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Newtons Höhenflug

Allgemein

Newtons Höhenflug
Die Dekade der Röntgenastronomie beginnt mit Glanzlichtern. Der europäische Röntgensatellit XMM-Newton hat seine ersten Bilder zur Erde gefunkt. Astronomen und Ingenieure feiern das Hochleistungsobservatorium als einen neuen Meilenstein in der Erforschung der heißen Seite des Universums.

Martin Turner ist kaum zu bremsen. „Die ersten Bilder sind unglaublich spannend“, freut sich der Astronom von der britischen University of Leicester. Er deutet auf farbige Gebilde auf seinem Computerschirm: „In der Großen Magellanschen Wolke können wir Elemente sehen, die von gigantischen Sternexplosionen ins All geschleudert wurden und Rohstoff für neue Sterne und Planeten sind.“ Konrad Dennerl vom Max-Planck-Institut für Extraterrestrische Physik in Garching ist nicht weniger enthusiastisch. „Genau darauf habe ich gewartet! Nach jahrelangen Computersimulationen ist es wirklich aufregend, endlich echte Daten zu haben.“ Diese Daten stammen von XMM, einer Errungenschaft der europäischen Weltraumagentur ESA – mit 10 Meter Länge und 16 Meter Spannweite bei ausgeklappten Solarzellen-Flügeln der größte Forschungssatellit, der je in Europa gebaut wurde. XMM steht für X-ray Multi-mirror Mission und bezeichnet das derzeit leistungsfähigste Röntgenteleskop. Anläßlich der ersten Bilder hat es Roger Bonnet, Wissenschaftsdirektor der ESA, im Februar in XMM-Newton umgetauft: „Isaac Newton hat die Spektroskopie erfunden, und die Röntgenspektroskopie ist eine der Hauptaufgaben von XMM. Mit Newton assoziieren wir auch den fallenden Apfel, das Symbol für die Schwerkraft, und mit XMM werden wir hoffentlich viele Schwarze Löcher entdecken – Schwerkraftfallen par excellence.“ Zu den wichtigsten Zielen von XMM-Newton zählen außerdem die Überreste explodierter Sterne, die Quellen der kosmischen Strahlung und die des ominösen Röntgenhintergrunds. Auch heiße Gaswolken, rotierende und dabei regelmäßig aufblitzende Sternleichen sowie Vampirsterne, die mit ihrer Gravitation Materie aus einem Nachbarstern saugen, nimmt XMM ins Visier.

Das rund 1,3 Milliarden Mark teure Observatorium ist die zweite „Eckstein-Mission“ im ESA-Langzeitprogramm „Horizon 2000″. Es wurde am 10. Dezember 1999 mit einer Ariane 504-Rakete von Kourou gestartet, dem europäischen Weltraumbahnhof in Französisch-Guayana. Inzwischen läuft der Satellit in einer hoch exzentrischen Bahn in 48 Stunden einmal um die Erde. Sein erdnächster Punkt befindet sich in 7365, sein fernster in 113774 Kilometer Höhe; die Bahnneigung beträgt 38,9 Grad. Dieser Orbit ist optimal: Erstens hält sich XMM nur kurz in den gefährlichen Strahlungsgürteln der Erde auf. Zweitens kann er bis zu zwölf Stunden dasselbe Himmelsobjekt anpeilen und steht dabei die meiste Zeit in bester Position über seinen Bodenstationen. Gesteuert wird der 3,2 Tonnen schwere Satellit von Darmstadt aus – vom European Space Operating Center. Die wissenschaftlichen Daten werden vom XMM-Betriebszentrum im spanischen Villafranca bei Madrid empfangen, verarbeitet und von dort an die Astronomen weitergeleitet. Die Mission ist zwar nur auf zwei Jahre angesetzt, doch aufgrund des tadellosen Orbitalmanövers dürfte der Treibstoff für rund zwei Jahrzehnte reichen. Das Herzstück des Weltraumteleskops sind drei faßförmige Spiegelmodule, in denen jeweils 58 hauchdünne, leicht gekrümmte Rundspiegel ineinandergeschachtelt sind. Die dünnen Spiegelschalen mit vergoldeten Oberflächen auf einer Nickelschicht wurden auf ein tausendstel Millimeter genau geformt. Die Polierung hat ihre Glätte nochmals vertausendfacht. Die Schalen wurden wie russische Puppen ineinandergefügt – mit einer Paßgenauigkeit von einem Viertel der Dicke eines menschlichen Haares. Die Röntgenstrahlen aus dem All treffen fast senkrecht auf die Kante der Spiegel und werden „streifend“ – in einem extrem flachen Winkel – auf die wissenschaftlichen Instrumente am anderen Ende des Satelliten fokussiert. Die Oberfläche der drei Spiegel mißt 120 Quadratmeter – sie ist so groß wie ein Tennisplatz. Durch ihre verschachtelte Anordnung zeigen die Spiegel dem Himmel zwar nur 0,45 Quadratmeter Fläche. Doch das ist noch immer wesentlich mehr als bei allen früheren Röntgensatelliten – beispielsweise das Vierfache des Chandra-Observatoriums, das vergangenen Juli ins All befördert wurde und bereits mit spektakulären Bildern Furore machte (bild der wissenschaft 12/1999, „Revolution in der Röntgenastronomie“). XMM kann fünfmal mehr Photonen sammeln als Chandra. In seiner Winkelauflösung fällt XMM allerdings hinter Chandra zurück, so daß sich die beiden Satelliten bestens ergänzen. Sie sollen deshalb auch oft auf dasselbe Objekt am Himmel gerichtet werden. XMM führt drei Arten von wissenschaftlichen Instrumenten mit sich, die nicht nur Röntgenquellen abbilden können, sondern auch deren Energie genau zu unterscheiden vermögen. Die spektrale Empfindlichkeit reicht von 1 bis 120 Nanometer. Das entspricht Energien von 12 bis 0,1 Kiloelektronenvolt. Im Hauptbrennpunkt befinden sich drei Photonendetektoren. Mit ihren Siliziumchips können sie nicht nur extrem schwache Röntgenstrahlen registrieren, sondern auch rasche Intensitätsschwankungen. Hinzu kommen zwei Röntgenspektrographen, die mit ihren Beugungsgittern die Strahlung in die verschiedenen Wellenlängen zerlegen, ähnlich wie dies ein Prisma mit sichtbarem Licht tut. Damit können Spuren einzelner Elemente wie etwa Eisen oder Sauerstoff in den fernen Röntgenquellen nachgewiesen werden. Erstmals ist ein Teleskop für den sichtbaren und den UV-Bereich an Bord, das simultan dieselben Himmelsregionen beobachtet wie das Röntgenteleskop. Es hat eine Öffnung von 30 Zentimetern, was – weil keine Atmosphäre stört – der Empfindlichkeit eines 4-Meter-Teleskops auf der Erde entspricht.

Im Augenblick wird XMM-Newton von den Wissenschaftlern und Ingenieuren nach allen Methoden ihrer Kunst getestet. Die reguläre Forschungsmission beginnt im Juni. Doch schon die ersten Probeaufnahmen sind äußerst befriedigend ausgefallen. Ein Bild von unserer Nachbargalaxie, der Großen Magellanschen Wolke, zeigt die Region 30 Doradus in neuem „Licht“ und enthüllt bislang unbekannte Strukturen. Eine andere Aufnahme ist ein Schnappschuß von Galaxien im 170 Millionen Lichtjahre entfernten Galaxienhaufen HCG-16. Der Name ist die Nummer im Katalog kompakter Galaxienhaufen des kanadischen Astronomen Paul Hickson. Außerdem hat XMM einen turbulenten Tanz beobachtet, beim 100 Lichtjahre entfernten Doppelstern HR 1099. Die beiden Sterne umkreisen sich einmal in nur drei Tagen. Einer ist extrem aktiv: Durch Kurzschlüsse von Magnetfeldlinien kommt es zu Explosionen auf seiner Oberfläche. Aus den Spektraluntersuchungen erhoffen sich die Forscher ein besseres Verständnis dieser Oberflächenprozesse. Chandra und XMM sind nicht die einzigen Röntgensatelliten in der Erdumlaufbahn. Seit 1993 umkreist der immer noch aktive japanische ASCA-Satellit unseren Planeten. Am 9. Februar 2000 hat Japan einen weiteren Satelliten ins All befördert: Astro-E. Gestartet wurde das japanisch-amerikanische Observatorium mit einer M-V-Rakete vom Kagoshima-Weltraumbahnhof im Süden der Insel Kyushu. Wegen fehlerhafter Höhenkontrolle der ersten Stufe hat der 1,65 Tonnen schwere Satellit aber die in 550 Kilometer Höhe vorgesehene Umlaufbahn nicht erreicht, sondern verglühte in der Atmosphäre. Das Scheitern der 210 Millionen Mark teuren Mission ist nicht nur ein finanzieller, sondern auch ein großer wissenschaftlicher Verlust. Für den harten Röntgenstrahlenbereich war Astro-E der empfindlichste Satellit, der jemals gebaut wurde. Sein Auflösungsvermögen hätte das Chandra-Observatorium bei Energien von acht Kiloelektronenvolt um das Fünffache übertroffen. Trotz dieses Rückschlags hat jetzt mit XMM und Chandra die Dekade der Röntgenastronomie begonnen. Aber bei der NASA werden bereits Pläne für das nächste Jahrzehnt geschmiedet. Dann werden die Satelliten nicht noch größer und teurer sein, sondern technisch neue Wege beschreiten. Vorgesehen ist mit dem Projekt Constellation X eine Armada aus vier baugleichen Instrumenten, die zusammengeschaltet werden können. Sie wird hundertmal empfindlicher sein als Chandra und XMM. Auch in Europa blühen neue Träume: Auf der Internationalen Raumstation soll ein leistungsfähiges Himmelsauge namens XEUS nach Schwarzen Löchern spähen, die entstanden, als das Universum erst einen Bruchteil so alt war wie heute. Kein Zweifel: Wir stehen am Beginn des goldenen Zeitalters der Röntgenastronomie.

Rüdiger Vaas

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