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DER NEUE KONTINENT IM KOPF

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DER NEUE KONTINENT IM KOPF
Wenn wir nicht ganz bei der Sache sind, tritt in unserem Kopf das neu entdeckte „Standard-Netzwerk“ in Aktion. Es hilft uns, die Zukunft zu planen.

Sie kennen sicher das Gefühl, wenn der Geist von einem Gedanken zum anderen schweift. Wenn eine Szene vom nächsten Strandurlaub aufblitzt – den Daiquiri in der Hand vor einem blauen Meer. Wenn Bilder der großen Liebe aufflammen. Wenn wir plötzlich magische Kräfte besitzen. Wenn künftige Momente des beruflichen Triumphs vorbeirauschen. Wenn das Gehirn scheinbar ziellos in ruhigen Wassern durch die Zeiten gleitet. Obwohl die Tagträumerei in westlichen Breiten keinen guten Ruf genießt, ist sie ein fundamentales Merkmal des menschlichen Geistes.

In jüngster Zeit allerdings hat sie eine neue Dimension bekommen. Denn Hirnforscher haben ein für sie zuständiges „ Standard-Netzwerk“ in unserem Oberstübchen entdeckt, das sich aktuellen Studien zufolge ab dem Säuglingsalter entwickelt. Für den Neurowissenschaftler Giulio Tononi von der University of Wisconsin ist dieser Standard-Modus ein „neuer Kontinent“ im Gehirn, eine der fundamentalen Entdeckungen der Hirnforschung der vergangenen Jahre.

Offenbar schaltet das Gehirn in einen komplett anderen Modus um, wenn es nicht im eigentlichen Sinne beansprucht wird – also etwa Probleme lösen soll oder schwierige Bewegungen koordinieren muss. Zunächst konnten Experten es gar nicht fassen, was sie bei ihren Studien mit bildgebenden Verfahren beobachteten. Bei derlei Untersuchungen liegen Menschen in Scannern, die über komplizierte Technik sichtbar machen, welche Hirnregionen bei bestimmten Aufgaben oder Gefühlsregungen auf Hochtouren laufen. Immer wenn die Probanden nicht mit der eigentlichen Aufgabe beschäftigt waren, aktivierte das Gehirn ein charakteristisches Muster von Arealen. Dieses Muster umfasst Regionen, die sich, von oben betrachtet, über die Mitte des Gehirns von vorne nach hinten ziehen – im Hinterhirn ergänzt durch seitlich liegende Gebiete. Zur Verblüffung der Forscher verbrauchen Teile dieses Netzwerkes 30 Prozent mehr Energie als alle anderen Abschnitte des Gehirns.

PERSÖNLICHE PERSPEKTIVE

Zu den Kernkomponenten des Standardsystems gehört der mediale präfrontale Cortex, der Dinge und Ereignisse als gut, schlecht oder neutral bewertet und einordnet – sozusagen von einer höheren Warte aus mit einer sehr persönlichen Perspektive. Wenn Menschen beispielsweise Adjektive aus einer Liste auswählen sollen, die ihrer Ansicht nach zu ihnen passen, springt der mediale präfrontale Cortex an. Nicht nur er, auch andere Teile des Standard-Netzwerkes sind eng verbunden mit dem Hippocampus, der für das autobiografische Gedächtnis unerlässlich ist – ob wir gestern beim Fußballspielen waren oder einen Tag am Meer verbracht haben. All dies lässt für Marcus Raichle von der Washington University in St. Louis (USA) derzeit nur einen Schluss zu: „Immer wenn sich Menschen mit sich selbst beschäftigen, aktivieren sie ihr Standard-Netzwerk.“

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Zum Beispiel beim Tagträumen, wie Malia Mason von der New Yorker Columbia University und ihre Kollegen beobachteten. Sie hatten mit der funktionellen Magnetresonanz-Tomographie die Gehirn-Aktivität von Testpersonen verfolgt. Vier Tage lang übten die 19 Probanden immer wieder die gleichen Gedächtnisaufgaben ein, die schließlich so leicht zu bewältigen waren, dass sie nicht mehr die ganze Aufmerksamkeit erforderten. So leicht, dass die Teilnehmer zu tagträumen begannen, wie sie auf stete Nachfragen der Wissenschaftler berichteten. Am fünften Tag erledigten die Probanden die Aufgabe im Hirnscanner. Ergebnis: In den Monotonie-Phasen aktivierten die Studienteilnehmer beim Tagträumen ihren Standard-Modus. Dabei galt: Je aktiver das Netzwerk, desto heftiger schweiften die Gedanken umher. Als die Forscher die Aufgabe erschwerten, schwächten sich die Signale aus dem Standard-Netzwerk ab. Derlei Beobachtungen legen nahe, „dass das Standard-Netzwerk mit der Produktion dieser Gedanken assoziiert ist“, findet Mason. Warum die Gedanken „herumwandern“? Womöglich ist das Gehirn beim Tagträumen in einer Art Stand-by-Modus. Damit wäre es sozusagen allzeit bereit für höhere Aufgaben. Oder aber der Mensch stärkt durch mentale Zeitreisen sein Gefühl für den Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das scheint alles andere als mentaler Luxus zu sein: Denn aus der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen, ist elementar für die menschliche Existenz. So elementar, dass das Gehirn den Zustand so oft wie möglich „hochfährt“. So elementar, dass sich das Netzwerk von Geburt an entwickelt, wie chinesische Wissenschaftler berichten. Im Alter von zwei Tagen, zeigen die Aufnahmen mit der funktionellen Magnetresonanz-Tomographie, ist es nur rudimentär ausgebildet, doch schon zwei Jahre später ähnelt es langsam dem Netzwerk eines Erwachsenen. Offenbar sind der „posteriore cinguläre Cortex“ und der benachbarte „ retrospleniale Cortex“ entscheidende Knotenpunkte, von denen aus das System reift. Sie sind an der Verarbeitung von Emotionen und an Gedächtnisfunktionen beteiligt, ebenso an Vorstellungskraft und Zukunftsplanung – und auch beim Fantasieren. Das Netzwerk selbst bezeichnet Neurowissenschaftler Raichle, einer der Pioniere der funktionellen Bildgebung, als wesentlich für die Organisation des Gehirns: „Der Knotenpunkt aller Knotenpunkte im Gehirn ist das Standard-Netzwerk.“

GESTÄRKTes GEDÄCHTNIS

Für derlei Annahmen spricht die Tatsache, dass das Standard-Netzwerk selbst bei narkotisierten Affen und in frühen Schlafphasen beim Menschen aktiv ist. Chinesische Wissenschaftler gehen nach jüngsten Studien sogar davon aus, dass Gedächtnisinhalte in Tagtraum-Phasen durch das Standard-Netzwerk gestärkt werden, wie es bekanntlich im Schlaf geschieht. All das passt gut zu Erkenntnissen von Forschern der Harvard University. Nach deren Ansicht schwindet die kognitive Leistungskraft im Alter, weil große Netzwerke im Gehirn unkoordiniert und ungenügend miteinander kommunizieren. Die Harvard-Psychologin Jessica Andrews-Hanna und ihre Kollegen verglichen die Hirnaktivität jüngerer Menschen (18 bis 34 Jahre) mit der von älteren (60 bis 93 Jahren), als diese entweder ruhten oder bestimmte Aufgaben erledigten. Mit komplexen Rechenverfahren verglichen die Forscher die Koordination der beteiligten Netzwerke und fanden eine „drastische Reduktion“, wie Andrews-Hanna sagt, bei etwa der Hälfte der älteren Probanden, die die schwächsten Leistungen in Tests erbrachten. Betroffen waren vor allem: das Standard-Netzwerk und ein System, das die Konzentration auf eine Aufgabe fördert. Beide Netzwerke „feuern“ normalerweise zu unterschiedlichen Zeiten, bei kognitiv schwächeren Senioren sind sie hingegen gleichzeitig aktiv. Vermutlich tragen solche Defizite dazu bei, dass viele ältere Menschen die Dauer und das Einsetzen ihrer Tagträume nicht mehr ausreichend kontrollieren können. „Es ist wichtig, das Standard-Netzwerk zur rechten Zeit zu benutzen“, erklärt die Harvard-Forscherin. „Wenn man sich konzentrieren muss, darf der Geist nicht umherwandern.“

Angesichts der zentralen Rolle des Standard-Netzwerks wundert es kaum, dass es an bekannten Hirnerkrankungen beteiligt zu sein scheint. „Die Alzheimer’sche Erkrankung steht ganz oben auf der Liste“, sagt Marcus Raichle. Tatsächlich sind von den rätselhaften Ablagerungen degenerierter Proteine (Amyloid) vor allem die Regionen des Standard-Netzwerks betroffen. „Wirklich bemerkenswert“ findet der Neurowissenschaftler das Ablagerungsmuster: „Wie ein Abbild.“ Autistische Menschen hingegen erleben in geistigen Ruhephasen keine Tagträume und können daher ihre Eindrücke nicht ausreichend verarbeiten – was nach Ansicht einer Forschergruppe um Neurowissenschaftler Daniel Kennedy von der University of California in San Diego eine der Ursachen der Krankheit sein könnte. Sie hatten 15 gesunde Menschen und 15 Autisten in den Hirnscanner gelegt. Dabei sollten sie leichte Rechenaufgaben lösen und dann wieder ohne Aufgabe in Ruhe verharren. Resultat: Die gesunden Probanden aktivierten in den Pausen ihr Standard-Netzwerk. Erst als sich die Testpersonen wieder auf ihre Aufgabe konzentrieren mussten, unterdrückten ihre Gehirne diese Aktivität. Autisten hingegen blieben auch in vermeintlichen Entspannungsphasen fokussiert und ihr Standard-Netzwerk stumm. Ihr Gehirn hatte also nicht die Chance, Gefühle zu verarbeiten und über die Ereignisse des Tages zu reflektieren.

ZWISCHEN WAHN UND WAHRHEIT

Ganz anders bei der Depression, bei der sich die Patienten immer wieder ums eigene Ich drehen und aus der Selbst-Reflexionsmühle nicht mehr herauskommen. Eine von Marcus Raichles neuen Studien zeigt: „Depressionen zeichnen sich dadurch aus, dass das Standard-Netzwerk nicht herunterreguliert werden kann.“ Ähnliches erleben Patienten mit Schizophrenie. Das könnte erklären, warum sie nicht klar zwischen Realität und Imagination unterscheiden können. ■

KLAUS WILHELM hängt der Tagträumerei am liebsten beim Warten nach – und verzichtet dazu absichtlich auf Spielereien am Handy.

von Klaus Wilhelm

Kompakt

· Das Standard-Netzwerk im Gehirn ist immer dann aktiv, wenn Menschen sich mit sich selbst beschäftigen oder vor sich hin träumen.

· Wie wichtig dieses Netzwerk für unseren Geist ist, zeigt sich daran, dass es sich schon beim Baby entwickelt.

· Beim Lösen von Testaufgaben schneiden Menschen besser ab, die die Tagträumerei gut abschalten können.

ZWISCHEN TAG UND TRAUM

Ob wir lesen, eine Konferenzen verfolgen oder TV schauen – der scheinbar konzentrierte Geist gleitet weg von der eigentlichen Beschäftigung und wandert umher. „Wie oft das passiert, hat uns überrascht“, sagt Jonathan Schooler, der das Phänomen systematisch untersucht. Beim Lesen etwa sind wir bis zu 20 Prozent der Zeit nicht bei der Sache. Der Psychologe von der University of California in Santa Barbara ließ College-Studenten Passagen aus Tolstois „Krieg und Frieden“ vortragen. Immer wenn die Teilnehmer bemerkten, dass ihr Geist abdriftete, sollten sie einen Knopf drücken. Das geschah zwar häufig, aber noch überraschender war: Wenn die Forscher die Studenten plötzlich unterbrachen und fragten, woran sie gerade dachten, erwischten sie diese regelmäßig geistesabwesend – ehe die Studenten es selbst merkten. „In gewisser Weise ist dieses Gedanken-Wandern zielgerichtet“, erklärt Schooler – nicht auf die eigentliche Aufgabe, aber auf mittel- und langfristige Ziele und Wünsche. In dieser Situation ist im Gehirn das Standard-Netzwerk aktiv, aber auch ein Netzwerk, das wir für die eigentliche „Primär-Aufgabe“ brauchen, hat ein Team um Schooler erstmals festgestellt. Der Forscher berichtet von wundersamen Dingen: In einer Art „ Meta-Bewusstsein“ realisieren manche Menschen, dass ihr Geist gerade wandert. Am stärksten gerät die ungewollte Tagträumerei, wenn man sich ihrer nicht bewusst ist.

Am kreativsten sind allerdings Menschen, die das Meta-Bewusstsein nutzen können. „Geist-Wandern allein genügt nicht“, erklärt Schooler. „Die Kunst ist es, dabei soviel Bewusstsein zuzulassen, dass man einen kreativen Gedanken förmlich abschöpfen kann.“ Alkohol dient diesem Zustand übrigens nicht, wie der Wissenschaftler gezeigt hat. Im Gegenteil: Zwar schweift nach einem Glas Wein der Geist häufiger ab als üblich. Aber: Man merkt es kaum.

DAS STANDARD-NETZWERK IM GEHIRN

Wenn Sie innerlich abschalten, tritt automatisch Ihr Standard-Netzwerk in Aktion. Dazu gehören die hier violett eingezeichneten Hirn-Areale. Zum Vergleich: Bei konzentrierter Aufmerksamkeit auf optische Reize sind die blauen Hirngebiete aktiv.

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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