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GLIA MACHT SCHULE

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GLIA MACHT SCHULE
Wiener Schüler entwickeln ein Gerät, das den Gleichklang von Nervenzellen im Gehirn messen kann. Inspiriert hat sie ein Artikel aus bild der wissenschaft.

Nervös rutscht der Proband auf seinem Stuhl hin und her. Unzählige Kabel sprießen aus seinem Kopf: Er trägt eine Elektrodenkappe. Derweil treffen die fünf Wissenschaftler die letzten Vorbereitungen für das Experiment. Der augenscheinlich älteste der Forscher hebt die Hand. Es kann losgehen: Klassische Musik ertönt, die Versuchsperson bekommt ein blaues Plakat gezeigt. Gespannt verfolgen die Fünf die zuckende Linie auf dem Oszilloskop. Zweifelsohne, hier wird geforscht. An der Höheren Technischen Lehranstalt (HTL) Ottakring in Wien wird untersucht, was geschieht, wenn mehrere Sinnesreize gleichzeitig auf das Gehirn einwirken. Dominik Grafl, Nikola Maric, Bernhard Wallner und Alexander Zimmel sind jedoch weder Doktoranden noch frisch gebacke-ne Universitätsabsolventen, sondern Schüler der 13. Klasse kurz vor der Abschlussprüfung. Zusammen mit ihrem Lehrer Wolfgang Gerlitz bauen sie ein Gerät, mit dem sie eine Theorie aus der Hirnforschung überprüfen wollen.

bild der wissenschaft stellte diese Theorie in der September-Ausgabe 2008 vor („Neue Stars am Hirnforscherhimmel“). Der Artikel handelte von einem Zelltyp in unserem Kopf, der sowohl für das menschliche Bewusstsein als auch für die Verarbeitung kognitiver Reize verantwortlich sein soll – eine Sensation in der Hirnforschung. Die Wissenschaftler hatten den sogenannten Gliazellen bis vor ein paar Jahren nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt, man hielt sie für eine Art Nervenkitt. Dabei sind die Gliazellen weit mehr als bloßes Füllmaterial in unserem Kopf, wie sich immer klarer herausstellt. Insbesondere die Astrozyten, die mit 80 Prozent den größten Anteil der Gliazellen stellen, haben es in sich: Je mehr der sternförmigen Zellen ein Tier besitzt, desto intelligenter ist es, vermuten Wissenschaftler. Beim Menschen bilden Astrozyten ein Kommunikationsnetz quer durchs Gehirn. Dieses Netz könnte dabei helfen, komplexe Sinneseindrücke bewusst zu machen – und genau diese Theorie wollen die Wiener Schüler auf den Prüfstand stellen.

Die Schüler hatten sich anfangs generell für das Gehirn und insbesondere für das Bewusstsein interessiert. Deswegen begannen sie, zunächst ohne Zutun eines Lehrers, aktuelle Forschungsergebnisse zu recherchieren. Dabei stießen sie auf den bild der wissenschaft-Artikel. Danach erst suchten sie sich einen Betreuer in der Lehrerschaft – und fanden ihn in Wolfgang Gerlitz. „Nach meinem Ingenieurstudium habe ich zusätzlich ein Medizinstudium absolviert“, erklärt der 57-Jährige: Damit war er der perfekte Kandidat, um die Schüler bei ihrer Diplomarbeit zu unterstützen.

10 Stunden extra pro woche

Doch an welcher Schule können Jugendliche ein Diplom erwerben? Die HTL-Ottakring ist keine gewöhnliche Schule, sondern hat den Schwerpunkt auf technischen Disziplinen. Die österreichischen HTLs sind in Deutschland am ehesten mit naturwissenschaftlich-technischen Gymnasien zu vergleichen. Mit dem Unterschied, dass die Schüler in Österreich die Möglichkeit haben, sich für eine spezielle Fachrichtung zu entscheiden: In Wien kann gewählt werden zwischen Elektrotechnik, Elektronik, Informationstechnologie, Maschinenbau und Computertechnik. Neben gewöhnlichen Fächern stehen dann – je nach Vertiefung – Hochfrequenztechnik, Bildgebende Systeme oder Regelungstechnik auf dem Stundenplan. Ab der 8. Klasse können österreichische Schüler an eine solche höhere technische Lehranstalt wechseln. Nach fünf Jahren gibt es die Matura, vergleichbar mit dem deutschen Abitur. Besonders gute Schüler haben zusätzlich die Chance, eine Diplomarbeit anzufertigen und den Titel Diplom-HTL-Ingenieur zu erwerben. Damit sind sie „gewöhnlichen“ Ingenieuren gleichgestellt und können sich um dieselben Stellen bewerben.

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Der Lernaufwand an einer HTL ist enorm. Zusätzlich zum sowieso schon anspruchsvollen Pensum kam bei den vier Schülern nun noch ihr Projekt hinzu. „Pro Woche haben wir bis zu zehn Stunden an unserer Diplomarbeit gearbeitet“, erklärt Dominik Grafl. Das sei manchmal ziemlich anstrengend gewesen. Die Vier besuchten einführende Seminare zur Medizintechnik, zu Gehirn und Nervensystem sowie zum Stand der aktuellen Hirnforschung. „Die Freizeit musste in der heißen Projektphase schon mal leiden“, erklärt Grafl. Aber er bereue es nicht, sondern habe viel gelernt, was ihm in seinem Studium zugute kommen werde. Alle vier wollen möglichst schnell studieren – hoch im Kurs stehen Elektrotechnik und Maschinenbau. Das Gerät, mit dem die Schüler die Hirnaktivitäten ihrer Versuchspersonen vermessen, haben sie selbst entwickelt, weil es auf dem Medizinmarkt kein geeignetes Instrument für ihre Fragestellungen gab. „Es ist derzeit noch ein Prototyp“, sagt Grafl. „Gliasync“ haben die Schüler ihre Erfindung getauft. Ein wichtiger Teil von Gliasync ist die Elektrodenhaube, mit der die EEG-Signale gemessen werden. Das Signal wird verstärkt und in einem sogenannten Codec digitalisiert. Im nächsten Schritt transformiert ein von den Schülern geschriebenes Programm das Signal, sodass es schließlich auf dem Oszilloskop als grüne Spektrallinie erscheint.

„Habt ihr den Ausschlag bei 40 Hertz gesehen? Das ist der Beweis!“, ruft Alexander Zimmel. Offensichtlich ist im Gehirn der Versuchsperson bei der Wahrnehmung der unterschiedlichen Reize (Musik und Plakat) etwas passiert: Die Nervenzellen in verschiedenen Regionen haben sich gleichgeschaltet. Die Synchronisationsfrequenz von Nervenzellen liegt bei etwa 40 Hertz, also im Gamma-Wellenbereich, wie die Elektrophysiologen sagen. „Liegt eine mangelnde Synchronisation in einem Nervenzellverband vor oder ist diese nur schwach ausgeprägt, handelt es sich eventuell um eine Störung des Gehirns“, erklärt Lehrer Gerlitz.

KOPF FÜR DIE Wissenschaft

Eine schlechte Synchronisation von Nervenzellen kommt beispielsweise bei neuronalen Krankheiten wie Parkinson oder Epilepsie vor, und auch bei Menschen, die unter Schizophrenie leiden. Das Gliasync-Gerät könnte also künftig bei der Diagnose solcher Krankheiten helfen. Bis es allerdings in den Klinikalltag Einzug hält, wird es noch eine ganze Weile dauern. Denn es hat sich noch kein Chefarzt oder Forscher gemeldet, der sich dafür interessiert, den Prototyp weiterzuentwickeln. In der Zwischenzeit dürfen Mitschüler und Lehrkräfte weiter ihren Kopf für die Wissenschaft hinhalten. ■

von Dominik Rösch

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