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GOLDGRUBE IM AMISH-LAND

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GOLDGRUBE IM AMISH-LAND
In den Hügeln Pennsylvanias leben die traditionsbewussten Amish. Ein Mediziner sucht in ihren Genen nach den Ursachen von Gesundheit und Krankheit.

Bei seinem ersten Besuch wurde Alan Shuldiner mit der Mistgabel vom Hof gejagt. Zwei Welten prallten aufeinander: Shuldiners High-Tech-Gen-Forschung mit Spritzen, Blutproben und Diabetes-Tests – und die der religiösen „Amish-Leit“, die heute fast genauso wie vor 300 Jahren leben. Damals wanderten ein paar Dutzend Familien aus der Pfalz, dem Elsass, Baden und der Schweiz nach Amerika aus. In der Hügellandschaft Pennsylvanias, die an den Schwarzwald erinnert, ließen sie sich nieder. Moderne Technik lehnen die Amish ab. Bis heute fahren sie Pferdewagen, haben weder Telefone noch Fernseher im Haus und verzichten auf Strom aus der Steck- dose. In Lancaster County, wo rund 30 000 Amish leben, scheint die Zeit seit Jahrhunderten still zu stehen. Ein Umstand, der nicht nur Kultur- und Sprachforscher anzieht – vor allem Gen-Forscher wie Alan Shuldiner haben in den Amish eine wissenschaftliche Goldgrube entdeckt.

„Jeder Gen-Forscher kennt die Amish“, sagt der 52-jährige Mediziner, dessen ruhige und freundliche Souveränität schnell Vertrauen schafft. Anfang der 1990er-Jahre wechselte er nach dem Studium an der Harvard University in Cambridge (Massachusetts) an die Johns Hopkins University in Baltimore (Maryland), ganz in der Nähe der Amish-Gemeinden. „Viele Erbkrankheiten, die in der übrigen Bevölkerung sehr selten sind, kommen bei den Amish gehäuft vor“, sagt Shuldiner. Er ist Spezialist für Hormone und lehrt heute an der University of Maryland. Ursache für die Vielzahl der Erbkrankheiten ist, dass die Amish fast ausschließlich untereinander heiraten, seit eine Gruppe von etwa 500 Siedlern 1737 ihre ersten Gemeinden in Pennsylvania gegründet hat (siehe Kasten rechts „Gut zu wissen: Die Amish“). Die enge Verwandtschaft innerhalb der Amish erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Träger des gleichen Gen-Defekts Kinder bekommen, die dann mit Behinderungen geboren werden. Dieser „Gründereffekt“ hilft Gen-Forschern, die genetische Ursache für diese sonst seltenen Erbkrankheiten zu finden. So wurde kürzlich durch Untersuchungen an Mennoniten der Gen-Defekt entdeckt, der hinter einer bestimmten Form der „Progerie“ steht, einer Krankheit, die schon bei Kindern Alterssymptome auslöst. Auch die Ursachen diverser anderer Erbkrankheiten wurden auf diese Weise aufgedeckt.

ABSTAMMUNG GUT DOKUMENTIERT

Doch Shuldiner geht es nicht um seltene Erbkrankheiten, sondern um die großen Volkskrankheiten wie Diabetes, Fettsucht oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Aufgrund von Zwillingsstudien wissen Forscher, dass diese überwiegend umwelt- und ernährungsbedingten Erkrankungen von den Genen mit beeinflusst werden. Wenn Gen-Forscher aber bei ihrer Suche nach Gen-Varianten, die Diabetes fördern, beispielsweise 2000 New Yorker untersuchen, dann variieren nicht nur die Ess- und Lebensgewohnheiten der Probanden stark. Auch ihr Erbgut spiegelt in der Regel den Multi-Kulti-Schmelztiegel wider – und in der Vielfalt geht der Effekt einzelner Gene unter wie ein Tourist im Broadway-Gewimmel. Bei den Amish hingegen ist die genetische Varianz minimal, denn die 30 000 Amish von Lancaster County stammen alle von wenigen Gründerfamilien ab. Aus Sicht der Genetiker besteht das Amish-Völkchen im Grunde aus nur etwa 50 Chromosomensätzen, erklärt Shuldiner. Und praktischerweise haben die Amish ihre Verwandtschaftsverhältnisse penibel aufgezeichnet – im sogenannten Fisher Book, das die fast vollständige Genealogie der Amish-Familien und besondere Ereignisse in Lancaster County beschreibt. Zur genetischen Einförmigkeit kommt eine große Ähnlichkeit der Lebens- und Ernährungsweise – aufgrund der strengen, selbst auferlegten Regeln des Zusammenlebens. Im Grunde haben die Amish freiwillig jene Bedingungen geschaffen, die die Forscher sonst nur im Labor für Versuchstiere herstellen können – ein Glücksfall für die Forschung.

Zunächst wollte Shuldiner nach Diabetes in der Amish-Bevölkerung fahnden. Seine Überlegung: Wenn bei den Amish die Zuckerkrankheit in einigen Familien gehäuft auftritt, dann sollten sich dort auch die dafür verantwortlichen Gen-Varianten finden lassen. Doch wie sollte er an die Amish herankommen, die allen „Englischen“ – wie sie alle Nicht-Amishen nennen – misstrauisch begegnen? Eine große Hilfe für ihn war Victor McKusick, der an der Johns Hopkins University jahrelang die Erbkrankheiten der Amish studiert hatte. Er war von Shuldiners Idee begeistert und machte den Kollegen bekannt mit Sadie, einer damals etwa 60-jährigen Amish-Frau, die schon McKusick bei seinen Besuchen von Amish-Familien begleitet hatte. Shuldiner, der aus einer jüdischen Familie mit deutsch-polnischen Wurzeln stammt, erkannte, dass er ohne Sadie nie das Vertrauen der Amish gewinnen könnte. Zum Glück mochte Sadie den jungen Forscher und machte sich sein Anliegen zu Eigen. „Außerdem konnte ich ein wenig Geld dazu verdienen“, meint sie. Also quälte sich Shuldiner monatelang um vier Uhr morgens aus dem Bett, packte Zentrifuge, Trockeneis und Testmaterial in den Kofferraum und fuhr zwei Stunden von Baltimore nach Lancaster, um dann bis abends mit Sadie von Amish-Hof zu Amish-Hof zu pilgern. „Die Kinder waren gar nicht begeistert, wenn wir auftauchten“, erinnert sich Sadie, die inzwischen 84 Jahre alt ist, „denn sie wussten, dass wir sie ‚ gicksen‘ würden.“ Sadie spricht wie alle Amish fließend Englisch, doch mitunter schlagen ein paar Worte „Pennsylvania-Dutch“ durch – ein badisch oder pfälzisch klingender deutscher Dialekt, in dem „ gicksen“ für das Piksen mit einer Spritze steht, ein Pferd nur „ Gaul“ heißt und Leberwurst „Lewwaworst“.

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Sadies Verwandte waren die Ersten, die sich bereit erklärten, für einen „Glucose-Toleranz-Test“ von einem fremden Forscher ein großes Glas Orangenlimonade mit dem Zuckergehalt von anderthalb Dosen Cola anzunehmen und zu trinken. Bleibt zwei Stunden danach der Blutzuckergehalt über einem Schwellenwert, dann steht die Diagnose Diabetes fest. Die zwei Stunden nutzte Shuldiner zum Reden, zum gegenseitigen Kennenlernen, zum Erklären und zum Beraten, wie man im Fall des Falles mit Diabetes umgeht.

Der Forscher bittet zum Picknick

An einem Abend hatte Sadie einen ganzen Zweig der Familie zusammengetrommelt, sodass Shuldiner fast 60 Amish gleichzeitig testen konnte. Wie sich herausstellte, litt eine ganze Reihe von Familienmitgliedern an der Zuckerkrankheit, ohne es zu wissen. „ Wir haben uns nie Gedanken darüber gemacht, bis ich diesen Job bekam“, sagt Sadie. Da die Amish weder krankenversichert sind noch regelmäßig zum Arzt gehen, wird Diabetes meist erst erkannt, wenn durch die langjährigen Blutzuckerschwankungen bereits Organschäden aufgetreten sind oder Blindheit droht. Inzwischen haben Shuldiners Studien dazu geführt, dass Diabetes bei den Amish früh genug erkannt und behandelt wird. Seitdem ist das Vertrauen der Amish in Shuldiners Forschungen gewachsen. „So wie Shuldiner es angepackt hat, konnte er den Weg zur Forschung ebnen“ , sagt Naomi Esh, eine weitere Amish-„Liäson“, wie die Begleiterinnen für Fremde heißen. Mit ihrer Familie ist Alan Shuldiner inzwischen so gut befreundet, dass man sich gegenseitig zu Familienfesten einlädt. Und jedes Jahr im Juni bittet der Forscher zu einem großen Picknick. „Das ist schon toll, was Shuldiner da im Alleingang aufgebaut hat“, sagt der Leipziger Genetiker Michael Stumvoll. Vor ein paar Jahren hat er den Kollegen in Lancaster besucht. Der Aufenthalt bei den Amish inspirierte ihn dazu, in Deutschland die Gene der Sorben zu studieren, die in der Lausitz aufgrund ihres slawischen Ursprungs relativ isoliert geblieben sind. Bessere Daten als die der Amish seien bestenfalls noch auf Inseln wie Island gesammelt worden, wo viele Tausend Einwohner „mit unglaublich viel Geld und einer fast gesetzlich verordneten Teilnahmepflicht“ untersucht wurden, so Stumvoll. Shuldiner wird zwar von den National Institutes of Health mit zweistelligen Millionenbeträgen unterstützt, doch sonst hält sich der Staat zurück.

BLUTABNAHME UNTERM PFLUG

„Bei den Amish ist Mundpropaganda entscheidend“, erklärt Alan Shuldiner seinen Erfolg. Man kennt ihn in Amish-Land, und er muss gar nicht mehr viel erklären. Einmal, so erzählt Shuldiner, sprach er einen Bauern an, der gerade unter seinem gebrochenen Pflug lag und ihn zu reparieren versuchte. Doch der Mann machte keine Anstalten, seine Arbeit zu unterbrechen, um sich Blut abnehmen zu lassen. „Als wir gerade gehen wollten, klappte er wortlos seinen Arm unter dem Pflug hervor, und wir konnten die Probe nehmen.“ Anders als andere Gen-Forscher, die sich nach dem Blutabzapfen nie wieder bei den Amish sehen lassen, hat Shuldiner eine Klinik in Lancaster gegründet, die Amish Research Clinic. Dort können Untersuchungen durchgeführt werden, die nicht bei den Amish zuhause möglich sind. Der Forscher lockt seine Probanden gelegentlich mit Aufwandsentschädigungen dorthin, doch für die Amish sind die kostenlosen medizinischen Untersuchungen wertvoller, da sie nicht krankenversichert sind. Eine Klinik in der Nachbarschaft bedeutet ihnen viel. „Bevor wir eine Studie starten, fragen wir uns jedes Mal, wie die Teilnehmer davon profitieren können“, sagt Shuldiner. Seine Daten zeigen bislang, dass die Amish seltener an Diabetes leiden als die übrige weiße Bevölkerung der USA. „Aber sie sind ebenso häufig übergewichtig“, sagt Shuldiner. „Sie essen viel und fett, also durchaus nicht immer gesund.“ Eine Leckerei bei jeder Festlichkeit ist beispielsweise „Schnitzpie“ – ein Mürbeteig-Gebäck, gefüllt mit Brei aus getrockneten Apfelschnitzen. Eigentlich bedeutet mehr Übergewicht auch mehr Diabetes, doch die Amish arbeiten körperlich in der Landwirtschaft und sind viel zu Fuß unterwegs. Das schütze sie zwar nicht vor Übergewicht, aber immerhin vor Diabetes, meint der Hormonspezialist. Und auch die Blutfettwerte sind trotz der typisch deutschen fettreichen Ernährung besser als in der amerikanischen Normalbevölkerung, sagt Shuldiner. Allerdings verlassen immer mehr Amish die Farmen, weil es nicht mehr genug Land zu bebauen gibt. Sie wechseln in Jobs, bei denen weniger körperliche Arbeit gefordert ist. „Vielleicht werden wir in Zukunft bei den Amish mehr Diabetes-Fälle sehen“, befürchtet der Forscher.

AN DER FRONT DER PHARMA-FORSCHUNG

Die Diabetes-Studie war nur der Anfang. Inzwischen koordiniert die Amish Research Clinic diverse Studien, die sich Erbgut und Lebensweise der Amish zunutze machen, um Antworten auf wissenschaftliche Fragen zu bekommen. In der PAPI-Studie (die Abkürzung steht für „pharmacogenetic anti-platelet intervention“) wird beispielsweise untersucht, warum Menschen auf die weit verbreiteten blutverdünnenden Medikamente Plavix und Aspirin unterschiedlich reagieren. Insgesamt 600 Amish sollen dazu jeweils eine Woche lang die Medikamente einnehmen. Am Ende werden die Blutwerte kontrolliert. Bereits nach Analyse der ersten 450 Untersuchten konnte Shuldiner ein Gen identifizieren, das den Plavix-Wirkstoff Clopidogrel je nach Variante schneller oder langsamer aktiviert. „Wir hoffen, dass das langfristig zu einem Gen-Test führt, mit dem Ärzte bestimmen können, ob Patienten eine normale oder eine höhere Dosis Plavix oder besser gleich ein anderes Medikament bekommen sollten“, sagt Shuldiner. Deshalb hat der Forscher eine Substudie an 18 Patienten begonnen – sechs davon ohne die Gen-Variante, die Plavix schnell aktiviert, sechs mit nur einer Kopie und sechs mit zwei Kopien. „Das ist auch deshalb wichtig, weil es bald eine neue teure Plavix-Variante geben soll“, sagt Shuldiner. Mithilfe des Gen-Tests könnten Ärzte die günstigen Plavix- Nachahmerpräparate in der richtigen Dosierung verschreiben. Das ist hochaktuelle Pharmaforschung – unterstützt von einem traditionellen Bauernvolk.

Welche Studie Shuldiner auch anpackt, die Amish sind erstaunlich offen und machen selbst skurrile Tests mit. So ziehen Mary Morrissey, Shuldiners Forschungsassistentin, und die Amish-Liäsons derzeit über die Höfe, um zu fragen, ob sie mit Wattestäbchen eine Probe aus der Nase nehmen dürfen. „Ich bekomme eine Menge befremdliche Blicke“, seufzt Morrissey, „aber ich bin’s gewöhnt.“ Sie lacht und erklärt, dass Shuldiner auf der Suche nach dem Bakterium „Staphylococcus aureus“ ist. Die Sekret-Proben aus 400 Amish-Nasen sollen klären helfen, ob es in manchen Familien Gene gibt, die vor dem Bakterienbefall schützen. Über 240 Nasen hat Morrissey schon testen dürfen, und sie ist sicher, auch bei den restlichen Erfolg zu haben. Denn während prüde Durchschnitts-Amerikaner Studien häufig abbrechen, die das Sammeln von Körperflüssigkeiten oder gar -ausscheidungen erfordern, halten die Amish bereitwillig auch den anderen Nasenflügel hin. „Wir haben schließlich sogar den Mann mit der Mistgabel überzeugen können“, lacht Sadie, die ihren Job als Shuldiners Liäson inzwischen jüngeren Amish-Frauen überlassen hat. „Aber wir erwarten nicht, dass jeder Amish an einer Studie teilnimmt“, sagt Mary Morrissey. Vor allem die sehr konservativen Amish südlich von Lancaster seien weniger kooperativ. Doch selbst für Studien über Mammographien finden sich genug Versuchspersonen. Insgesamt 4000 der etwa 13 000 erwachsenen Amish in der Region haben sich bereits für unterschiedliche Forschungsprojekte zur Verfügung gestellt. „Das sind mehr als sich unter uns ‚Englischen‘ bereit erklären“, sagt Morrissey.

DARMBAKTERIEN AUF DER SPUR

Auf gutem Weg ist auch die Mikrobiom-Studie, bei der die Gesamtheit aller Darmbakterien untersucht wird. „Diese Bakterien im menschlichen Darm beeinflussen, wie unser Essen verdaut wird, haben aber auch mit Entzündungsreaktionen zu tun“, erklärt Shuldiner. „Die Amish eignen sich hervorragend für eine solche Studie, weil sie einen homogeneren Lebensstil als die ‚Englischen‘ haben.“ Von 150 Amish – 50 schlank und gesund, 50 korpulent, aber gesund, 50 an Fettsucht erkrankt – müssen Morrissey und ihre Kolleginnen deshalb nun Stuhlproben nehmen. Bereits nach ein paar Wochen hatten 120 Amish das Nötige gesammelt, in Plastikkanister verpackt und im gasbetriebenen Kühlschrank aufbewahrt, bis Morrissey die Proben abholen konnte.

In der Amish-Familien-Langlebigkeits-Studie macht sich Alan Shuldiner derzeit auf die Suche nach Genen, die einige Amish besonders alt werden lassen. „Die Amish werden im Schnitt so alt wie wir, aber wir haben alle aufgestöbert, die älter als 95 sind“ , sagt er. 24 davon fanden sich unter den 13 000 Erwachsenen in Lancaster County – und alle gehören zum Stammbaum der Familie Fisher. „Das ist sehr ungewöhnlich“, sagt Shuldiner. „Was haben sie gemeinsam, das sie so lange leben lässt?“ Alte finde man leicht für Langlebigkeitsstudien, aber da gibt es ein Problem: „ Die nötigen Kontrollpersonen sind meist schon seit 30 Jahren tot.“ Shuldiner rekrutierte also die Kinder der Über-95-Jährigen, die zwischen 60 und 70 Jahre alt sind, sowie deren Partner. Er wird sie über die nächsten 10 bis 20 Jahre regelmäßig untersuchen. „ Bei den Kindern sollten Langlebigkeits-Gene angereichert sein, bei deren Partnern jedoch nicht“, hofft Shuldiner. Weil beide im gleichen Haushalt leben und sich ähnlich ernähren, sollten sich die Gen-Varianten für Langlebigkeit im Laufe der Jahre bemerkbar machen.

Auch wenn uns die Kultur der Amish fremd oder absonderlich erscheinen mag, genetisch sind sie uns nah. Es handelt sich gewissermaßen um eine Stichprobe aus der süddeutschen Gesamtbevölkerung des 18. Jahrhunderts. Denn seit sich die Amish in Pennsylvania niederließen, gab es aufgrund der zurückgezogenen Lebensweise so gut wie keinen Gen-Austausch mit anderen Einwanderern. Alle besonderen Gen-Varianten, die Shuldiner bei den Amish findet, stammen daher aus dem Mutterland der Emigranten. „Es wäre interessant zu erfahren, ob diese seltenen Mutationen auch in der übrigen deutschen Bevölkerung, vor allem natürlich in der deutsch-schweizerischen, vorhanden sind“, meint Shuldiner. Gut möglich, dass er das eines Tages überprüft. ■

SASCHA KARBERG sah zu seinem Erstaunen Solarzellen auf den Dächern vieler Amish- Häuser – Niedervolt-Spannung ist erlaubt. bdw-Fotograf VOLKER STEGER reiste nicht zum ersten Mal nach Lancaster County. Er half vor rund 20 Jahren ein paar Wochen auf einer Amish-Farm als Landarbeiter.

von Sascha Karberg (Text) und Volker Steger (Fotos)

KOMPAKT

· Die Suche nach Krankheits-Genen in der isolierten Bevölkerungsgruppe der Amish könnte bald zu neuen Gen-Tests und Diabetes-Medikamenten führen.

· Für Deutsche sind die Forschungen des amerikanischen Genetikers Alan Shuldiner besonders interessant, da die Amish ursprünglich aus Deutschland stammen.

DIE „ORDNUNG“ DER AMISH

Vorgeschrieben sind zum Beispiel:

· Farbe und Stil der Kleidung

· Hut-Stil für Männer

· Gottesdienst-Struktur

· Stahlräder an Maschinen (keine Gummireifen)

· Pferde für die Feldarbeit

Verboten sind zum Beispiel:

· Flugreisen

· Zentralheizung

· Scheidung

· Elektrizität von öffentlichen Leitungen

· Militärdienst

· Gerichtliche Klagen

· Computer, Fernsehen, Radio

· Autos

· Traktoren für die Feldarbeit

VON WEGEN ISOLIERT!

Bei der Recherche dieser Geschichte hat sich Sascha Karberg oft gefragt, warum die Amish zugunsten der Wissenschaft so große Zugeständnisse machen, obwohl sie doch isoliert vom Rest der Welt leben. Eine überraschende Antwort gab ihm Naomi Esh, eine 50-jährige Amish-Frau: „Ich habe nicht das Gefühl, dass wir isoliert sind, wir fühlen uns verbunden“, sagte sie. „Die Nicht-Amishen können gut ohne uns leben, aber wir nicht ohne sie, denn wir brauchen mehr von ihnen als sie von uns. Zum Beispiel müssen wir für alles, wofür eine höhere Bildung nötig ist, außerhalb unserer Gemeinde nach Hilfe suchen.“

Auch Gen-Forscher Alan Shuldiner hat die Erfahrung gemacht, dass die Amish zwar abgesondert leben, aber nicht abgeschottet vom Wissen der Welt. „Sie haben keine höhere Bildung, weil sie nur bis zur 8. Klasse zur Schule gehen“, sagt er. „Aber sie sind alles andere als dumm. Selbst ohne die Details zu kennen, verstehen sie genug von Vererbung, um zu wissen, dass sie möglichst keine Cousins oder Cousinen ersten Grades heiraten sollten.“ Über die Konsequenzen ihres Lebensstils musste er sie nicht extra aufklären. „Zum einen, weil sie Bescheid wissen. Zum anderen, weil schwerbehinderte Kinder, die in unserer Kultur als eine große Bürde für Familie und Gesellschaft empfunden werden, bei den Amish als Gottesgeschenke angesehen und von der Gemeinschaft verehrt werden.“

Haben die Jahre der Zusammenarbeit mit den Amish Shuldiner verändert? „Oh ja, die Amish können die Außenwelt eine Menge lehren. Die Bedeutung von Familie und Gemeinschaft ist in unserer Kultur abhanden gekommen. Ich habe mich jahrelang gewundert, warum sich die meisten jugendlichen Amish, die für eine gewisse Zeit unsere Autos und Fernseher testen dürfen, für eine Rückkehr in die Amish-Gemeinde entscheiden. Aber wer ein paar Tage bei den Amish verbringt, versteht ihre Wertvorstellungen besser. Es ist ein sehr behagliches Gefühl zu wissen, dass immer jemand da ist, der sich um einen kümmert, wenn die Zeiten hart werden, ob man nun jung oder alt ist.“

GUT ZU WISSEN: DIE AMISH

Nach 83 Tagen auf See dockte 1737 die „Charming Nancy“ im Hafen von Philadelphia an, um die erste große Gruppe der Amish in die Neue Welt zu entlassen. Die etwa 500 Siedler waren vor der Verfolgung ihrer Glaubensrichtung in Süddeutschland und der Schweiz geflohen.

Die historischen Wurzeln der Amish liegen in den Anfängen des Protestantismus, der Bewegung der sogenannten Wiedertäufer. Eine Gruppe Schweizer Protestanten um Ulrich Zwingli praktizierte erstmals 1525 die Erwachsenentaufe und lehnte die katholische Kindstaufe ebenso ab wie jegliches Schwören und die Anwendung von Gewalt. Jahrzehntelang wurden sie als Ketzer verfolgt, gefoltert und getötet. Den nach Holland geflohenen Wiedertäufern schloss sich der Mönch Menno Simons an, der so viel Einfluss auf die Bewegung nahm, dass sie bald „Mennoniten“ genannt wurden.

1693 spaltete sich eine Gruppe um den ins Elsass geflohenen Wiedertäufer Jakob Ammann ab – die „Amishen“, die die Regeln der Wiedertäufer, die „Ordnung“, besonders streng befolgten. Die Erinnerung an die Verfolgung in Europa lebt in den Exilanten weiter: Noch immer halten die Amish ihre Gottesdienste im Keller ab, und obwohl die USA die Religionsfreiheit garantieren, beschränken die Amish ihren Kontakt zur Mainstream-Kultur auf das Nötigste.

DIE SNPS DER SCHNITZPIE-ESSER

Wenn Alan Shuldiner die DNA der Amish in Händen hält, fängt die Arbeit der Molekularbiologen erst an. Da es zu teuer ist, das gesamte Erbgut Tausender Amish-Probanden zu entziffern, erstellen die Forscher nur eine Art Landkarte. Dabei dienen punktuelle DNA-Veränderungen, sogenannte SNPs (Single Nucleotide Polymorphismen, gesprochen Snips), als Markierungs-Fähnchen.

Wenn beispielsweise ein bestimmter SNP nicht bei Gesunden, aber bei vielen Diabetes-Kranken vorkommt, dann signalisiert dieser SNP, dass Shuldiner dort eine Gen-Variante finden könnte, die die Zuckerkrankheit beeinflusst. Die Forscher untersuchen rund eine Million solcher über das ganze Erbgut verteilter SNP-Fähnchen. Dazu werden DNA-Stückchen, die die SNPs enthalten, auf einem Chip aufgereiht – eine Million winzige Pünktchen aus DNA.

Die DNA eines Patienten wird vermehrt, dabei mit Fluoreszenzfarbstoffen markiert und auf den Chip gespült. Die fluoreszierenden DNA-Stückchen bleiben an der DNA auf dem Chip hängen, wenn die Basen-Abfolge der Patienten-DNA zu einer der SNP-Varianten auf dem Chip passt. Leuchtet bei diabeteskranken Amish immer der gleiche SNP-Punkt auf dem Chip auf, dann dürfte dort im Erbgut, wo der SNP herstammt, ein Gen liegen, das bei der Entstehung der Zuckerkrankheit involviert ist.

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