Stirnrunzeln: Auf dem Foto ist angeblich eine Giraffe zu sehen. Dann finde ich sie: Ihre Füße stehen fast auf dem unteren Bildrand, ihre Knochenzapfen berühren fast die obere Kante – und trotzdem ist das Tier kaum zu erkennen. Der Grund: Sandfarbenes Gestrüpp, bräunlicher Boden, und mitten in diesem Farben- und Formenwirrwarr steht ockerig und braunbeige das gemusterte Riesentier und schaut einem direkt in die Augen. Es ist fast perfekt getarnt. Ähnlich gründlich haben sich die übrigen Tiere in diesem Bildband fast unsichtbar gemacht. Der Bengaltiger zwischen Blättern und Lianen, der Gecko, der über die gleichfarbene Baumrinde kriecht, die Sattelrobbe im Eis. Das Weißschwanz-Schneehuhn hockt fast unkenntlich zwischen Steinen und Moosen. Und der Gabelbock streckt uns sein Hinterteil zu – es ist so weiß wie der Schnee, weshalb das ansonsten braune Tier nur schwer zu sichten ist. Der Fotograf Art Wolfe hat in diesem Buch virtuos zwei Dinge verknüpft: Inszenierung und Versteck. Es sind tierische Kunstwerke entstanden, die wortlos eine Grundregel der Evolution vor Augen führen: Wer sich vor Fressfeind und Beute zu tarnen versteht, hat im Kampf ums Überleben die besseren Karten. Urs Willmann, Die Zeit