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SCHÖPFERISCHER SCHWARM

Astronomie|Physik Technik|Digitales

SCHÖPFERISCHER SCHWARM
Heute ein Auto, morgen eine menschliche Gestalt: Forscher in den USA versuchen intelligenten „elektronische Knete“ dazu zu bringen, dass er Gegenstände nachbaut, die sich äußerlich nicht vom Original unterscheiden.

Der Ort: das Besprechungszimmer eines Automobilherstellers. Der Anlass: Die Entscheidung über das Design des neuen Fahrzeugmodells. Auf der Mitte des Konferenztischs steht ein Auto in der Größe eines Brotlaibs auf einer Art Gummimatte. Die Teilnehmer des Meetings sind von der Gestalt des neuen Wagens noch nicht überzeugt. Sie diskutieren darüber, ziehen das Heck ein wenig höher, machen das Dach etwas flacher und die Scheinwerfer ein bisschen größer. All das können sie direkt an dem verkleinerten Modell auf dem Tisch erledigen, denn es lässt sich wie Kuchenteig nach Belieben verformen. Zum Schluss wählen die Designer eine Farbe aus der Palette aus und färben die Karosserie per Knopfdruck ein. Bislang hatte man in solchen Besprechungen nur 3D-Bilder oder statische Nachbildungen eines Automobils vor sich, doch hier tüfteln die Entwickler an einem Gegenstand, der dem künftigen Wagen in allen Details gleicht und sich nach Wunsch verändern lässt. Die Designer sind begeistert.

Die Videoclips auf den Webseiten von Youtube sind manchmal ihrer Zeit voraus – so auch das Filmchen, das diese Szenen zeigt. Es ist Science Fiction. Seth Goldstein hat dafür ein anderes Wort: Zukunft. Seit über sechs Jahren arbeitet der Informatik-Professor an seiner Vision der „programmierbaren Materie“ – einer Vision, in der Hunderttausende winziger Roboter gemeinsam agieren, sich zusammenfügen und dadurch als Ganzes beliebige Formen annehmen können. Per Knopfdruck verwandelt sich ein unscheinbarer Haufen aus winzigen Krümeln in einen Würfel, ein Auto oder gar in die Gestalt eines Menschen. Die Krümel, die sich mithilfe eines Computers steuern lassen, bezeichnet Goldstein als „Catome“. Er denkt dabei an die Atome als Bausteine der natürlichen Materie.

„Diese Vision zu verwirklichen, ist eine schwierige Aufgabe“, gibt der Mittvierziger unumwunden zu. Zusammen mit seinem Professorenkollegen Todd Mowry leitet er an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh die Arbeitsgruppe Claytronics. Den Namen Claytronics – ein Kunstwort aus den englischen Begriffen „clay“ („ Knete“) und „electronics“ („Elektronik“) – erfanden die Mitglieder des Forscherteams. Er erinnert an die Wallace-und-Gromit-Animationen des britischen Trickfilmers Nick Park mit Figuren aus Plastilin und Drahtgestellen. Doch Claytronics soll kein Gimmick sein.

3D-BRILLEN WERDEN ÜBERFLÜSSIG

Mowry und Goldstein kennen sich bereits seit Mitte der Neunzigerjahre, aber in Sachen Claytronics war das Jahr 2002 für sie entscheidend: Damals referierte Goldstein auf einer Konferenz über das Konzept der intelligenten Materie. Mowry, der sich intensiv mit neuen Technologien für Videokonferenzen beschäftigte, war unter den Zuhörern. Er erkannte, dass man mit winzigen Robotern, wie Goldstein sie sich vorstellte, dreidimensionale Kopien von Teilnehmern und Gegenständen einer Videobesprechung erzeugen könnte – 3D-Brillen, um einen räumlichen Eindruck von den Videobildern zu bekommen, wären damit überflüssig. Goldstein gefiel die Idee, und das Projekt war geboren.

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Mowry, der in Elektrotechnik promoviert hat, galt schon früh als herausragender Kopf bei der Weiterentwicklung von Computerarchitekturen. Drei Jahre lang, von 2004 bis 2007, leitete er das Grundlagenforschungslabor des Chipherstellers Intel in Pittsburgh, bevor er wieder an die Carnegie Mellon University und in die Claytronics-Gruppe zurückkehrte. Die Idee der programmierbaren Materie verglich er in einem Interview einmal mit der ersten bemannten Mondlandung: visionär, sehr schwierig, aber nicht unlösbar.

„Wir wollen weder die physikalische Kopie, noch die chemische Zusammensetzung eines Objekts übertragen“, stellt Seth Goldstein klar. „Wir möchten mit der programmierbaren Materie lediglich einen physischen Gegenstand erzeugen, der irgendwann einmal Gestalt, Bewegung, äußeres Erscheinungsbild, Geräusche und fühlbare Eigenschaften des Originals imitieren kann.“ Dafür benötigen die Wissenschaftler ein Ensemble aus Hunderttausenden oder gar Millionen von millimetergroßen Robotern, die über ausreichend Rechenleistung, Sensoren, eigene Antriebs- und Fortbewegungsmechanismen verfügen. Jeder dieser Roboter – jedes Catom – muss sich frei bewegen, an anderen Catomen haften, mit ihnen kommunizieren und Informationen verarbeiten können. „Dafür sind sehr einfache Roboter erforderlich, die sich leicht und in großen Mengen herstellen lassen“, präzisiert Goldstein.

An der Entwicklung von anpassungsfähigen und autonomen Robotern arbeiten Forscher in aller Welt. Manchmal dienen ihnen Raupen als Vorbild, manchmal Insektenschwärme. „Vollständig autonome Roboter wären für uns jedoch viel zu komplex“, sagt Goldstein, dessen Arbeitsgruppe eng mit einem Team der Intel Labs zusammenarbeitet. Zu beiden Gruppen gehören insgesamt rund 20 Wissenschaftler.

NOCH SIND DIE MODELLE RIESIG

Wie weit Vision und Realität noch auseinander liegen, zeigt ein Blick ins Pittsburgher Labor. Von unzähligen sandkorngroßen Robotern ist da nichts zu sehen. Stattdessen experimentieren die Forscher mit einigen zylinderförmigen Catomen in der Größe von Tischtennisbällen. 24 schaltbare Elektromagnete an der Außenseite der Zylinder sorgen dafür, dass sie sich zueinander hin und voneinander weg bewegen können. Bei künftigen Catomen von nur wenigen Millimetern Größe sollen elektrostatische Kräfte für den Zusammenhalt sorgen. Bei den einige Zentimeter großen Exemplaren, die derzeit durch das Labor in Pittsburgh wuseln, brauchen Halterungen, Bauteile und Drähte noch reichlich Platz. Etwa Dreiviertel des Gewichts gehen aufs Konto der Magnete und ihrer Steuerungselektronik, weitere 20 Prozent sind für die Verkapselung erforderlich.

„Für die Herstellung von millimeterkleinen Catomen, die weniger als ein Gramm wiegen würden, könnte man gängige Fertigungsverfahren aus Mikroelektronik und Mikromechanik nutzen“ , sagt Goldstein. Das Verhältnis zwischen Größe, Masse und Energiebedarf würde sich dadurch erheblich verbessern. Um die grundlegenden Funktionsweisen der Claytronics zu erforschen, nutzen die Wissenschaftler in Pittsburgh bisher lieber große und einfach herstellbare Catome – zum Beispiel Helium-Ballone. „Sie sind ideale Modelle, um Oberflächeneffekte zu untersuchen“, erklärt Goldstein, „denn die störende Schwerkraft wird durch das Helium aufgehoben.“

TESTS MIT SCHNAPPVERSCHLUSS

Auch bei der Suche nach einem geeigneten Kopplungsmechanismus zwischen den Robotern experimentieren die Forscher um Goldstein und Mowry zunächst in makroskopischen Dimensionen: an einem sternförmig aufgebauten Schnappverschluss, so groß wie eine CD-Hülle, dessen beide exakt ineinander passenden Komponenten durch elektrostatische Kräfte zusammengehalten werden. Dazu haben die Wissenschaftler auf die Flanken der Sternspitzen dünne Elektroden geklebt. Wenn sie die beiden Teile des Verschlusses ineinander fügen, rücken die Elektroden eng zusammen, ohne sich zu berühren. Dazwischen wirkt dann eine elektrische Anziehungskraft. In der Zukunft soll jedes sich gegenüberliegende Elektrodenpaar zu verschiedenen Catomen gehören. „Je nach Ansteuerung der Elektroden kann man die Kräfte weiter erhöhen“, meint Goldstein. „Prinzipiell lässt sich sogar Energie übertragen, und man kann Informationen austauschen.“ Modellrechnungen zeigen, dass diese Mechanismen auch in Dimensionen funktionieren, die nur ein Zehntel oder ein Hundertstel so groß sind wie die derzeitigen Testobjekte.

Doch Roland Siegwart, Professor für autonome Systeme an der ETH Zürich, hat grundsätzliche Zweifel, ob die Wissenschaftler in Pittsburgh den richtigen Ansatz für die Realisierung einer programmierbaren Materie verfolgen. Siegwart sieht deutliche Vorteile in einem biologischen Konzept. Vor allem bei der Energieversorgung, der Miniaturisierung und sich selbst reparierenden Einheiten seien biologische Systeme viel weiter als technische. „Ich glaube, dass die Hardware bei einem technischen Ansatz nur schwer zu beherrschen ist“, sagt der Schweizer Experte. Verfrühter Optimismus sei jedenfalls fehl am Platz. „Vor 20 Jahren galten Mikromotoren aus Silizium als heißes Forschungsgebiet, doch irgendwann musste man erkennen, dass die dafür erforderliche Energiedichte nie zu erreichen ist“, erinnert Siegwart an eine Vision, die es nie in die Realität geschafft hat.

VERWIRRENDES ROBOTER-GEWUSEL

Seth Goldstein sieht das anders. Obwohl man für die Entwicklung der Hardware Neuland betreten muss, sei das kein entscheidendes Hindernis. Mehr Probleme bereitet dem amerikanischen Wissenschaftler und Visionär die Software, die Kommunikation, Energiemanagement und das Verhalten der Mini-Roboter im Ensemble steuern muss. „Tausende oder gar Millionen von Catomen sind nicht mehr einzeln steuerbar“, sagt Goldstein. „Das ist zu komplex.“ Nötig seien deshalb völlig neue Programmiermethoden und -sprachen sowie neuartige elektronische Schnittstellen. Was er damit meint, verdeutlicht Goldstein durch eine Analogie aus der Thermodynamik: „Wenn sich Moleküle bei einer bestimmten Temperatur in einem geschlossenen Behälter befinden und man dann dessen Temperatur verdoppelt, indem man etwa das Volumen des Behälters halbiert, bewegen sich die Moleküle schneller. Man muss dazu nicht von außen die Geschwindigkeit jedes einzelnen Moleküls verändern.“ Man nutzt also einen übergreifenden Effekt und kümmert sich nicht um die Feinsteuerung.

Thermodynamische Methoden für die Algorithmen von morgen? „Ich weiß es nicht“, gibt Goldstein unumwunden zu, „aber ich empfehle den Informatikern, sich auch damit zu befassen.“ Goldsteins Arbeitsgruppe hat die Bewegung der Catome durch Simulationen als zweidimensionale Bewegung beschrieben, der nur sehr wenige einfache Regeln zugrunde liegen. „Dabei haben wir Verfahren der Wahrscheinlichkeitsrechnung genutzt, um eindeutige Ergebnisse zu bekommen“, berichtet Goldstein.

Doch auch bei dieser Simulation stoßen die Wissenschaftler an Grenzen, wie Jason Campbell erläutert, Leiter des Claytronics-Projekts bei den Intel Labs in Pittsburgh: „Versucht man die Bewegung von einer halben Million Catomen zu simulieren, geht das wegen der beschränkten Rechenkapazität noch sehr, sehr langsam.“ Simulationen mit rund 50 000 Catomen funktionieren dagegen schon gut und schnell. Dabei verwenden die Forscher einen Algorithmus, der für 3D-Videospiele entwickelt wurde. „Wir sind auf diesem Forschungsgebiet heute etwa auf demselben Stand, wie in den Vierzigerjahren bei der Entwicklung von Computern: bei mechanischen Rechenmaschinen“, sagt Campbell.

KINDERTRÄUME WERDEN WAHR

Seitdem sind die Computer von zimmergroßen Kolossen zu winzigen, federleichten Westentaschenrechnern geschrumpft und ihre Leistungsfähigkeit ist gewaltig gestiegen. Auch bei der Entwicklung der Technologien für eine programmierbare Materie handle es sich um ein langfristiges Projekt, betont Campbell. Es werde mindestens fünf bis zehn Jahre dauern, bis man über Anwendungen der Technologie nachdenken könne.

Angesichts der vielen Probleme überrascht es Seth Goldstein nicht, dass ihm oft Skepsis entgegenschlägt. Zu den größten Fans der Idee von einer programmierbaren Materie gehören jedoch Goldsteins acht- bis zwölfjährige Kinder. Für die ist es kein Problem, sich tolle Anwendungen für die Technologie auszumalen, sagt der Wissenschaftler: etwa, sich jedes Spielzeug, das sie sich wünschen, von kleinen, fleißigen Roboterchen bauen zu lassen. Goldstein: „Jede Woche fragen mich meine Kinder, wann sie endlich die ersten Catome kriegen.“ ■

Michael Vogel arbeitet als freier Journalist in der Nähe von Stuttgart. Auch seine beiden Kinder wären von Catomen begeistert.

von Michael Vogel

KOMPAKT

· Winzige Roboter im Sandkorngröße sollen auf Befehl beliebige Objekte nach Wunsch formen.

· Dazu müssen die Forscher möglichst viele Funktionen auf Mikrochips packen.

· Schwierig ist bislang noch die Steuerung eines Schwarms aus Hunderttausenden bis Millionen von Minirobotern.

MEHR ZUM THEMA

INTERNET

Kurze Filme, die das Thema anschaulich darstellen, gibt es auf der Homepage der Arbeitsgruppe in Pittsburgh: www.cs.cmu.edu/~claytronics

Ein Videoclip über Claytronics auf Youtube: www.youtube.com/watch?v=bcaqzOUv2Ao

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