Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Gefährliche Paarung

Allgemein

Gefährliche Paarung
Bislang waren Ärzte und Pharmazeuten im Kampf gegen das Grippevirus jedes Jahr gewappnet, doch ein neuer Grippevirus-Typ aus Tierzellen könnte den Menschen ein gefährliches Schnippchen schlagen.

Zu Tausenden lauern die stacheligen, kugelförmigen Angreifer in der nasskalten Luft, um sich mit dem nächsten Atemzug in die Lungen ihrer Opfer saugen zu lassen. Gelingt es ihnen, unbemerkt an den zahlreichen Wächtermolekülen, den Antikörpern, vorbeizuschlüpfen, dringen sie in die Lungenzellen ein, um sich hier ungestört zu vermehren. Etwa sechs Stunden später strömen bis zu 1500 Tochter-Viren aus der zerstörten Lungenzelle, bereit, das Schauspiel in den benachbarten Zellen zu wiederholen und den Menschen mit heftigen Fieberschüben, Hustenanfällen und Kopf- und Gliederschmerzen zu quälen – und manches Mal sogar in den Tod zu treiben.

Auch die Menschen zücken ihre Waffen: Mit Impfungen versuchen sie, den attackierenden Grippeviren den Garaus zu machen. Dieser Kampf tobt bereits seit Jahrzehnten – gewonnen ist er bisher nicht. Zwar blieb eine weltweite Seuche – eine Pandemie – in den letzten Jahren aus, doch allein in Deutschland fordert die Grippe jährlich in einer durchschnittlichen Saison zwischen 7000 und 14 000 Menschenleben. Experten fürchten jedoch, dass diese vergleichsweise ruhige Zeit schon bald ein jähes Ende finden könnte. Einige Stimmen warnen gar vor einer Seuche, die ähnliche Ausmaße annehmen könnte wie die spanische Grippe, die im Jahre 1918 über 20 Millionen Menschenleben forderte.

Grund für diese düsteren Prophezeiungen sind die rasanten Mutationen des Influenzavirus. Sie können die wichtigste Waffe der Ärzte – die Impfung – bereits in einer durchschnittlichen Saison stumpf werden lassen. Der Hintergrund: Wenn die Mediziner einem Patienten einen Impfstoff gegen das Grippevirus spritzen, bildet der Patient spezielle Antikörper, die als Wächter fungieren. Sie spüren gezielt Influenzaviren auf, packen sie und geben den Befehl zur Zerstörung des Eindringlings. Die Antikörper erkennen die eingedrungenen Viren vor allem anhand zweier Proteine, die wie kleine Stacheln an der Virus-Oberfläche sitzen – dem Hämagglutinin (H) und der Neuraminidase (N). Biologen bezeichnen solche Strukturen als Antigene. Verändern sich diese „ Stacheln“, schlüpft das Virus unerkannt durch die Kontrolle des Immunsystems. Es hat freie Bahn und kann sich im Körper ausbreiten.

Die Ursache für die wandelbaren Proteine liegt im Erbgut der Influenzaviren. Im Gegensatz zum Menschen besteht ihr Erbgut nicht aus Desoxyribonukleinsäure DNA, sondern aus Ribonukleinsäure RNA. Während bei der DNA eine spezielle Korrekturlese-Funktion im Zellkern Fehler beim Vervielfältigen der Erbinformationen erkennt und ausmerzt, fehlt diese Kontrolle bei der RNA. Mutationen können sich daher unbemerkt einschleichen – jeder einzelne Kopierfehler verändert den Virus geringfügig. Experten sprechen von der Antigen-Drift.

Anzeige

Auf diesen Teil des Versteckspiels haben sich Behörden und Impfstofffirmen eingestellt. Zwar hinken sie der rasanten Veränderung der Viren etwas hinterher, aber üblicherweise schaffen sie es, den Impfstoff jedes Jahr so an die Viren anzupassen, dass er die winzigen Störenfriede trotz ihrer Mutationen außer Gefecht setzen kann. „In einer laufenden Influenzasaison machen Ärzte Rachenabstriche von erkrankten Patienten“, erklärt Susanne Stöcker vom Paul-Ehrlich-Institut, dem Bundesamt für Sera und Impfstoffe. Diese Abstriche senden sie an spezialisierte Referenzlaboratorien, die daraus den genauen Virusstamm bestimmen. Anhand dieser Daten stellt die WHO eine Empfehlung zusammen, welche Virusstämme beim nächsten Ausbruch im Impfstoff enthalten sein sollen. „Die vergangenen Jahrzehnte haben uns gezeigt, dass der so zusammengesetzte Impfstoff mit einer hohen Wahrscheinlichkeit gegen die leicht veränderten Viren wirkt, die in der nächsten Saison auftreten“, sagt Stöcker.

Die vermeintliche Ruhe steht jedoch auf wackeligen Beinen, denn die Antigen-Drift ist nicht die einzige Möglichkeit des Virus, den Menschen durch seine rapide Veränderung ein Schnippchen zu schlagen. Grippeviren können nicht nur Menschen, sondern auch andere Säugetiere oder Vögel befallen. Trifft ein Virus in einem Wirt – etwa einem Schwein – auf einen anderen Virenstamm, können sich die Strukturen der beiden Viren mischen, Experten sprechen dann von einem Antigen-Shift. Heraus kommt ein völlig neuartiger Virenstamm, gegen den die Weltbevölkerung nicht immun ist und gegen den es noch keinen Impfstoff gibt. Das neuartige Virus entwaffnet die Ärzte mit einem Schlag. „Das Vogelgrippe-Virus H5N1 ist solch ein Kandidat, der diesen ganz großen Sprung schaffen könnte – letztendlich kann man aber nicht wissen, wo und wann das passiert“, meint Udo Buchholz, Epidemiologe am Robert-Koch-Institut. Kreuzt sich dieses Virus mit einem menschlichen, so könnte daraus ein Virus entstehen, das so aggressiv ist wie die Vogelgrippe, aber auch von Mensch zu Mensch übertragen wird. Ein solches Virus würde sich explosionsartig über den gesamten Globus ausbreiten – tatkräftig unterstützt durch den Flugverkehr – und wahrscheinlich Millionen Menschen das Leben kosten. Selbst Menschen, die jährlich gegen Influenza geimpft wurden, könnten im Fall einer Pandemie höchstens auf einen Teilschutz hoffen. „Es gibt immer gewisse Kreuzreaktionen“, sagt Stöcker, „und es besteht Hoffnung, dass eine Grippe-Pandemie bei regelmäßig geimpften Personen leichter verläuft. Letztlich sind das jedoch Spekulationen – wissen können wir das erst, wenn es so weit ist.“

Wollen die Ärzte eine solche Schlacht nicht gänzlich verlieren, müssten sie den neuartigen Impfstoff im Bedarfsfall nicht nur schnell genug entwickeln und herstellen, sondern auch in ausreichender Menge produzieren. Üblicherweise züchten Hersteller entsprechende Viren in angebrüteten Hühnereiern, extrahieren sie, reinigen sie, damit keine anderen Bestandteile mehr an ihnen hängen, und töten sie ab. Für den Impfstoff trennen sie die Oberflächenproteine, gegen die der Patient Antikörper bilden soll – das Hämagglutinin und die Neuraminidase – vom Rest der Virenbestandteile ab. „Mit diesem üblichen Herstellungsverfahren bräuchte man allein in Deutschland für 80 Millionen Impfstoffdosen 80 Millionen Hühnereier – das ist nicht zu bewältigen“, sagt Stöcker. Ein Expertenteam aus Politik und Forschung hat daher einen Notfallplan entwickelt, der festlegt, wer im Fall einer Pandemie zuerst geimpft wird – und wer später an der Reihe ist. Nach diesem Plan soll vor allem medizinisches Personal geimpft werden, da hier die Ansteckungsgefahr am höchsten ist.

Die US-Regierung versucht, die Menschen mit einem Impfstoff zu schützen, der auf dem momentan grassierenden Vogelgrippevirus basiert – in der Hoffnung, dass diese Impfung die Menschen auch dann schützt, wenn das Vogelgrippe-Virus mit einem menschlichen Virus zu einem Pandemievirus verschmilzt. In einer klinischen Studie konnten Forscher nachweisen, dass geimpfte Menschen tatsächlich Antikörper gegen das Vogelgrippevirus bilden. Zugelassen ist der Vogelgrippe-Impfstoff jedoch noch nicht, und auch die Frage, ob er in ausreichenden Mengen hergestellt werden kann, scheint weiterhin ungeklärt. Dennoch hat die US-Regierung bereits die Produktion mehrerer Millionen Impfstoffdosen in Auftrag gegeben.

In Deutschland hingegen sind weder Hersteller noch Regierung bereit, die enormen Kosten zu übernehmen, will man ins Blaue hinein große Mengen des neuen Impfstoffes produzieren – ein Impfstoff, von dem niemand mit Sicherheit sagen kann, ob er jemals zum Einsatz kommen wird. Denn allein vom Protein Hämagglutinin existieren fünfzehn verschiedene Varianten. Gemeinsam mit den neun unterschiedlichen Formen des Proteins Neuraminidase könnten daraus 135 verschiedene Virenstämme entstehen – die Vogelgrippe ist lediglich einer davon. „Zwar können wir berechnen, welche der 135 möglichen Viren für eine Pandemie am wahrscheinlichsten sind“, erklärt Hans W. Dörr, Direktor des Instituts für Medizinische Virologie der Universität Frankfurt. „Tauchen zu diesen Viren aber mutierte Subtypen auf, die durch fehlerhaftes Auslesen der Erbinformation ständig entstehen, bietet ein vorab entwickeltes Impfserum nur einen unzureichenden Schutz.“ Selbst wenn die Forscher den richtigen Riecher haben und es wirklich das Vogelgrippe-Virus sein sollte, das zum weltweiten Schlag ansetzt, könnte das Virus durch seine ständige Veränderung der entwickelten Impfung entgehen. Für die Menschen hieße das, dass sie im Kampf gegen das Pandemie-Virus einige Monate verlieren, um den Impfstoff erneut anzupassen und in ausreichenden Mengen zu produzieren.

Um diese kritische Zeitspanne möglichst kurz zu halten, entwickeln Forscher unter anderem neue Herstellungsmethoden. Wissenschaftler der Firma Greenhills in Wien etwa züchten in einer Zellkultur harmlose Influenzaviren in großen Mengen. In diese Viren wollen sie gentechnisch Gene vom entsprechenden Vogelgrippevirus einbauen. Stellen die Forscher aus diesen Viren einen Impfstoff her, bildet der geimpfte Mensch neben den Antikörpern gegen die übliche Grippe auch solche gegen das entsprechende Vogelgrippevirus. „Mit konventionellen Methoden dauert es etwa sechs Monate, um einen neuen Impfstoff herzustellen, mit dieser Gentechnik sollte man das zukünftig in zwei Monaten schaffen“, hofft Dörr. Das Aufrüsten der Menschen gegen den Virus ist in vollem Gange – wer jedoch beim nächsten Schlagabtausch die Oberhand behält, bleibt abzuwarten. ■

Janine Drexler

COMMUNITY

INTERNET

Robert-Koch-Institut (RKI) über Grippe, Statistiken und Pläne zur Pandemiebekämpfung:

www.influenza.rki.de/agi

www.rki.de (dort dem Link „Infektionskrankheiten“ folgen)

Paul-Ehrlich-Institut (Bundesamt für Sera und Impfstoffe) über Grippeimpfstoffe:

www.pei.de

Faktensammlung „Influenza“ der WHO:

www.who.int/mediacentre/factsheets/fs211/en/

Ohne Titel

Erhöhte Temperatur und Mattigkeitsgefühl – keine Seltenheit nach einer Grippe-Impfung. Viele Patienten beschleicht daher das Gefühl, nach der Impfung mit einer Grippe in abgeschwächter Form zu kämpfen, was jedoch nicht stimmt: „Die Viren im Impfstoff sind nicht nur abgetötet“, erklärt Susanne Stöcker vom Paul-Ehrlich-Institut, „sondern auch gar nicht mehr vollständig. Sie können daher keine Influenza auslösen.“ Die erhöhte Temperatur und das Mattigkeitsgefühl sei schlichtweg eine Reaktion des Immunsystems auf die gespritzten Fremdkörper, die zeigt, dass es angefangen hat zu arbeiten.

Treten in Einzelfällen dennoch schwerwiegende unerwünschte Arzneimittelwirkungen auf, so ist der Arzt verpflichtet, diese zu melden. Die Mitarbeiter des Paul-Ehrlich-Instituts bewerten diese Beschwerden nach Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation WHO und klären, ob sie von der Impfung ausgelöst wurden. Tauchen massiv viele Meldungen über Beschwerden auf, ergreifen sie Maßnahmen, schlimmstenfalls entziehen sie dem Impfstoff die Zulassung.

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Ge|ne|ral|in|ten|dant  〈m. 16〉 1 〈Mil.〉 oberster Beamter der Heeresverwaltung 2 〈Theat.〉 oberster Leiter eines großen Theaters … mehr

Leis|tungs|prü|fung  〈f. 20〉 1 Prüfung der Lern– u. Arbeitsleistung in der Schule 2 〈Landw.〉 Kontrolle der Leistung von Nutzpflanzen u. –tieren … mehr

Ener|geia  〈f.; –; unz.; Philos.〉 Tätigkeit, Wirksamkeit, tätige Kraft [grch.]

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige