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Kernenergie:Im Karussell der Meinungen

Technik|Digitales

Kernenergie:Im Karussell der Meinungen
Nach dem Ausstiegsbeschluss der rot-grünen Bundesregierung schien die Kernenergie in Deutschland erledigt. Doch das Stimmungsbarometer schlägt um.

Heiter blickt Bundesumweltminister Jürgen Trittin von der Grußwortseite der Broschüre „Umweltbewusstsein in Deutschland 2004″. Der Vollstrecker des 2000 beschlossenen Ausstiegs aus der Kernenergie kann da noch frohlocken: Seine Erzfeindin Kernenergie hat in einer Umfrage des Ministeriums, vorgestellt im Innenteil der Broschüre, schlechte Noten gekriegt.

„Persönlich empfundene Risiken für sich und Ihre Familie“ sollten die Befragten aus einer Liste wählen – und sie setzten „ Atomkraftwerke und radioaktiver Müll“ 2004 erneut an die Spitze: 59 Prozent beurteilten beides als „äußerst“ oder „sehr gefährlich“ . Zur Wahl standen noch: Klimaveränderung durch Treibhauseffekt (53 Prozent), Gentechnisch veränderte Lebensmittel (51 Prozent), Verschmutzung der Gewässer (31 Prozent) und Luftverschmutzung durch Autos (29 Prozent). Die Studie erstellten das Marburger Institut für Erziehungswissenschaften und das Meinungsforschungsinstitut TNS Emnid in Bielefeld.

Ebenfalls von TNS Emnid, und auch aus dem Jahr 2004, stammt eine Umfrage über die Einstellung der Deutschen zur Energieversorgung. Klaus-Peter Schöppner, Chef des Instituts, reportierte die Ergebnisse am 11. September 2004 in der Tageszeitung „Die Welt“. Die Resultate lesen sich als krasser Widerspruch zu denen der erstgenannten Umfrage:

• Zum ersten Mal hätte es 2004 die relative Mehrheit der Deutschen – 49 Prozent – richtig gefunden, wenn der Ausstiegsentscheid wieder rückgängig gemacht würde.

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• Ebenfalls erstmals wollte mit 52 Prozent die Mehrheit der Deutschen künftig auf einen Kernenergie-Anteil im Energie-Mix nicht verzichten. Noch 2003 hatte sich die Mehrheit einen Mix ohne Kernenergie gewünscht.

Bizarr: Einerseits als „größtes persönliches Risiko“ empfunden – andererseits als weiter genutzte Energiequelle erwünscht? Klaus-Peter Schöppner bringt beides unter einen Hut: „Ich sehe nicht, dass sich das Risiko-Empfinden gegenüber der Kernenergie geändert hat. Was sich gewandelt hat, ist die Bereitschaft, diese Energiequelle trotzdem zu akzeptieren – und zwar aus stark rationalen, finanziellen Motiven: Die Kernenergie hat das Image, kostengünstig zu sein.“ Schöppner stützt diese Deutung mit einem Detailergebnis der Studie: 61 Prozent der befragten Deutschen würden sogar einer stärkeren Nutzung der Kernenergie zustimmen – sofern dies den Strompreis konstant hielte.

„Seit Frühjahr 2004 hat sich die mentale Lage der Deutschen stark verändert“, liest der Umfragen-Experte aus seinen Daten. „ Sie empfinden so viel Unsicherheit wie nie zuvor über die wirtschaftliche Lage und ihre persönlichen Perspektiven. Da verdrängen sie ihre Emotionen zur Kernenergie und sind offen für eine neue – und diesmal kostenbezogene – Energiedebatte.“

Einen Generationenwandel vermutet gar Rolf Linkohr, Gründer der Europäischen Energiestiftung und bis 2004 SPD-Europa-Parlamentarier: „Die Folgekosten des Ausstiegs werden an den Strompreisen sichtbar – und Braunkohle- und Kernkraftwerke können nun mal am günstigsten Strom produzieren. Das sieht die junge Generation in Deutschland heute sehr pragmatisch und viel nüchterner als die politisch bewegte Generation ihrer Väter.“

Einen Einstellungswandel bei den jungen Leuten stellt auch Kurt Kugeler fest. Der gelernte Ingenieur, Lehrstuhlinhaber für Sicherheitsforschung und Reaktortechnik an der RWTH Aachen, bezeugt: „Die Studentenzahlen in Reaktortechnik sind mächtig gestiegen. Im vergangenen Semester haben wieder rund 30 Studierende die Pflichtvorlesungen in Reaktortechnik belegt. Sogar in den Siebzigerjahren sind es nur etwa 20 gewesen, während der Talsohle in den Neunzigerjahren nur 5 oder 6.“

Pure Neigung? Oder berechtigte Hoffnungen auf einen Brotberuf – trotz des deutschen Ausstiegsbeschlusses? „Beides“, sagt Kugeler. „Viele junge Leute glauben den Schönredereien über die regenerativen Energiequellen nicht mehr und wollen sich ein eigenes Bild von der Kerntechnik machen. Und es hat sich herumgesprochen, dass dort gute Chancen auf Einstellungen bestehen.“ Dass die Arbeitsplätze zum größeren Teil im Ausland angesiedelt sein werden, schreckt die Studenten nicht ab.

Doch auch in Deutschland werden Kerntechniker gesucht. Zum Beispiel beim größten Kernkraftwerksbauer hierzulande, der Framatome ANP in Erlangen: 2001 ist dieses Unternehmen durch Zusammenlegung der Nuklearbereiche von – vormals – Siemens KWU und der französischen Framatome entstanden. 2004 verzeichneten die fünf deutschen Standorte des Unternehmens 160 Neueinstellungen – 30 Prozent mehr als im Jahr zuvor. „Dahinter steckt zwar zum Teil der Ersatzbedarf für Kollegen, die in den Sechzigerjahren ins Unternehmen eingetreten sind und jetzt die Altersgrenze erreicht haben“, erläutert Unternehmenssprecher Christian Wilson. „Doch 17 Prozent der Neueinstellungen 2004 sind über 40-Jährige gewesen, die als Erfahrungsträger neue Projekte angehen sollen.“

Das aktuellste, drei Milliarden Euro schwere Großprojekt unter Federführung der Framatome ANP ist „Olkiluoto 3″ auf einer Halbinsel an der finnischen Südwestküste: das erste Exemplar der neuen Reaktor-Generation EPR (Europäischer Druckwasser-Reaktor) und gleichzeitig der erste Kernkraftwerks-Neubau in Westeuropa seit der Katastrophe von Tschernobyl 1986.

2002 hatte das Parlament in Helsinki den Bau dieses fünften finnischen Reaktors beschlossen. Im Frühjahr 2005 begannen die Bauarbeiten, ab 2009 soll der Routinebetrieb anlaufen. Im nordfranzösischen Flamanville wird Framatome ANP danach den zweiten EPR errichten, als Vorläufer für den Ersatz des gesamten französischen KKW-Parks in den kommenden Jahrzehnten.

Ist auch in Deutschland der Neubau eines Kernkraftwerks denkbar? „Das kann ich mir nicht vorstellen“, schüttelt Gerd Eisenbeiß den Kopf. Er ist Mitglied des Vorstands im Forschungszentrum Jülich und dort für Energie- und Materialforschung verantwortlich. Eisenbeiß ist nach 30 Jahren Erfahrung in Forschungsmanagement und Energiepolitik vom Nutzen der Kernenergie überzeugt, und er findet den Umgang mit ihr verantwortbar. Doch er ist Realist: „Man kann keine Technik durchdrücken, die auf tief sitzende Ängste der Bevölkerung trifft.“

Es wurmt ihn allerdings schon: „Wir sind in Deutschland in Forschung und Entwicklung von unserer früheren Welt-Spitzenposition fast in die Bedeutungslosigkeit zurückgefallen.“ Was von der rot-grünen Bundesregierung gewollt war: Seit dem Ausstiegsbeschluss 2000 dürfen mit öffentlichen Mitteln keine kerntechnischen Forschungs- und Entwicklungsprojekte mehr gefördert werden.

Stattdessen gediehen, begünstigt durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz vom April 2000, die Solar- und die Windenergie. 2004 stammten etwa 10 Prozent der deutschen Jahresproduktion an elektrischer Energie aus regenerativen Quellen, 1999 waren es 4 Prozent. Finanziert wurde dieser Zuwachs über die Stromrechnungen für Privathaushalte und Industrie.

Nach einer neuen Studie der Deutschen Energie-Agentur (dena) wird durch den Ausbau der Windenergie bis 2015 jeder Privathaushalt in Deutschland zusätzlich mit rund 0,4 Cent pro Kilowattstunde (ohne Mehrwertsteuer) belastet. Für einen durchschnittlichen Zwei-Personen-Haushalt mit einem Jahresverbrauch von 3600 Kilowattstunden ergibt das eine Mehrbelastung von jährlich 14,40 Euro. Für intensive industrielle Stromverbraucher, etwa aus der Zementindustrie oder der Metallverhüttung, kann sich der Mehraufwand zu einigen Millionen Euro pro Jahr summieren.

Dass aus den 10 Prozent Anteil regenerativer Energie in ein paar Jahrzehnten 25 oder 50 werden, hält Eisenbeiß für ausgeschlossen: Selbst nach extensivem Bau von Offshore-Windparks im Meer werde die Windenergie maximal 15 bis 20 Prozent zum deutschen Bedarf an elektrischer Energie beitragen können – und das für einen immer höheren Preis. „Der Ausbau der Windenergie, erst recht in Gestalt von Windparks in Nord- oder Ostsee, kostet mehr und mehr. Ich bezweifle, dass das auf Dauer von den Bürgern akzeptiert wird“, sagt Eisenbeiß, der sich durchaus für erneuerbare Energien einsetzt und als Regierungsbeamter Ende der Achtzigerjahre die ersten 200 Megawatt an Windenergie-Kapazität auf den Weg gebracht hat.

Zwei Kardinalfragen sieht er über der deutschen Energiepolitik der Zukunft stehen:

• Wie entwickelt sich der Arbeitsmarkt? Werden der Staat – durch steigende Steuereinnahmen – und die Bürger – durch ihre Löhne und Gehälter – genug Geld in der Hand haben, um den Ausbau regenerativer Energien weiter finanzieren zu können?

• Wird Deutschland weiterhin weltweit die Lokomotive der Klimapolitik spielen wollen – und wird Europa folgen? „Die südeuropäischen Länder Italien, Spanien und Portugal reißen beim CO2-Ausstoß gewaltig nach oben aus“, sagt der Jülicher. „Das kompensiert genau die CO2-Einsparungen, die Deutschland und Großbritannien erzielen. Werden die deutschen und die britischen Bürger dieses Spiel ewig mitmachen?“

Aus Eisenbeiß‘ Sicht drängt sich die Perspektive auf: „Keine Energietechnik wird die allein seligmachende sein – wir Europäer werden sie alle brauchen.“ Die Kernenergie schließt er dabei ausdrücklich ein.

Von einer „Renaissance“ dieser Energietechnik zu sprechen, hält er für unzutreffend: „Für eine Wiederauferstehung müsste jemand ja tot gewesen sein – und das war und ist die Kernenergie in Europa und weltweit nicht.“ Die World Nuclear Association verzeichnete im Juli 2005 weltweit 439 Kernreaktoren in Betrieb (1995: 430 Reaktoren), 17 davon in Deutschland. 25 Reaktoren waren weltweit in Bau – darunter jedoch einige Altprojekte mit unklarem Status –, 39 sind in Planung.

Besonders in Asien legt die Kernenergie kräftig zu. Im Juli 2005 waren in Indien 14 Reaktoren in Betrieb und 9 in Bau. China, von Energiedurst geplagt, will bis 2015 seine derzeit 9 laufenden und 2 in Bau befindlichen Kernkraftwerke um 8 weitere aufstocken. Besonderes Interesse haben die chinesischen Planer an Modulen des Hochtemperatur-Reaktors (HTR) mit je 200 Megawatt elektrischer und 600 Megawatt thermischer Leistung – in Deutschland entwickelt, aber künftig voraussichtlich von Unternehmen in Frankreich und Südafrika angeboten. Langfristig will China selber HTR-Kraftwerke anbieten.

Doch wie geht es zwischen Nordkap und Sizilien weiter? Wie lässt sich das Ziel Klimaschutz mit dem Ziel einer sicheren Energieversorgung Europas vereinbaren? „Meines Erachtens“, sagt Eisenbeiß, „funktioniert dieser Spagat nur mit einer Doppelstrategie: Erstens muss man die fossilen und nuklearen Kraftwerke sauberer beziehungsweise sicherer machen sowie zweitens erneuerbare Energiequellen billiger.“ Und er ergänzt: „ Was die Zukunft der Kernenergie betrifft, sehe ich für Europa nur eine gesamteuropäische Lösung. Neue Reaktoren können in jedem beliebigen Land stehen. Es existiert ja schon seit Jahren ein europäisches Verbundnetz, in das der Strom aus den meisten Kraftwerken der EU-Länder eingespeist wird.“

Über Staatsgrenzen hinweg agieren längst die großen Energieversorgungs-Unternehmen – auch die deutschen. Nationale Alleingänge in Sachen Kernenergie können daher nur demonstrativen Charakter haben. „Wo welches Kernkraftwerk steht, ist heute belanglos“, argumentiert der Jülicher Experte und stellt amüsiert fest: „Italien ist lauthals anti-nuklear, importiert aber jährlich fast 50 Terawattstunden – ein Sechstel seines Bedarfs an elektrischer Energie – aus dem ,Atomstromland‘ Frankreich.“

Ein Einzelfall von Heuchelei? Durch die Energiebranche geistert eine Information. Danach trägt sich gerade ein namhafter, in Deutschland ansässiger Energieversorger mit konkreten Plänen, in Polen ein Kernkraftwerk zu errichten. Das strategische Ziel: Stromkunden im deutschen Markt. Thorwald Ewe ■

Ohne Titel

Kernkraftwerke – und besonders der in Deutschland entwickelte Hochtemperaturreaktor HTR – sind potenzielle Kandidaten, um ab etwa 2030 auch den Verkehrssektor mit neuem Kraftstoff zu versorgen: mit Wasserstoff.

Er könnte langfristig das zur Neige gehende Öl ersetzen. Wer allerdings auch im Verkehrsbereich das Treibhausgas Kohlendioxid vermeiden will, das in den Verbrennungsmotoren entsteht, muss den Wasserstoff CO2-frei erzeugen, also nicht durch so genannte Dampfreformierung aus Erdgas.

Stattdessen könnte der Wasserstoff künftig in Elektrolyseuren entstehen, in denen elektrischer Strom Wasser spaltet. Der dazu benötigte Strom lässt sich jedoch CO2-frei nur aus erneuerbaren Energien bereitstellen – oder aus Kernenergie. Ein Hochtemperaturrektor wie der HTR bietet ergänzend die Möglichkeit, Wärme im Bereich von 1000 Grad Celsius zu liefern und damit Wasserstoff sogar ohne den Umweg über Strom zu erzeugen.

„Wasserstoff für den ölabhängigen Verkehr – das ist längerfristig vernünftig“, sagt der Energieexperte Gerd Eisenbeiß, Mitglied des Vorstandes im Forschungszentrum Jülich. Er kritisiert aber Ideen einer umfassenden Wasserstoffwirtschaft, wie sie von US-Präsident George W. Bush und dem vormaligen Präsidenten der EU-Kommission Romano Prodi propagiert worden sind (bild der wissenschaft 3/2004, „Im Paradies wird’s teuer“ ).

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