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Designte Vorbilder

Gesellschaft|Psychologie

Designte Vorbilder
Macht Fernsehen Kinder kriminell? Diese häufige Frage ist unzulässig verkürzt. Richtig müsste sie heißen: Verändert exzessiver TV-Konsum die Gesellschaft?

Wir leben nicht mehr in der industriellen, sondern in der postindustriellen Gesellschaft – einer Dienstleistungsgesellschaft ist. Und die ist inzwischen allgegenwärtig: Selbst in Kirchen, Krankenhäusern und Universitäten spricht man von Kunden statt von Gläubigen, Patienten oder Studenten. Solche Veränderungen bilden ein Klima, in dem ein neuer Sozialcharakter entsteht. Menschen verkaufen ihre Gefühle als essenziellen Teil beruflicher Tätigkeiten, sie leisten „Gefühlsarbeit“. Dabei ist es durchaus nicht nötig, die geforderten Gefühle tatsächlich zu empfinden. Entscheidend ist, dass der Arbeitnehmer seine Gefühle glaubwürdig darstellen kann. Der zur postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft passende Sozialcharakter ist einer, der seine Gefühle gut verkaufen kann: ein Schauspieler.

Vor 20 Jahren hat sich hierzulande die soziale Welt außerhalb der Arbeit erheblich verändert. Seit 1984 haben wir das Privatfernsehen. Es hat Schritt für Schritt unsere Freizeit erobert: 2003 sahen die Zuschauer ab 14 Jahren im Tagesdurchschnitt 215 Minuten fern – das füllt 13 Jahre eines Lebens. Keine andere Institution der postindustriellen Gesellschaft bringt so viele dazu, so lange zur gleichen Zeit dasselbe zu tun. Aber vor allem: Keine andere Institution vermittelt so vielen Menschen so einheitliche Werte. „Fernsehen ist der gewaltigste Lieferant sozialer Images und Botschaften, den es – historisch gesehen – je gab“, meint der amerikanische Medienwissenschaftler George Gerbner. Es ist sicher nicht übertrieben, das Fernsehen als eine Diesseitigkeitsreligion zu bezeichnen, deren Traum vom Glück sich Tag für Tag im Denken und Handeln der Zuschauer einnistet.

In diesen 215 Minuten täglich konsumiert der Zuschauer vor allem „fiction“ in Form von Serien. Sie sind in vieler Hinsicht moderne Märchen und deswegen wohl auch die Lieblingssendungen der 13- bis 19-jährigen Zuschauer.

An zweiter Stelle steht der Bereich Information. Das beruhigt, doch nur so lange, bis man erfährt, dass auch Infotainmentsendungen wie „Explosiv“, „Brisant“ oder „Leute heute“ dazu gezählt werden. Dort wird nahezu ausschließlich über Kriminalität und Unglücksfälle, Prominente und Showbusiness, Human Interest und Erotik berichtet.

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Fatalerweise prägt der Stil dieser Magazine zunehmend die klassischen Politikmagazine: So wurden deren Beiträge in den letzten 20 Jahren um durchschnittlich drei Minuten kürzer. Sie sind personenzentrierter. Und: Jeder dritte Beitrag bei den privaten TV-Sendern war im Jahr 2000 gewalthaltig. Das gilt auch für die Nachrichten:

• Gewaltthemen sind häufiger geworden. • Die Gewaltdarstellung ist intensiv.

• Gewalt rückt an die exponierten Stellen im Sendungskonzept.

Nach unseren Untersuchungen waren 1996 etwa 10 Prozent aller Filmeinstellungen und 20 Prozent der Beiträge gewalthaltig. Diese Werte sind bis 2002 auf rund 20 Prozent der Einstellungen und 30 Prozent der Beiträge gestiegen. Dagegen bekommen politische Konzepte und Statements immer weniger Platz: 1968 konnte ein Politiker in den Abendnachrichten des US-Fernsehens im Schnitt 43 Sekunden ohne Unterbrechung sprechen, 1980 verblieben ihm noch 12 und 1992 nur 8 Sekunden.

Am dritthäufigsten sieht unser Protagonist Unterhaltungssendungen. Dazu zählt ein Genre, das viel zu wenig öffentliche Beachtung erfährt, weil die Älteren es nicht ansehen – nämlich die Videoclips von VIVA und MTV. Meist geht es da um Liebe. Zugleich bekommen die Jugendlichen einseitige Geschlechterrollen vorgeführt: Männer werden als waghalsig, aggressiv und dominant, Frauen als liebevoll, ängstlich besorgt und als leicht bekleidete Staffage gezeigt.

Alles zusammen ein breites Angebot, scheint es, und doch gibt es einen Mainstream, der sich so zusammenfassen lässt: Fernsehen heute ist Personalisierung und Emotionalisierung.

• Personalisierung heißt: Wo immer es möglich ist, werden Personen und Einzelschicksale in den Vordergrund gestellt. In den Serien verfolgt der Zuschauer das alltägliche Leben über einen längeren Zeitraum. In den Politik- und Informationssendungen wird ihm Politik als das Handeln prominenter Akteure vorgestellt. In den Shows und Musiksendungen agieren bekannte Moderatoren mit anderen Prominenten.

• Emotionalisierung meint: Das Medium zeigt bevorzugt konflikt-, gewalt- und actionhaltige Sequenzen, führt Schock-effekte und Tabubrüche vor. Kurze Einstellungen und schnelle Kamerafahrten, ungewöhnliche Perspektiven und Trick-effekte sorgen für ein konstant hohes Erregungsniveau.

Die Folgen zeigen sich besonders bei den Vielsehern. Sie haben ein größeres Vertrauen zur Medizin, zur Polizei, zum Militär, zum Erziehungssystem, zur organisierten Religion, zur Presse, zum Fernsehen und zu den Gewerkschaften. Dagegen misstrauen sie großen Firmen und der Wissenschaft. Vielseher überschätzen ferner die Häufigkeit von Doktoren, Rechtsanwälten und Geschäftsleuten in der Bevölkerung ebenso wie das Auftreten bestimmter Krankheiten – etwa Infarkt und Krebs –, von Scheidungen und Haftstrafen. Vielseher von Talkshows überschätzen die Zahl von Teenagern, die jährlich von zu Hause weglaufen (Schätzung: 49 Prozent, real: 8 Prozent), die Zahl von Mädchen, die vor dem 18. Lebensjahr schwanger werden (Schätzung: 55 Prozent, real: 4 Prozent), wie viele Schüler Waffen mit zur Schule bringen (Schätzung: 27 Prozent, real: 1 Prozent) sowie die Zahl untreuer Ehemänner (Schätzung: 45 Prozent, real: 20 Prozent) und Ehefrauen (Schätzung: 31 Prozent, real: 10 Prozent).

Fernsehen als unsichtbare Religion? Aber gewiss! Fernsehen sagt nicht nur, was ist, sondern auch – emotional aufgeheizt –, was richtig und was falsch ist. Es fordert zur Mildtätigkeit auf, belohnt die Guten und bestraft die Bösen. Fernsehen prägt Paradiesvorstellungen und schenkt Menschen Entlastung von den Bedrückungen des Alltags, manchmal sogar Reichtum. Speziell für den jungen Zuschauer gilt: Fernsehen hat mit den Moderatoren seine respektierten Priester und mit den Stars seine bewunderten Heiligen. Wie diese will er werden.

Gewöhnt sind wir, dass Fans für einen Star schwärmen, möglichst sämtliche Filme mit ihm ansehen oder alle seine CDs kaufen. Normal scheint auch, dass sie Autogramme und andere Devotionalien sammeln. Sie dürfen vor der Bühne kreischen, um „ Back-stage“-Karten kämpfen oder sich ihm für eine Nacht als Groupie anbieten. Aber irgendwann stellt sich die Frage: Wieso diese engen emotionalen Beziehungen zu fremden Medienfiguren?

Die Antwort findet sich im Begriff der „parasozialen Beziehung“ . Damit ist gemeint, dass das Fernsehen den Eindruck erzeugt, der Zuschauer habe eine reale und dauerhafte soziale Beziehung zu der TV-Person. Die Regelmäßigkeit des Erscheinens, die Nähe der Wahrnehmung, scheinbares Anblicken oder Ansprechen geben den Medienfiguren eine eigene Existenz. Im persönlichen Soziogramm der Zuschauer werden sie zwischen guten Freunden und Nachbarn eingeordnet. Solche Beziehungen entwickeln sich besonders zu Serienfiguren: Die Zuschauer denken an sie auch außerhalb der Fernsehzeit, hätten sie gern bei sich zu Hause und empfinden sie als gute alte Freunde. Die parasozialen Bindungen gelten der Figur, nicht dem Schauspieler. Das führt gelegentlich zu aberwitzigen Verwechslungen: So wurde einer der Darsteller der Serie „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ in einem Supermarkt von einem wildfremden Mann umarmt und mit den Worten getröstet: „Ich kann verstehen, was sie mitmachen!“ In der Serie hatte die von dem Schauspieler dargestellte Figur gerade ein Kind verloren.

Parasoziale Beziehungen zu Medienfreunden beeinflussen vor allem das Erleben und Verhalten von Heranwachsenden: So wie sie wollen sie sein. Sie wollen so aussehen wie sie, sie wollen so gut tanzen wie sie, sie wollen so cool rauchen wie sie. Das bisschen Unzufriedenheit mit der eigenen Figur, die paar Tanzschritte, selbst das Rauchen – ist das wirklich so gravierend? Für sich genommen möglicherweise nicht, aber es bleibt nicht dabei. Bedrückender ist, dass die Medienfreunde zur dominierenden Sozialisationsinstanz geworden sind und Eltern, Geschwister oder Lehrer als Vorbilder abgelöst haben. Bei der Frage, wer sie am liebsten sein möchten, nannten in einer australischen Untersuchung über 75 Prozent der befragten Jungen und 55 Prozent der Mädchen eine Medienfigur, nur 8 Prozent wählten die Eltern als Ideal. Insbesondere Kinder mit wenig Selbstvertrauen und aus gestörten Familien suchen sich Medienfiguren als Vorbilder.

„Ich möchte nicht so sein wie Mutti. Sie ist immer so launisch … Alles, was ich möchte ist, geliebt zu werden. Doch nicht mal das kann sie richtig“, gab ein 14-jähriges Mädchen in der Untersuchung aus Australien zu Protokoll. Was sich hier zeigt, ist schlicht Bindungsunsicherheit. Sie ist der psychologische Effekt der heutigen sozioökonomischen Gemengelage. „Distanz und oberflächliche Kooperationsbereitschaft sind ein besserer Panzer im Kampf mit den gegenwärtig herrschenden Bedingungen als ein Verhalten, das auf Loyalität und Dienstbereitschaft beruht“, fasst der Londoner Soziologe Richard Sennett in seinem Buch „Der flexible Charakter“ zusammen. Die Lebenseinstellung „Bloß nichts Langfristiges“ löst, seiner Meinung nach, die Bindung von Vertrauen und Verpflichtung und untergräbt die wichtigsten Elemente der Selbstachtung. Und das sind die Folgen:

• Die Deutschen trennen sich früher: Nicht mehr das siebte Ehejahr ist das verflixte, die Jahre vier und fünf sind für den Bestand der Ehe am gefährlichsten.

• Sie trennen sich häufiger: Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes wurden im Jahr 2002 dreimal so viele Ehen geschieden wie zehn Jahre vorher.

• Sie verlassen häufiger ihre Kinder: Gegenwärtig wachsen 14 Prozent aller Kinder mit einem allein erziehenden Elternteil auf. Experten glauben, dass im kommenden Jahrzehnt jedes dritte Kind erleben wird, dass sich seine Eltern trennen.

Auf diese Situation der strukturellen Bindungsunsicherheit trifft die heimliche Religion Fernsehen. Sie tut das, was Religionen immer tun: Halt geben. Wenn Eltern, Verwandte oder Lehrer nicht mehr als Vorbilder taugen, bieten sich Medienfiguren als parasozialer Ersatz an: Es ist ja nicht nur ihre verlässliche Verfügbarkeit, sondern auch ihr sichtbarer Erfolg, der sie dafür so geeignet erscheinen lässt.

Die so gewonnene, scheinbare Bindungssicherheit hat aber ihren Preis. So sein wollen wie die Medienfreunde heißt auch, deren Art im Fühlen, Denken und Verhalten zu kopieren. Zur Erinnerung: Alle Medienfiguren setzen sich möglichst attraktiv, expressiv und affektiv, aber oberflächlich in Szene.

Bindungsunsicherheit und diese Medialisierung zusammen formen den modernen Sozialcharakter: Den „Histrio“ (lateinisch für Schauspieler), bestens erzogen für emotionales Oberflächenhandeln und Eindrucksmanagement in der Dienstleistungsgesellschaft.

So lässt sich der histrionische Sozialcharakter beschreiben:

• Seine Gefühle sind schnell erregt, flach, theatralisch und wenig differenziert.

• Sein Denken ist egozentrisch, wenig strukturiert und bruchstückhaft.

• Sein Verhalten ist durch das Interesse für alles Lebhafte, emotional Aufgeladene und Provozierende gekennzeichnet, das er schnell imitiert.

• Er füllt seine innere Leere mit aufregenden äußeren Ereignissen und beschäftigt sich intensiv mit seiner körperlichen Attraktivität.

• Er gibt sich verführerisch und will stets im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen.

Und die Ursachen? In fast allen theoretischen Erklärungsansätzen wird auf die besondere Rolle der frühkindlichen Bindungen hingewiesen. Kinder brauchen sie für die Entwicklung stabiler Selbstbilder. Unsicheres Bindungsverhalten erzeugt innere Leere, Vereinsamung und das Fehlen einer persönlichen Identität. In Elternhäusern mit mangelnder Zuneigung erlebt das Kind, dass es seine Wünsche auf normalem Wege nicht durchsetzen oder eine Beziehung nicht aufrecht erhalten kann. Diese Erfahrung führt zu situationsabhängiger Affektivität ohne Tiefgang.

Die Frage drängt sich auf: Lässt sich das überhaupt noch aufhalten? Wenn das Fernsehen nur eine Art Verstärker für individuelle und gesellschaftliche Fehlentwicklungen ist, dann muss man bei den Ursachen ansetzen. Und die sind in den gesellschaftlichen Veränderungen und den daraus resultierenden psychologischen Folgen zu suchen. ■

Peter Winterhoff-Spurk

Ohne Titel

Prof. Dr. PETER WINTERHOFF-SPURK leitet die Arbeitseinheit Medien- und Organisationspsychologie an der Universität des Saarlandes. Ein Forschungsschwerpunkt von ihm ist die Gewalt in den Massenmedien. Dieser Beitrag basiert auf seinem Buch „Kalte Herzen“, das am 23. Februar bei Klett-Cotta erscheinen und etwa 20 Euro kosten wird.

Ohne Titel

· • Der Ottonormal-Zuschauer verbringt 13 Jahre seines Lebens vor dem Fernseher. • Jeder dritte Beitrag der Privatsender war 2000 gewalthaltig. • Fernsehen gibt Jugendlichen scheinbaren Halt, wenn Eltern oder Lehrer nicht mehr als Vorbilder taugen.

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