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Revolut ion im Pat ent amt

Geschichte|Archäologie

Revolut ion im Pat ent amt
Atome, Licht und Raumzeit – im Jahr 1905 hat Albert Einstein die Physik gleich dreimal erneuert. Damit wurde der verbeamtete Außenseiter in Bern zum wohl bedeutendsten Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts.

ALBERT EINSTEINS AUSSICHTEN im Frühjahr 1902 waren wenig erquicklich: arbeitslos, mittellos und sein Kind los. Dazu noch akademisch gescheitert.

Als strebsamer Student hatte sich Einstein zwar nicht gerade hervorgetan, aber seine Semesterzeugnisse wiesen durchweg 4 1/4 bis 6 von 6 möglichen Punkten auf. Eine 1, die schlechtest mögliche Note, hatte er lediglich im Physikalischen Praktikum für Anfänger erhalten – aufgrund eines Verweises „wegen Unfleiß“. Denn Einstein schwänzte die Veranstaltung häufig und verstrickte sich aufgrund seiner unkonventionellen Lösungswege mit dem Praktikumsleiter immer wieder in Auseinandersetzungen. Die Hoffnung auf eine Assistentenstelle am Züricher Polytechnikum erfüllte sich nach dem Abschluss seines 1896 begonnenen Diplom-Studiums als mathematisch-physikalischer Fachlehrer dort nicht. Auch Anfragen bei Instituten in Deutschland, Holland und Italien blieben erfolglos. Die meisten der Professoren, die Einstein angeschrieben hatte, machten sich nicht einmal die Mühe zu antworten. Und die Dissertation, die er im November 1901 an der Universität Zürich anmeldete, wurde abgelehnt. Damit erschien eine akademische Zukunft aussichtslos.

Auch eine Anstellung im Lehramt glückte nicht. So bereitete Einstein in Schaffhausen notgedrungen einen englischen Schüler auf die Matura vor, um wenigstens zu etwas Geld zu kommen. Sein Vater, Hermann Einstein, konnte ihn nach mehreren Firmenbankrotts nicht mehr sonderlich unterstützen und starb ohnedies wenige Monate später. Streitereien mit seinem Arbeitgeber kosteten Einstein im Januar 1902 auch den Nachhilfe-Job, und er musste sich mit Privatstunden in Mathematik und Physik über Wasser halten.

Hinzu kam eine menschliche Tragödie. Mileva Mari´ c, die einzige Studentin in Einsteins Semester und alsbald seine Geliebte, rasselte zum zweiten Mal durchs Examen. Obwohl sie schwanger war, machten Einsteins prekäre berufliche und finanzielle Unsicherheit und der vehemente Widerstand seiner Eltern eine Heirat der beiden zunächst unmöglich. Im Haus ihrer Eltern bei Novi Sad gebar Mileva Mari´ c im Januar 1902 eine Tochter, die Einstein in seinen Briefen liebevoll „Lieserl“ nannte, aber vermutlich niemals gesehen hat. Das Kind blieb in Serbien, und seine Spuren verlieren sich nach dem zweiten Lebensjahr. Vermutlich hatte Mileva Mari´ c es entweder zur Adoption freigegeben oder es ist früh gestorben.

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Doch dann wendete sich das Schicksal. Mit Hilfe seines Studienfreundes Marcel Grossmann erhielt Einstein eine Stelle als „Technischer Experte III. Klasse“ am eidgenössischen Amt für geistiges Eigentum in Bern, die er am Montag, 23. Juni, pünktlich um 8 Uhr in der Genfergasse antrat. Mit einem Jahresgehalt von 3500 Franken war nicht nur eine bessere Wohnung möglich, sondern auch die Ehe mit Mileva Mari´ c. Ende 1902 kam sie nach Bern, am 6. Januar 1903 war die standesamtliche Hochzeit. Im Mai 1904 wurde Hans Albert, ihr erster Sohn, geboren, im Juli 1910 folgte ein zweiter, Eduard.

Dabei hatte Einstein die Wissenschaft nicht vergessen. Zwar war er vom etablierten Forschungsbetrieb abgeschnitten und konnte die Entwicklungen nur in Fachzeitschriften verfolgen. Doch seine Autonomie ermöglichte es ihm, die eigenen Ziele zu verfolgen, ohne dass Karrierezwänge seine Kreativität hemmten. Sehr förderlich waren dabei der Gedankenaustausch mit seinen ehemaligen Kommilitonen Michele Besso und Marcel Grossmann sowie die „Akademie Olympia“. In diesem informellen Lese- und Diskussionszirkel arbeitete Einstein mit den beiden Berner Studenten Maurice Solovine und Conrad Habicht oft bis spät in die Nacht philosophische und physikalische Bücher durch, beispielsweise von David Hume, Heinrich Hertz, Ludwig Boltzmann und Ernst Mach. Auch Literarisches stand auf dem Programm – etwa Sophokles, Cervantes und Racine – sowie gemeinsames Musizieren. Und es wurde viel gelacht. „Es war doch eine schöne Zeit damals in Bern, als wir unsere lustige Akademie betrieben, die doch weniger kindisch war als jene respektabeln, die ich später von Nahem kennen lernte“, schrieb Einstein rückblickend am 25. November 1948 in einem Brief an Maurice Solovine.

Im Patentamt war Einstein nicht unglücklich. Die anspruchsvolle Arbeit – Prüfung von Anträgen und Mitwirkung an der endgültigen Formulierung technischer Patente – „zwang zu vielseitigem Denken, bot auch wichtige Anregungen für das physikalische Denken“, meinte er später. Und an Alfred Schnauder, mit dem er in vorangegangenen Jahren musiziert und der ihm eine Komposition gewidmet hatte, schrieb er einmal: „Mir geht es gut; ich bin ehrwürdiger eidgenössischer Tintenscheisser mit ordentlichem Gehalt. Daneben reite ich auf meinem alten mathematisch-physikalischen Steckenpferd und fege auf der Geige – beides in den engen Grenzen, welche mir mein 2-jähriger Bubi für derlei überflüssige Dinge gesteckt hat.“ Sein „überflüssiges“ Steckenpferd hatte Einstein auch ohne akademische Meriten zwischen 1901 und 1904 bereits fünf Publikationen in den angesehenen „Annalen der Physik“ eingebracht, obgleich er in wissenschaftlichen Kreisen praktisch unbekannt blieb. Die erste Arbeit – eine Theorie über zwischenmolekulare Kräfte, die er auf das Phänomen der Kapillarität anwandte – hatte er im Dezember 1900 eingereicht, in einer zweiten übertrug er seine Ergebnisse auf Salzlösungen.

1905 ENTSTANDEN DANN FÜNF ARTIKEL, mit denen dem 26-jährigen Patentbeamten gleich drei grandiose Durchbrüche in der Physik gelangen. Wie er die Arbeiten selbst einschätzte, verraten zwei Briefe an seinen Freund Conrad Habicht.

Im Mai 1905 schrieb Einstein: „… warum haben Sie mir Ihre Dissertation immer noch nicht geschickt? … Ich verspreche Ihnen vier Arbeiten dafür, von denen ich die erste in Bälde schicken könnte, da ich die Freiexemplare baldigst erhalten werde. Sie handelt über die Strahlung und die energetischen Eigenschaften des Lichtes und ist sehr revolutionär, wie Sie sehen werden … Die zweite Arbeit ist eine Bestimmung der wahren Atomgröße aus der Diffusion und inneren Reibung der verdünnten flüssigen Lösungen neutraler Stoffe. Die dritte beweist, daß unter Voraussetzung der molekularen Theorie der Wärme in Flüssigkeiten suspendierte Körper von der Größenordnung 1/1000 mm bereits eine wahrnehmbare ungeordnete Bewegung ausführen müssen, welche durch die Wärmebewegung erzeugt ist; es sind ‚unerklärte‘ Bewegungen lebloser kleiner suspendierter Körper in der That beobachtet worden von Physiologen, welche Bewegungen von ihnen ‚Brownsche Molekularbewegung‘ genannt wird. Die vierte Arbeit liegt erst im Konzept vor und ist eine Elektrodynamik bewegter Körper unter Benützung einer Modifikation der Lehre von Raum und Zeit; der rein kinematische Teil dieser Arbeit wird Sie sicher interessieren.“

Und wenige Monate später meinte Einstein zu einer fünften Arbeit: „Eine Konsequenz der elektrodynamischen Arbeit ist mir noch in den Sinn gekommen. Das Relativitätsprinzip im Zusammenhang mit den Maxwellschen Grundgleichungen verlangt nämlich, daß die Masse direkt ein Maß für die im Körper enthaltene Energie ist; das Licht überträgt Masse. Eine merkliche Abnahme der Masse müßte beim Radium erfolgen. Die Überlegung ist lustig und bestechend; aber ob der Herrgott nicht darüber lacht und mich an der Nase herumgeführt hat, das kann ich nicht wissen.“

• Einsteins Arbeit „Über die von der molekularkinetischen Theorie der Wärme geforderte Bewegung von in ruhenden Flüssigkeiten suspendierten Teilchen“ beantwortet die Frage, ob es direkt beobachtbare Vorgänge gibt, die zeigen, dass die Temperatur tatsächlich ein Maß für die zufälligen Bewegungen der Moleküle ist.

Im Jahr 1827 hat der schottische Botaniker Robert Brown Zitterbewegungen von Schwebeteilchen im Mikroskop beobachtet und vermutet, dass sie auf Stöße der durch Wärme in Bewegung befindlichen viel kleineren Flüssigkeitsmoleküle zurückzuführen sind. Einstein stellte einen Zusammenhang her zwischen den im Mikroskop messbaren Bewegungen der Schwebeteilchen und den Eigenschaften der unsichtbaren Atome. Während deren Geschwindigkeiten unbeobachtbar sind, lässt sich die Verschiebung der Schwebeteilchen abhängig von Zeit, Temperatur und Zähigkeit des Lösungsmittels sowie des Radius der suspendierten Teilchen beobachten.

Einsteins Voraussagen hat Jean-Baptiste Perrin 1908 an der Sorbonne in Paris bestätigt. Mit dieser Arbeit wurde Einstein – neben dem polnischen Physiker Marian Smoluchowski – zum Mitbegründer der statistischen Mechanik – zu einer Zeit, als die Existenz der Atome noch umstritten war. Die Brown’sche Bewegung liefert Einstein zufolge ein Experiment, das zwischen der Vorstellung der Materie als Kontinuum und der Atom-Hypothese zu entscheiden erlaubte. Seither gilt die Existenz von Atomen und Molekülen als gesichert. „Die Arbeit zur Brown’schen Bewegung allein hätte Einstein einen Platz in der Geschichte der Physik gesichert“, kommentiert Roger Penrose von der University of Oxford.

• Einsteins Arbeit „Eine neue Bestimmung der Moleküldimensionen“ beantwortet die Frage, wie man aus gemessenen Eigenschaften von Flüssigkeiten und Lösungen wie Zähigkeit und Diffusionsgeschwindigkeit etwas über die Größe und Zahl von Molekülen erschließen kann.

Mit Hilfe von Methoden, die auf der klassischen Hydrodynamik und Diffusionstheorie beruhen, zeigte Einstein, dass die Messung der Viskosität (der inneren Reibung) eines Lösungsmittels und einer Lösung das Gesamtvolumen der gelösten Moleküle berechnen lässt und somit auch die Avogadro’sche Zahl und die Größe der Moleküle des gelösten Stoffs abgeschätzt werden kann. Die 18-seitige Schrift enthält eine 11-seitige Rechnung mit über 40 Formeln – und übrigens einen Rechenfehler, den Einstein erst später berichtigte.

Mit der Arbeit wurde Einstein nochmals bei Alfred Kleiner an der Universität Zürich vorstellig, der sie als Promotion annahm. Sie „illustriert, was den großen Forscher ausmacht: Spürsinn und Durchhaltevermögen, Intuition und Technik“, kommentiert Jürgen Ehlers, Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts für Gravitationsphysik in Potsdam, das auch Albert-Einstein-Institut genannt wird. Weil sie zahlreiche Anwendungen in der Petrochemie hat, war sie bis in die achtziger Jahre Einsteins meist zitierte Publikation.

• Einsteins Arbeit „Zur Elektrodynamik bewegter Körper“ beantwortet die Frage, ob sich das in der Mechanik seit Galileo Galilei bewährte Relativitätsprinzip auf alle physikalischen Gesetze verallgemeinern lässt. Es besagt, dass in der Schar der gleichförmig relativ zueinander bewegten Inertial-Bezugssysteme keines durch die Gesetze der Mechanik als „ruhend“ ausgezeichnet ist.

Dieser binnen fünf oder sechs Wochen konzipierte und am 30. Juni zur Veröffentlichung eingereichte Artikel formuliert die – später so genannte – Spezielle Relativitätstheorie. Einstein löst darin einen Widerspruch zwischen der klassischen Mechanik und dem Elektromagnetismus auf. Er „benutzte eine Theorie – Maxwells Elektrodynamik –, um die Grenzen des Anwendungsbereichs einer anderen – der Newton’schen Mechanik – zu finden, obwohl er sich der begrenzten Anwendbarkeit von Maxwells Theorie bewusst war“, fasst Jürgen Ehlers die Strategie dieser Arbeit zusammen.

Einstein zeigte, dass sich der auf einer Vorstellung eines absoluten Raums und einer absoluten Zeit basierende physikalische Rahmen der klassischen Mechanik, mathematisch mit der Galilei-Transformation beschrieben, nicht halten lässt und bei hohen Geschwindigkeiten versagt. Gleichzeitigkeit und Gleichortigkeit ist eine vom Bezugssystem abhängige Beziehung. Als absolute Größe wird die Vakuum-Lichtge- schwindigkeit erkannt, die universell und konstant ist und in allen Inertialsystem denselben Wert hat. Die Galilei-Transformation muss durch eine andere Rechenvorschrift ersetzt werden, die Lorentz-Transformation, der Maxwells Gleichungen aber genügen.

Das hatte erstaunliche Konsequenzen. „Nehmt aus der Welt den lichttragenden Äther, und die elektrischen und magnetischen Kräfte können nicht mehr den Raum überschreiten“, war noch Heinrich Hertz überzeugt. Doch Messungen erbrachten keinerlei Hinweise auf die Existenz eines solchen Mediums, und Einstein zeigte, dass dessen Annahme überflüssig ist. Der Preis ist ein neuer Gleichzeitigkeitsbegriff – es gibt keine absolute Zeit, nur bezugssystemabhängige Eigenzeiten – und die Zeitdilatation oder Zeitdehnung: rasch bewegte Uhren gehen langsamer.

Dieser Effekt wurde im Labor mit Atomuhren und beim Studium der Zerfallszeiten fast lichtschneller Teilchen experimentell gut bestätigt. Er hat eine als Zwillingsparadoxon bekannte bizarre Konsequenz: Würde man mit dem erträglichen Beschleunigungs- und Bremsdruck von 1 G (entsprechend der Erdschwerkraft) „nur“ mit 99,9992 Prozent der Lichtgeschwindigkeit zu einem 500 Lichtjahre entfernten Stern und wieder zurückfliegen, wäre man bloß knapp 25 Jahre gealtert, während auf der Erde 1000 Jahre vergangen wären. Ein Raumfahrer könnte also bei entsprechend rasantem Tempo als noch junger Mann zur Erde zurückkehren, wo sein Zwillingsbruder bereits zum Greis geworden oder längst gestorben ist. Fast lichtschnelle Bewegungen führen auch noch zu anderen bizarren Effekten (siehe Doppelseite „Rasante Sehenswürdigkeiten“).

• Einsteins Arbeit „Ist die Trägheit eines Körpers von seinem Energieinhalt abhängig?“ beantwortet die Frage, ob zwischen den auf verschiedenen Wegen gefundenen Erhaltungssätzen für Masse und Energie ein Zusammenhang besteht. Dieser am 27. September eingereichte Artikel ist ein Nachtrag, der – so Einstein – die „ wichtigste aller Konsequenzen der Relativitätstheorie“ aufzeigt: „ Die Masse eines Körpers ist ein Maß für dessen Energieinhalt“. Der nur drei Druckseiten umfassende Text enthält (in anderer Schreibweise) die wohl berühmteste Formel der Physik: E = mc2. Danach entspricht die Energie eines Körpers seiner Masse multipliziert mit dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit.

Dass dies der Fall ist, wurde erst in den 1930er Jahren bestätigt: Die Bindungsenergie, die Protonen und Neutronen im Atomkern zusammenhält, trägt zur übrigen Kernmasse bei. Das ist auch die Grundlage für die Energieerzeugung durch Kernfusion. So werden im Zentrum der Sonne pro Sekunde über 500 Millionen Tonnen Wasserstoff in Helium verschmolzen. Etwa 0,7 Prozent – 4 Millionen Tonnen – werden dabei in Energie verwandelt. Diese Menge würde ausreichen, um eine Million Jahre lang den gesamten heutigen Energiebedarf der Menschheit zu decken. Auch das Zerstrahlen von Materie und Antimaterie (und umgekehrt deren Erschaffung aus Energie) wird von E = mc2 beschrieben. Das ist die effizienteste Energieerzeugung überhaupt: Die Annihilation von 500 Kilogramm Materie und Antimaterie würde den jährlichen weltweiten Strombedarf decken. Die Kernspaltung ist ebenfalls eine „Anwendung“ von E = mc2. Sie zeigte ihre zerstörerische Sprengkraft 1945 bei den Abwürfen der ersten Atombomben, deren Entwicklung Einstein im Zweiten Weltkrieg erst mit forciert und später vehement bekämpft hatte.

• Einsteins Arbeit „Über einen die Erzeugung und Verwandlung des Lichtes betreffenden heuristischen Gesichtspunkt“ beantwortet die Frage, ob die Energie des Lichts oder allgemeiner des elektromagnetischen Felds tatsächlich kontinuierlich im Raum verteilt ist, wie es James Clerk Maxwells Feldtheorie annimmt, oder ob es empirische Hinweise gibt, wonach diese Energie aus nicht weiter teilbaren, in endlich vielen bewegten Punkten konzentrierten Quanten besteht.

Dieser Artikel war der Einzige, den Einstein selbst als „ radikal“ empfand. Dafür, und nicht für die Relativitätstheorie, erhielt er später den Physik-Nobelpreis. „Ohne diese Arbeit ist die Entwicklung der Physik im 20. Jahrhundert undenkbar“, sagte der Physiker Res Jost einmal. Denn darin zeigte Einstein, dass nach der klassischen Physik kein Wärmegleichgewicht zwischen Materie und Strahlung möglich ist, und dass sich monochromatische Strahlung der Frequenz n so verhält, als ob ihre Energie aus unabhängigen Quanten vom Betrag h n bestünde. h ist die von Max Planck im Dezember 1900 mit seiner von ihm selbst als einen „Akt der Verzweiflung“ bezeichneten Ableitung eingeführte Naturkonstante. Sie bedeutet, dass Licht nicht beliebig teilbar ist, sondern in kleinsten Portionen vorkommt, den Quanten. Das war der Bruch mit der klassischen Physik und widerlegte den für fundamental erachteten Satz, dass die Natur keine Sprünge macht: Stattdessen kann Materie Strahlung stets nur in einzelnen Paketen aufnehmen, nicht kontinuierlich. Solche Quantensprünge liegen auch dem photoelektrischen Effekt zugrunde, bei dem Ultraviolett-Strahlung Elektronen aus einer Metallplatte herausschlägt.

Einsteins Voraussagen hierzu wurden 1916 von Andrew Millikan in Chicago bestätigt. Schon 1911 gelang es dem späteren Chemie-Nobelpreisträger Walther Nernst und Frederick A. Lindemann in Berlin, Quantenphänomene bei Festkörpern nachzuweisen, die Einstein 1907 errechnet hatte. Obwohl dieser später zum größten Kritiker der Quantentheorie wurde, „hat er sich mehr noch als Planck den Namen als Entdecker des neuen Kontinents verdient“, betont der Stuttgarter Wissenschaftshistoriker und Einstein-Biograf Armin Hermann. Und Jürgen Ehlers sagt, Einsteins Argumentation von 1905 zeige seine „wunderbare, fast unheimliche Fähigkeit, aus noch unverstandenen experimentellen Tatsachen eine Folgerung heraus zu destillieren, die der weiteren theoretischen Grundlagenforschung den Weg weist“.

DIE FÜNF ARBEITEN von 1905 waren „eine in der gesamten Wissenschaftsgeschichte einzigartige Leistung“, schreibt der Astronom und Wissenschaftsjournalist Thomas Bührke in seiner letztes Jahr erschienenen Einstein-Biografie. „Niemand hat jemals zuvor oder danach den Horizont der Physik in kurzer Zeit so sehr erweitert wie Einstein im Jahr 1905″, urteilt der Quantenphysiker Abraham Pais in der bedeutendsten wissenschaftlichen Einstein-Biografie „Raffiniert ist der Hergott…“ Auch Jürgen Ehlers spricht von einer „in der Geschichte der Physik wohl einzigartigen Folge wegweisender Einfälle und Entdeckungen“. Sie lassen „das Abenteuer der Erkenntnis spüren“, zeigen auch die „ Persönlichkeit des Verfassers“ viel besser als die Lehrbuchdarstellungen, und sie machen sichtbar, „dass der schöpferische Einfall dem stillen, geduldigen, lang währenden Nachdenken des Einzelnen entstammt; das wird heutzutage bei der vorherrschenden und betonten Teamarbeit und dem Drängen nach rasch erzielbaren Ergebnissen wohl gern vergessen.“

Der holländische Physik-Nobelpreisträger Hendrik Antoon Lorentz nannte Einsteins 1905 entstandene Artikel „Perlen der Theoretischen Physik“. Häufig sprechen Wissenschaftshistoriker und Biografen sogar von Einsteins Wunderjahr („annus mirabilis“). „Nie zuvor und seither nie mehr“, schreibt beispielsweise Albrecht Fölsing in seiner viel beachteten Einstein-Biografie, „ hat ein einzelner Mensch die Wissenschaft in so kurzer Zeit um so viel bereichert, wie Einstein die Physik in diesem ‚annus mirabilis‘.“

Dieser Begriff ist nicht neu, sondern wurde vor 1905 schon auf 1666 angewendet – das Jahr, in dem der 24-jährige Isaac Newton die Basis eines Großteils der Physik und Mathematik schuf, die die Naturwissenschaften des 17. Jahrhunderts revolutionierten: die Grundlagen seiner Fassung der Infinitesimalrechnung, der Farbentheorie und der Gravitationstheorie. (Exakter wäre es, von „ anni mirabiles“ zu sprechen, weil Newton die entscheidenden Erkenntnisse zwischen 1664 und 1666 gelangen.) Der Begriff wurde zunächst von dem Dramendichter John Dryden geprägt, der in seinem Gedicht „Annus Mirabilis: The Year of Wonders, 1666″ freilich etwas ganz anderes im Sinn hatte: Er feierte den Sieg der englischen Flotte über die holländische sowie das Durchhalten Londons, das von einer verheerenden Feuersbrunst heimgesucht worden war.

Während Newtons Revolution sich eher heimlich, still und leise ankündigte, verbreiteten sich Einsteins Ideen recht schnell. Doch im Gegensatz zu Newton war Einstein als Mathematiker niemals besonders kreativ und entwickelte keine neuen formalen Techniken. Deshalb blieb es auch anderen vorbehalten, der Speziellen Relativitätstheorie ihre angemessenste mathematische Formulierung zu geben: Henri Poincaré, Hermann Minkowski und Arnold Sommerfeld.

Einsteins Leistungen mit denen Newtons zu vergleichen, ist freilich nur bedingt sinnvoll. Und so wie Newton von sich sagte, er habe nur weiter gesehen, weil er auf den Schultern von Riesen stand, urteilte auch Einstein, dessen Relativitätstheorie die klassische Physik Newtons zugleich überwand und abgeschlossen hat, dass dadurch nicht „Newtons große Schöpfung im eigentlichen Sinne verdrängt werden könne. Seine klaren und großen Ideen werden als Fundament unserer ganzen modernen Begriffsbildung auf dem Gebiete der Naturphilosophie ihre eminente Bedeutung in aller Zukunft behalten.“

Erstaunlich ist die Geschwindigkeit, mit der Einstein drei physikalische Revolutionen auf einen Streich gelang – die unserer Vorstellungen über die Atome, das Licht sowie Raum und Zeit. Zwischen dem Abschicken des ersten (März) und letzten (September) der fünf Artikel war gerade mal ein halbes Jahr verstrichen. „Die Zeitpunkte des Einreichens spiegeln nicht die Periode der Reifung der verschiedenen Texte“, schränkt allerdings John Stachel ein, emeritierter Physik-Professor an der University of Pittsburgh und Mitherausgeber von Einsteins gesammelten Schriften. „Es scheint bei Menschen mit außergewöhnlichem Talent üblich zu sein, eine ‚ Latenzperiode‘ zu durchlaufen, während der sie in ihrem gewählten Gebiet arbeiten, aber nichts Herausragendes vollbringen. Dann kristallisiert alles ziemlich rasch, und die Arbeit macht einen großen Sprung voran. Tatsächlich fragte sich Einstein schon als 16-Jähriger, was geschehe, wenn man einem Lichtstrahl nachjagen würde, und sah dies als den Keim dessen, was nun Spezielle Relativitätstheorie heißt. Das ist ein zehnjähriger Reifeprozess.“

Einstein selbst drückte es dem Physiker James Franck gegenüber in seiner für ihn typischen bescheidenen und humorvollen Weise einmal so aus (wie Carl Seelig in seiner 1955 erschienenen Biografie berichtet hat): „Der normale Erwachsene denkt nicht über die Raum-Zeit-Probleme nach. Alles, was darüber nachzudenken ist, hat er nach seiner Meinung bereits in der frühen Kindheit getan. Ich dagegen habe mich derart langsam entwickelt, dass ich erst anfing, mich über Raum und Zeit zu wundern, als ich bereits erwachsen war. Naturgemäß bin ich dann tiefer in die Problematik eingedrungen als ein gewöhnliches Kind.“

Und bereits im August 1899 schrieb Einstein an seine spätere Frau Mileva Mari´ c: „Es wird mir immer mehr zur Überzeugung, dass die Elektrodynamik bewegter Körper, wie sie sich gegenwärtig darstellt, nicht der Wirklichkeit entspricht, sondern sich einfacher wird darstellen lassen. Die Einführung des Namens ‚ Äther‘ in die elektrischen Theorien hat zur Vorstellung eines Mediums geführt, von dessen Bewegung man sprechen könne, ohne dass man wie ich glaube, mit dieser Aussage einen physikalischen Sinn verbinden kann. Ich glaube, dass elektrische Kräfte nur für den leeren Raum direkt definierbar seien“.

„Ähnliche, wenn auch nicht so lange Reifeperioden hatten die anderen Artikel“, erläutert John Stachel weiter. „So begann Einstein über die Analogien zwischen der Schwarzkörper-Strahlung und einem Gas von Teilchen bald nach seinem Abschluss am Polytechnikum zu spekulieren – das geht aus einem Brief an Mileva Mari´ c vom 30. April 1901 hervor –, was einen vierjährigen Reifeprozess bedeutet.“

Trotzdem kann man Einsteins kreative Explosion auch heute nur bewundern – und das bei einer 48-Stunden-Woche als „ Tintenscheißer“. Allerdings: „Einstein arbeitete täglich acht Stunden im Patentamt, aber sicherlich nicht nur für das Amt“, sagt John Stachel. „Die von ihm autorisierte Biografie seines Schwiegersohns Rudolf Kayser – der sie unter dem Pseudonym Anton Reiser geschrieben hat –, macht deutlich, dass er seine Büroarbeit in der Hälfte der Zeit erledigte und die andere Hälfte für seine eigene Arbeit verwendete. Und seine Papiere rasch in die Schublade seines Schreibtischs verschwinden ließ, wenn jemand vorbeikam.“ Diese Schublade nannte Einstein augenzwinkernd sein „ Büro für Theoretische Physik“.

Dass die renommierten „Annalen“ die Arbeiten des Berner Patentbeamten druckten, ist nicht so erstaunlich, wie es heute wirkt. Nur wenige eingereichte Artikel wurden von der Zeitschrift abgelehnt – weniger als zehn Prozent. Und Einstein wurde schon vor 1905 von den Herausgebern geschätzt und sogar darum gebeten, Überblicksartikel für die „Beiblätter“ der „Annalen“ zu verfassen. Bis 1907 veröffentlichte er 23 Besprechungen zu Arbeiten aus dem Gebiet der Wärmelehre.

BIS SICH EINSTEINS WUNDERJAHR auch beruflich auswirkte, verstrichen freilich noch einige Jahre. Zunächst gab es nur wenige Reaktionen in der akademischen Welt, obwohl Einstein weiter wissenschaftliche Artikel publizierte. Doch dann fanden seine Arbeiten immer mehr Anerkennung – auch durch die Unterstützung von Max Planck. Der berichtete schon 1906 auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft der Naturforscher und Ärzte in Stuttgart über Einsteins „Relativitätstheorie“ – er verwendete hier erstmals diese Bezeichnung, die Einstein 1907 übernahm. Von „ Spezieller Relativitätstheorie“ sprach Einstein erst ab 1915. Ab 1907 versuchte er bereits, sie zur Allgemeinen Relativitätstheorie zu erweitern, die auch die Schwerkraft beschreibt. Diese theoretische Tortur sollte freilich erst 1915 zum Abschluss kommen.

Ein wichtiges Handwerkszeug für die Spezielle Relativitätstheorie (und deren spätere Verallgemeinerung) lieferte kurioserweise die mathematische Formulierung von Hermann Minkowski, die Einstein zunächst als „überflüssige Gelehrsamkeit“ vorkam. 1916 bekannte er jedoch: „Ohne Minkowskis wichtige Gedanken wäre die Allgemeine Relativitätstheorie vielleicht in den Windeln stecken geblieben.“ Bei Minkowski hatte Einstein am Züricher Polytechnikum Mathematikvorlesungen gehört – oder hören sollen. Minkowski, der später an die Universität Göttingen berufen wurde, sagte dort einmal zu seinem Assistenten Max Born: „ Das hätte ich dem Einstein eigentlich nicht zugetraut.“ Minkowski prägte auch die wichtigen Begriffe „Weltlinie“ und „Raumzeit“. Am 21. September 1908 sprach der spröde wirkende Mathematiker in einem Vortrag vor der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Köln die folgenden pathetischen und oft zitierten Worte: „Von Stund‘ an sollen Raum für sich und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken, und nur noch eine Art Union der beiden soll Selbständigkeit bewahren.“

Das Jahr 1908 brachte Einstein endlich die ersehnte berufliche Veränderung. „Ich muss Ihnen offen sagen, dass ich mit Staunen gelesen habe, dass Sie 8 Stunden am Tage in einem Bureau sitzen müssen. Es gibt oft einen Treppenwitz in der Geschichte“, schrieb der Physiker Jakob Laub noch zu Anfang dieses Jahres an Einstein, der inzwischen zum Experten II. Klasse befördert worden war und 1000 Schweizer Franken mehr verdiente. Am 24. Februar 1908 reichte Einstein seine – heute verschollene – Habilitation an der Universität Bern ein und hielt vier Tage später die Probevorlesung. Er wurde zum Privatdozenten ernannt, kündigte beim Patentamt – sein Vorgesetzter soll getobt haben – und hielt seine erste Vorlesung über die „Molekulare Theorie der Wärme“. Es hatten sich nur drei Hörer eingeschrieben – sämtlich Freunde Einsteins vom Patentamt.

Dann ging es aber Schlag auf Schlag: 1911 wurde Einstein als Außerordentlicher Professor für Theoretische Physik auf einen eigens für ihn eingerichteten Lehrstuhl an die Universität Zürich berufen. 1911 erhielt er ein Ordinariat an der Universität Prag. Und 1914 bekam er eine Stelle als ordentliches Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin – ohne Lehrverpflichtungen.

Den gesellschaftlichen Zenit erreichte Einstein wohl am 10. Dezember 1922, als ihm in Stockholm der Physik-Nobelpreis für das Jahr 1921 verliehen wurde. Die Nachricht hatte ihn im November auf einem Schiff per Funk erreicht, als er zu einer Vortragsreise nach Japan unterwegs war. Einstein hielt sie aber nicht einmal für einen Vermerk in seinem Reisetagebuch wert. Vor 50 Jahren, am 18. April 1955, starb er an einem Riss der erweiterten Hauptschlagader. Seine Asche wurde noch am selben Tag gemäß seinem Wunsch an einem unbekannten Ort verstreut.

Rüdiger Vaas ■

Ohne Titel

· • Zunächst sah alles nach einer verkrachten Existenz aus: lange Arbeitslosigkeit, gescheiterte Promotion und ein uneheliches Kind. • Doch dann schuf Albert Einstein in nur einem halben Jahr die Spezielle Relativitätstheorie, erkannte die Quanten-Natur des Lichts und die atomistische Struktur der Materie.

Ohne Titel

Sich der Lichtgeschwindigkeit anzunähern, ist ganz schön anstrengend. Das weiß zwar jeder, der mit den Grundzügen der Speziellen Relativitätstheorie vertraut ist – denn Materie kann niemals die Vakuum-Lichtgeschwindigkeit erreichen, weil dafür ein unendlicher Energiebetrag erforderlich wäre. Doch es selbst zu erleben, ist eine andere Sache. Ich musste mich regelrecht abstrampeln, um fast lichtschnell durch Tübingen zu radeln. Die schmucke schwäbische Universitätsstadt ist mir seit meiner Studentenzeit wohl vertraut. Aber so habe ich sie noch nie gesehen: Die Häuser dicht vor mir in riesige Entfernung gerückt, die Gebäude neben mir wie in einem Dalí-Gemälde verbogen und andere, an denen ich gerade vorbei bin, noch immer ins Blickfeld hineinragend. Hinzu kommt ein unwirkliches Farbenspiel: Vor mir erscheint alles in grellem, weißen Licht, während sich die Umgebung seitwärts tunnelartig in immer dunklere Rottöne hüllt.

Das ist kein Traum – obwohl ich gar nicht in Tübingen bin, sondern in Einsteins Geburtsstadt Ulm. Auf der großen Einstein-Ausstellung letztes Jahr haben die Tübinger Relativitätstheoretiker um Hanns Ruder eine große Leinwand vor einem Trimm-Rad aufgebaut, die Lichtgeschwindigkeit kurzerhand von 1 Milliarde auf 30 Kilometer pro Stunde verringert und dem Besucher so einen surrealistischen Ausflug in das Reich der Physik ermöglicht, das sich sonst nur mit abstrakten Formeln beschreiben lässt. Die interaktive Ausstellung, die ab Mai im Deutschen Museum in München zu sehen sein wird, war so erfolgreich, dass in Ulm immer wieder das Trimm-Rad repariert werden musste – so kräftig traten die Besucher in die Pedale.

Eine solche imaginäre Radtour beschrieb der aus Russland stammende und in Amerika arbeitende Kosmologe und Physiker George Gamow schon 1940 in seinem populärwissenschaftlichen Bestseller „ Mr. Tompkins in Wonderland“, um die relativistischen Effekte zu veranschaulichen. Insbesondere die Lorentz-Kontraktion (benannt nach dem Physik-Nobelpreisträger Hendrik Antoon Lorentz, der wie Woldemar Voigt und George Francis Fitzgerald schon einige Jahre vor Einstein diese Möglichkeit erkannt hatte). Demnach „ schrumpfen alle [fast lichtschnell] bewegten Objekte … in flächenhafte Gebilde zusammen“, wie Einstein in seiner Originalarbeit 1905 geschrieben hat. Gamows Radfahrer sah somit in Fahrtrichtung platt gedrückte Häuser.

„Dieses Bild ist völlig falsch“, betont Hanns Ruder. „Und zwar deshalb, weil die Effekte der endlichen Lichtlaufzeit nicht bedacht wurden.“ Während sich das Licht in unserer engen Alltagswelt praktisch unendlich schnell nähert – im Vergleich mit Fußgängern und selbst Autobahnrasern –, sieht die Sache bei relativistischen Geschwindigkeiten ganz anders aus. „Wenn man die Häuser entlang ihrer Oberfläche ausmisst, dann sind sie längenkontrahiert. Wenn man sie aber anschaut, erscheinen sie gedreht und verzerrt“, sagt der Tübinger Astrophysik-Professor.

Der Grund dafür ist die relativistische Abberation. Sie beschreibt die Tatsache, dass es von der Höhe und Richtung der Geschwindigkeit eines Beobachters abhängt, welchen Weg ein Lichtstrahl oder ein anderes bewegtes Objekt seiner Ansicht nach nimmt. Zwar ist die Lorentz-Kontraktion im Alltag praktisch irrelevant (bei 100 Kilometern pro Stunde nur 1 minus 4 . 10–15), verkürzt bei 90 Prozent der Lichtgeschwindigkeit jedoch ein Objekt schon um 44 Prozent. Für den rasenden Radler erscheinen Gegenstände vor ihm stark verkleinert. Aber das ist nicht alles: Auch Linien erscheinen gekrümmt. Die nächst gelegenen Häuser wölben sich gleichsam zur Mitte des Gesichtskreises hin. Und es werden sogar Objekte sichtbar, die sich seitlich oder bereits hinter der momentanen Position des Beobachters befinden. Man kann also gewissermaßen um die Ecke sehen. Derselbe Effekt der Aberration führt auch dazu, dass beim fast lichtschnellen Flug durchs Brandenburger Tor dessen Rückseite sichtbar würde, und dass ein Würfel, der mit 95 Prozent der Lichtgeschwindigkeit an einem ruhenden Beobachter vorbeisaust, so gedreht erscheint, dass er ihn teilweise von hinten erblickt – wie Hanns Ruder genüsslich am Computer vorführt.

„Dass fast lichtschnelle Objekte verzerrt aussehen müssen, hätte man bereits seit 1676 folgern können, als Olaf Römer entdeckte, dass Licht sich mit endlicher Geschwindigkeit ausbreitet“, sagt Ruder. „Kurioserweise hat aber niemand darüber nachgedacht.“ Nicht einmal Einstein war sich in dieser Hinsicht den Konsequenzen der Speziellen Relativitätstheorie bewusst. Die ersten theoretischen Arbeiten zur „richtigen“ Sichtbarkeit der Lorentz-Kontraktion stammen von Anton Lampa (1924), Roger Penrose und James Terrell (1959). Anschaulich gemacht hat sie vor allem Ruders Team an der Universität Tübingen. Die Arbeiten entstanden im Rahmen des Sonderforschungs- bereichs 382 „Verfahren und Algorithmen zur Simulation physikalischer Prozesse auf Höchstleistungsrechnern“, der noch bis 2006 läuft. Selbst Relativitätstheoretiker, die die Simulationen zunächst als unrealistische Spielerei abgetan hatten, ließen sich inzwischen von ihrer Nützlichkeit bekehren. Denn mit Einsteins Formelwerk allein kann man sich noch keine rechte Vorstellung machen.

Ruder bringt die verwirrende Weltsicht der Speziellen Relativitätstheorie humorvoll auf den Punkt: „Man versteht die Effekte dadurch zwar auch nicht, aber man sieht sie wenigstens.“ Und genau deshalb stellt er sie mit seinem pfiffigen Team seit 1987 immer wieder neu und noch „realistischer“ dar – den ständig schneller werdenden Hochleistungscomputern sei Dank. Mit Ute Kraus, Marc Borchers, Daniel Weiskopf, Corvin Zahn und anderen hat er zahlreiche relativistische Veranschaulichungen entworfen. Im Internet sind sie für jeden leicht nachvollziehbar gezeigt und erklärt.

Besonders skurril sind die rotierenden Räder, deren Mantel bei fast Lichtgeschwindigkeit längenkontrahiert werden würde, die Speichen jedoch nicht. „Der Radumfang würde bei 93 Prozent der Lichtgeschwindigkeit nicht das pfache, also das 3,14fache, sondern das 8,5fache des Durchmessers betragen, denn seine innere Geometrie wäre nicht euklidisch“, sagt Ute Kraus. Aufgrund des Lichtlaufzeit-Effekts würden die Speichen vollständig verbogen erscheinen. Gäbe es ein Material, das den Zentrifugalkräften trotzen würde, müsste man das Rad bei seiner hohen Geschwindigkeit zusammenbauen, sonst würde es aufgrund der Lorentz-Kontraktion zerbrechen. Gamows fiktiver Mr. Tompkins hätte also keine gute Fahrt…

Noch zwei weitere relativistische Effekte verwirren unser vertrautes Alltagsempfinden: „Farbe und Helligkeit eines Objekts in schneller Bewegung erscheinen völlig anders als in Ruhe“, sagt Ruder. Und Ute Kraus ergänzt: „Würden wir an der Sonne vorbeirasen, wäre sie im Anflug gleißend hell und bläulich, würde dann die Farbe über weiß und orange nach rot wechseln und schließlich im Rückspiegel tiefrot und nur noch schwach glimmend erscheinen.“ Denn herannahende Lichtwellen werden gleichsam gestaucht (und somit in den energiereicheren, bläulichen Bereich verschoben), fliehende gedehnt (und somit energieärmer und röter). Das ist der optische Doppler-Effekt, benannt nach Christian Doppler, der ihn 1842 für Schall beschrieben hat – man denke an die erst hohe und dann immer tiefer und leiser werdende Sirene eines vorbeirasenden Feuerwehrautos. Mit der Verkürzung der Wellenlängen geht eine Vergrößerung der Intensität einher – zumindest bei thermischen Strahlern wie der Sonne. Je nach Spektrum können manche Objekte fürs menschliche Auge sogar unsichtbar werden, wenn sich ihre Strahlung in den Ultraviolett-Bereich verschiebt. Daher also auch das gleißend helle Licht vor mir bei meiner virtuellen Spritztour durch Tübingen.

Doch nicht alles ist relativistisch verzerrt. Eine Kugel bleibt eine Kugel – aber nur nach dem Augenschein (auch wenn beispielsweise darauf gezeichnete Längen- und Breitengrade stark verbogen wären). Im Rahmen der klassischen Physik würde sie dagegen zu einem Zeppelin in die Länge gezerrt erscheinen, während sie sich in einer Messung im Rahmen der Relativitätstheorie als kontrahierter Ellipsoid erweisen würden. „ Die Längenkontraktion sorgt dafür, dass eine Kugel bei beliebiger Geschwindigkeit und aus beliebigem Abstand stets mit einem kreisförmigen Umriss gesehen wird“, sagt Ruder. „Dabei könnte man fast philosophisch werden. Denn schnell bewegte Körper, die man in Wirklichkeit – also ohne Computersimulationen – bei relativistischen Geschwindigkeiten betrachten könnte, müssten so groß sein wie Sterne, damit zum Anschauen genügend Zeit bleibt. Doch selbst bei einem noch so rasanten Flug durchs Weltall würden die Sterne ihre kugelförmige Gestalt behalten.“ Rüdiger Vaas

Ohne Titel

Roger Penrose – der bedeutende mathematische Physiker von der Oxford University, der letztes Jahr mit seinem über 1000-seitigen Buch „The Road to Reality“ eine vielbeachtete Bestandsaufnahme der gesamten Physik vorgelegt hat – unterscheidet fünf große Revolutionen des physikalischen Weltbilds. Und Einstein war an zweien beteiligt. • Schon in der Antike wurden die Begriffe der euklidischen Geometrie, der starren Körper und der statischen Konfigurationen eingeführt und erste Ansätze für die Bedeutung der Mathematik im Naturverständnis entwickelt. • Galileo Galilei und Isaac Newton erkannten, wie sich die Bewegungen wägbarer Körper aufgrund von Kräften erklären lassen, die zwischen den Teilchen herrschen, aus denen die Körper bestehen, und den Beschleunigungen, die diese Kräfte erzeugen. • Michael Faraday und James Clerk Maxwell wiesen nach, dass auch stetige Felder den Raum durchdringen und ebenso wirklich sind wie die Teilchen. • Albert Einsteins Relativitätstheorie revolutionierte unsere Vorstellungen von Raum und Zeit und beschrieb deren Krümmung als Schwerkraft. • Die von Einstein mitbegründete Quantenphysik stellte die Beschaffenheit der Materie und Strahlung auf eine neue Grundlage und führte den mysteriösen Welle-Teilchen-Dualismus ein.

Allerdings hatte Einstein 1905 die beiden letzten Revolutionen in der Physik weder ausgelöst noch vollendet. Wichtige Vorarbeiten für die Spezielle Relativitätstheorie stammten von Hendrik Antoon Lorentz, George Francis Fitzgerald und Henri Poincaré, und die Quantennatur der Strahlung hatte Max Planck bereits um 1900 in einem „Akt der Verzweiflung“ beschrieben. Einstein nahm die Quantenphysik aufgrund ihres inhärenten Zufalls später sogar heftigst unter Beschuss (bild der wissenschaft 8/2004, „Einstein und die Quantenwelt“).

Die nächste – sechste – Revolution in der Physik, wenn sie gelingt, wird ebenfalls auf Einsteins Arbeiten aufbauen: die Entwicklung und experimentelle Überprüfung einer Theorie der Quantengravitation, die die Quantenphysik und Allgemeine Relativitätstheorie vereinigt (bild der wissenschaft 4/2004, „Das Duell: Strings gegen Schleifen“). Damit wäre Einsteins Vermächtnis erfüllt, denn er suchte bis an sein Lebensende nach einer „einheitlichen Feldtheorie“.

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Kamp|to|zo|on  〈n.; –s, –zoa od. –zo|en; Zool.〉 Mitglied eines rund 60 Arten umfassenden Tierstammes von kelchartigen Organismen, deren Mundöffnung neben dem After liegt [<grch. kamptos … mehr

Amei|sen|säu|re  〈f. 19; unz.; Chem.〉 in Ameisen–, Bienengift u. Brennnesseln vorkommende Säure, chemische Formylsäure; Sy Methansäure … mehr

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