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Launisch lebt am längsten

Geschichte|Archäologie Gesellschaft|Psychologie

Launisch lebt am längsten
Wenn der Fuchs ihm nach dem Leder trachtet, flüchtet der Hase in verwirrendem Zickzackkurs. Viele Lebewesen versuchen, ihr Verhalten gezielt unvorhersehbar zu machen. Der Mensch hat diese Taktik perfektioniert – er schlägt geistige Haken.

Der griechische Gott Proteus hat sich der Sage nach seinen Häschern immer wieder entzogen, indem er sich nacheinander in ein Tier, eine Pflanze, eine Wolke und einen Baum verwandelte. Alle Lebewesen, deren Geschick mit dem anderer verkettet ist, haben sich dieses „proteanische” Muster zu eigen gemacht und versuchen, ihre Gegner durch unberechenbares Verhalten aufs Glatteis zu führen – andernfalls würden sie im Daseinskampf schnell auf der Strecke bleiben. „Proteanisches Fluchtverhalten ist die am weitesten verbreitete und erfolgreichste Strategie gegen das Gefressenwerden und wird von allen mobilen Lebewesen zu Land, zu Wasser und zu Luft verwendet”, hebt der Evolutionsbiologe Geoffrey F. Miller von der Universität New Mexico in Albuquerque hervor. Eine Motte beispielsweise, die in den „Radar” einer Fledermaus gerät, lässt sich torkelnd zu Boden fallen.

Das Verwirrspiel hat Erfolg: Dem Löwen gehen nur etwa 26 Prozent aller gejagten Gazellen, die dem Tod schlingernd zu entkommen versuchen, in die Fänge, wie der Zoologe George Schaller von der Wildlife Conservation Society in New York bei seinen Feldstudien in der Serengeti ermittelte. Manche Tiere nehmen aber nicht nur dann unvorhersehbare Kursabweichungen vor, wenn ihnen tatsächlich ein Häscher auf den Fersen ist. Kaninchen und Hasen etwa warten auch ungestört immer wieder mit abrupten Sprüngen und Seitwärtsbewegungen auf, um sich prophylaktisch gegen etwaige Angriffe zu sichern. Dem gleichen Zweck dienen die plötzlichen Schwenker, die viele Vogelschwärme beim kritischen Landeanflug einlegen. „Und die meisten Insekten schwirren zum Selbstschutz chaotisch hin und her. Es ist schwieriger, die Bewegungen einer Hausfliege für die nächsten zehn Sekunden vorherzusagen als die Laufbahn des Saturns für die nächsten zehn Milliarden Jahre”, sagt Evolutionsbiologe Miller.

Doch nicht nur die Gejagten auf der Flucht, auch die Räuber bei ihren Attacken nehmen sich Proteus zum Vorbild und treiben ein verwirrendes Spiel. Wiesel, die es auf eine Wühlmaus abgesehen haben, vollführen einen verrückten Tanz, bei dem sie wild umher springen und ihren eigenen Schwanz jagen. Dabei nähern sie sich der Beute, ohne dass diese die Absicht des Angreifers erkennt.

„Fast jede Verhaltensstrategie wird wirksamer, wenn man sie mit Eigenschaften ausstattet, die für die evolutionären Widersacher unvorhersehbar sind”, erklärt Miller. Vogelväter beispielsweise, die sich von der Brut entfernen, um Futter zu beschaffen, müssen während ihrer Abwesenheit stets mit einem Seitensprung des Weibchens rechnen. Die männliche Dreizehenmöwe kehrt deshalb in einem komplett unvorhersehbaren Rhythmus für „ Zufallskontrollen” zum Nest zurück, wie der Berner Zoologe Fabrice Helfenstein entdeckte. Und der Harvard-Psychologe Tecumseh Fitch beobachtete, dass junge Äffchen ihren Bedürfnissen häufig mit klagenden Rufen Luft machen, die eine unberechenbare und extrem wechselhafte Lautstruktur besitzen. „Diese zufälligen Änderungen verhindern, dass die Eltern abstumpfen und die Bitten ungehört verhallen”, folgert Fitch.

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Der Mensch hat das Prinzip der Unvorhersagbarkeit perfektioniert, indem er gelernt hat, geistige Haken zu schlagen. Wahrscheinlich hat die Notwendigkeit, das Verhalten anderer vorherzusagen oder zu manipulieren, sogar wesentlich dazu beigetragen, den menschlichen Verstand zu schärfen.

Ein „Erfolgsrezept” despotischer Herrscher besteht darin, willkürlich Grausamkeit und Güte walten zu lassen. Manchmal bleiben größere Verstöße unbestraft, ein andermal müssen die Untertanen schon für kleinste Vergehen furchtbar büßen. Die Untergebenen wissen nie genau, welche Freiheiten sie sich gerade noch herausnehmen können oder ob der nächste Fehler sie Kopf und Kragen kostet. Solch launisches Dominanzverhalten kennzeichnet nicht nur große Tyrannen wie Caligula, Hitler oder Saddam Hussein, sondern auch viele Stammesführer bei den Naturvölkern und die Alpha-Männchen bei den Primaten. Auch Terroristen verbreiten Angst und Schrecken, indem sie die Gesellschaft über ihre nächsten Anschläge im Ungewissen lassen und meist völlig unverhofft zuschlagen.

Als der Wiener Ethologe Karl Grammer Paare beim Flirten studierte, kam ein weiterer proteanischer Habitus zu Tage. Besonders Frauen versteckten ihre Absichten hinter einer ambivalenten, unberechenbaren Fassade und sendeten aufs Geratewohl Signale des Interesses und der Distanz aus. Offenbar wollten sie sich alle Optionen freihalten und dennoch ihrem Partner so viele Informationen wie möglich entlocken.

Nirgends findet unsere proteanische Ader so reinen Ausdruck wie im Spiel und im Krieg. Am sichersten ist, wenn nicht einmal die Beteiligten selbst wissen, was als Nächstes kommt – damit sie sich nicht durch ungewollte Signale verraten. So schrieb die britische Admiralität im Zweiten Weltkrieg ihren U-Booten vor, bei Gefahr im Zickzack zu flüchten – der Kurs dafür wurde per Würfel bestimmt. Diese Taktik verfolgten übrigens auch viele anderen Kriegsherrn.

Verwirrende Spiele im Sport treiben beispielsweise Fußballer, die über den Platz dribbeln, Basketballer, die ihre Gegner durch Finten austricksen, Boxer, die immer wieder Scheinhiebe setzen. „ Zwar erklärten Rugby-Spieler in einer Befragung, dass sie aus bewusster Absicht handelten”, berichtet der britische Ethologe David Humphries, „aber die konkreten Details ihrer Schachzüge lagen außerhalb ihrer vorsätzlichen Kontrolle.” Die menschliche Fähigkeit, Zufallsfolgen aus dem Bauch heraus zu produzieren, um den Gegner zu irritieren, stellt die Psychologie vor ein Rätsel. Wie funktioniert dieser Prozess? Wodurch wird er gesteuert? Bewusst lässt er sich offenbar nicht erzeugen. Versuchsteilnehmer des Züricher Neurobiologen Peter Brugger, die Zahlen oder Symbole in einer zufälligen Reihenfolge anordnen sollten, scheiterten regelmäßig bei entsprechenden Experimenten. Aus Furcht vor zu viel Regelmäßigkeit vermieden sie Wiederholungen, die in „echten” Zufallsfolgen aber unweigerlich auftreten.

Wie genau das Gehirn das Korsett des linearen Denkens durchbricht und Zufälligkeit produziert, ist unklar. Nach einer Hypothese des US-Psychologen Patrick McNamara von der Boston University School of Medicine dient der von Träumen begleitete REM-Schlaf als Mäzen der Unberechenbarkeit. Viele Träume weisen ein ungewöhnliches Maß an bizarren und unvorhersehbaren Assoziationen auf. Menschen, die mitten im REM-Schlaf geweckt werden, sind besonders gut darin, entfernte und abseitige Gedankenverbindungen zu knüpfen. Völliger REM-Schlaf-Entzug hingegen mindert die Fähigkeit zum kreativen Denken.

Ihren höchsten Ausdruck findet die menschliche Unberechenbarkeit im Humor, in der Musik, Literatur und anderen Formen von Kreativität. „Anstatt Fluchtplänen oder sozialen Strategien Zufälligkeit einzuhauchen, wurden diese Hirnstrukturen so umgemodelt, dass sie nach zufälligem Muster Ideen rekombinieren”, sagt Miller. Kreative Menschen stecken voller Überraschungen, sie schaffen Neues und sind auf positive Weise unvorhersehbar. Das kommt an: Das menschliche Gehirn ist auf „ Neophilie” getrimmt – auf die Neigung, neue und unvorhersehbare Schöpfungen besonders zu beachten und zu honorieren.

Das proteanische Erbe ist vermutlich auch der Grund, warum sich Verhaltenswissenschaftler mit Vorhersagen so schwer tun: Zwar sind Handlungen im Nachhinein oft verständlich und auch statistische Prognosen lassen sich recht gut treffen. Aber niemand weiß, ob der Hase beim nächsten Sprung nach rechts oder links hopsen wird. ■

Rolf Degen

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