE IN DAS GEHIRN Die Herausforderung der Gesellschaft durch die Neurowissenschaften Edition Sigma, Berlin 2008, € 18,90

Wichtige Aufsätze über Gliazellen:

Greg Miller The Dark Side of Glia In: Science 5732, S. 778–781 (2005)

Jaideep S. Bains, Stéphane H. R. Oliet Glia: They make your memories stick! In: Trends in Neuroscience 30, S. 417–424 (2007)

Devin K. Binder, Christian Steinhäuser Functional changes in astroglial cells in epilepsy In: Glia 54, S. 358–368 (2006)

Benedikt Berninger, François Guillemot, Magdalena Götz Directing neurotransmitter identity of neurons derived from expanded adult neural stem cells In: Eur. J. Neuroscience 25, S. 2581–2590 (2007)

Magdalena Götz, Eva Hartfuss, Paolo Malatesta Radial glial cells as neuronal precursors A new perspective on the correlation of morphology and lineage restriction in the developing cerebral cortex of mice In: Brain Res. Bull. 6, S. 777–788 (2002)

SYMPOSIUM

Vom 10. bis zum 12. Oktober geht es im jährlichen Symposium des „Turms der Sinne“ in Nürnberg um das Thema KÜNSTLICHE SINNE – GEDOPTES GEHIRN Neurotechnik und Neuroethik Die Veranstaltung ist für interessierte Laien konzipiert. Infos: www.turmdersinne.de

KOMPAKT

· Gedanken können über Elektroden Roboter und Computer steuern.

· Hör- und Sehprothesen ersetzen ausgefallene Sinnesorgane.

· Neuromorphe Hard- und Software soll Ersatzteile fürs Gehirn liefern – sowie eines Tages Wissen und Intelligenz verbessern.

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

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Gly|ko|koll  〈n. 11; unz.; Biochem.〉 süßschmeckende, einfachste Aminosäure, Baustein fast aller Eiweißstoffe; Sy Glyzin … mehr

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