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IM FELLBOOT NACH AMERIKA

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IM FELLBOOT NACH AMERIKA
„Clovis first” ist tot. Die Ikone der amerikanischen Besiedlungstheorien ist begraben – aber das Kriegsbeil um die Frage „Wer war wann zuerst in der Neuen Welt?” noch nicht. Die ersten Paläo-Indianer kamen wohl übers Wasser.

DER 25. MÄRZ 2011 wird als Wendepunkt in die Annalen der amerikanischen Geschichte eingehen – präziser: der amerikanischen Vorgeschichte. Denn an diesem Tag erschien im Fachblatt „Science” der Bericht des Teams um Michael Waters von der Debra L. Friedkin Site. Das ist eine Fundstätte im staubigen Herzen von Texas, etwa 100 Kilometer nördlich von Austin. Seit Jahren schon tasten sich hier Ausgräber unter Federführung von Waters – Archäologe an der Texas A&M University – mit Pinsel und Pinzette in die Prähistorie ihres Kontinents hinab. Die Sedimente in der Nähe eines Bachbetts („Buttermilk Creek Complex”) haben in mehreren Schichten die Relikte indianischer Ureinwohner bewahrt – je tiefer, desto älter. Auch eine Clovis-Kulturschicht ist dabei, 12 000 bis 13 000 Jahre alt. „Aber der Hammer”, freut sich Waters, „ war die Entdeckung von fast 16 000 Artefakten unterhalb des Clovis-Horizonts.”

„Clovis first” hieß jahrzehntelang das zum Kürzel verdichtete Dogma. Es besagte: Die ersten Menschen auf amerikanischem Boden gehörten der sogenannten Clovis-Kultur an. Sie kamen zu Fuß aus Sibirien, und das vor frühestens 13 200 Jahren. In nur wenigen Hundert Jahren, so dachte man weiter, hätten sie den ganzen Doppelkontinent bevölkert. Dieses Dogma wurde von seinen Anhängern mit Zähnen und Klauen verteidigt – auch wenn es jüngst zunehmend wankte. Doch die Forscher um Michael Waters brachten es jetzt krachend zum Einsturz: „Unsere Artefakte wurden auf ein Alter von 15 500 Jahren datiert. Es sind die ältesten nicht nur in Texas, sondern in ganz Nordamerika.”

2300 JAHRE VOR DER CLOVIS-KULTUR

Um mehr als zwei Jahrtausende also haben die Ausgräber die früheste Besiedlung Nordamerikas vorverlegt. Die meisten der fast 16 000 „Artefakte”, von denen Waters spricht – das ist Archäologen-Slang für „von Menschenhand erzeugte Objekte” – sind Abfall: Splitter, die beim Zurechthauen und Nachschärfen von Feuersteinklingen und Speerspitzen entstanden. Aber es sind mehr als 50 komplette Steinwerkzeuge dabei. Sie unterscheiden sich in der Machart deutlich von den Clovis-Werkzeugen in der Schicht darüber, haben aber auch gemeinsame Züge, beispielsweise die Abschlagstechnologie. Zwei Jahrtausende sind eine Menge Zeit, sinniert Waters: Die Menschen vom Buttermilk Creek Complex „ könnten mit Stein experimentiert und später die Werkzeuge und Waffen erfunden haben, die wir heute als ,typisch Clovis‘ erkennen”.

Der Name stammt von erstmals in den 1930er-Jahren bei Clovis/New Mexico gefundenen Speerspitzen, den „Clovis points”. Ihre Form erinnert an Lorbeerblätter, mit einer charakteristischen Einkerbung an der Basis zum Einpassen des Speerstocks. Vom Nordwesten der USA bis nach Mexiko entdeckte man in den vergangenen 80 Jahren 3000 Fundstellen der Clovis-Kultur. Vor ihr hatte Amerika menschenleer zu sein. Und wehe dem, der etwas anderes behauptete – so wie Tom Dillehay.

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SPOTT, VORWÜRFE UND DROHBRIEFE

Der US-Anthropologe von der Vanderbilt University in Nashville/Tennessee wurde von seinen Kollegen jahrelang verspottet, als Pfuscher und Betrüger bezeichnet und erhielt sogar Drohbriefe. Behauptete Dillehay doch, auf einem morastigen Grabungsgelände in Monte Verde/Süd-Chile die mindestens 14 500 Jahre alten Reste einer Siedlung entdeckt zu haben: Zelte aus Tierhäuten, hölzerne Werkzeuge, Steinschleudern, Reste vieler essbarer Pflanzen aus unterschiedlichen Jahreszeiten – also war der Platz ganzjährig bewohnt – und sogar den Abdruck eines Backenzahns. „Den haben wir in angekautem Seetang gefunden”, berichtet der Forscher und weist darauf hin, dass der prähistorische Campingplatz 60 Kilometer von der Pazifikküste entfernt liegt. Solche Wege nimmt man nur für etwas sehr Begehrtes auf sich. Was der Boden von Monte Verde nicht hergab, waren die im Norden Amerikas so häufigen Clovis-Spitzen – nicht eine einzige.

DEUTLICHE VERBINDUNG ZUM MEER

Nach Dillehays Lesart – in den 1980er-Jahren ein grober Verstoß gegen die archäologische Etikette – lautete Amerikas früheste Geschichte demnach so: Die ersten Menschen kamen vor mindestens 14 500 Jahren, mehr als ein Jahrtausend vor den Clovis-Leuten. Sie ernährten sich zumindest zu einem erheblichen Anteil von Pflanzen, kamen ohne steinerne Speerspitzen zurecht und hatten eine starke Affinität zum Meer und dessen Nahrungsangebot. Erst Jahrzehnte später ist dies von den meisten nordamerikanischen Archäologen anerkannt – und Monte Verde gilt als die älteste glaubwürdig datierte Fundstätte menschlichen Wirkens in Südamerika. „Die Fundstelle soll sogar zum Weltkulturerbe erhoben werden”, berichtet Dillehay.

Doch wie kamen die ersten Siedler vor 14 500 Jahren nach Südamerika? Zu Fuß über die Bering-Straße sicherlich nicht. Es gab zwar damals eine Landbrücke, die den Nordostzipfel Asiens mit dem amerikanischen Kontinent verband, weil riesige Wassermassen in Gletschern gebunden waren und somit der Meeresspiegel bis zu 100 Meter tiefer lag als heute. Aber spätestens nach der Durchquerung Alaskas hätten die Wanderer ein Problem gehabt: Etwa ab der heutigen kanadischen Nordgrenze blockierten riesige Eisfelder die Route gen Süden, und die Erstentdecker werden wohl kaum von Kanada aus über die Gletscher bis nach Chile gerutscht sein. Ein Wanderweg im Landesinneren wurde erst 1500 Jahre später, also zu Clovis-Zeiten, als eisfreier Korridor passierbar (siehe Karte rechts).

REICHE JAGDGRÜNDE IM KELPWALD

Wie also gelangten Einwanderer aus Asien bis nach Süd-Chile? „ Sie kamen mit Booten aus ausgehöhlten Baumstämmen oder in Kanus aus Tierhäuten”, behauptet Jon Erlandson, Anthropologe an der University of Oregon. Von Nordasien oder Japan aus stachen sie in See und blieben immer in Küstennähe – entlang der japanischen Inselkette, den Kurilen, Kamtschatka und den Aleuten bis zur Küste Alaskas. Kost und Logis am Küstensaum standen stets zur Verfügung, und auch ohne dies wären die Seefahrer nicht verhungert: „Mit Ausnahme der Tropen gab es einen fast geschlossenen Kelpwald entlang des Pazifikbogens, voller Muscheln, Otter und Seelöwen”, weiß Erlandson. Kelp ist Riesentang aus Rot- und Braunalgen, der in kalten Küstengewässern durchschnittlich 40 Meter hoch wächst und in dem es vor Leben nur so wimmelt – eine unerschöpfliche Nahrungsquelle für geübte Jäger und Fischer.

Auf den Channel Islands, einer Inselgruppe vor Los Angeles, sucht Erlandson nach Hinterlassenschaften früher Küstenhopper. Auf Santa Rosa, einer der Inseln, wurde bereits 1959 der Arlington Springs Man entdeckt. Die etwa 13 000 Jahre alten menschlichen Gebeine sind der bisher älteste Beweis dafür, dass Paläo-Indianer schon zu Clovis-Zeiten über Wasserfahrzeuge verfügt haben. Schließlich lag die Insel damals mit 15 Kilometer Entfernung zur Küste auch für geübte Schwimmer zu weit draußen im Meer. Erlandson stieß auf einen Werkstattplatz, wo Inselbewohner aus Hornstein Werkzeuge fertigten. Es sind ungewöhnliche Pfeilspitzen in Form von Mondsicheln sowie primitive Projektile, die denen der japanischen Ureinwohner („Jômon-Kultur”) ähneln. Doch der erhoffte Beweis, dass die früheste Einwanderung per Boot übers Meer stattfand, ist seine Steinzeitwerkstatt nicht: Sie ist 1000 Jahre jünger als die Clovis-Kultur.

Dass er mit seiner Küstenmigrations-Hypothese trotzdem nicht ausgelacht wird wie vor 20 Jahren Kollege Dillehay – Erlandson wurde lediglich geraten, seine Ergebnisse besser nicht zu veröffentlichen –, kann an einem freundlicheren Umgangston innerhalb der Zunft liegen. Oder an den Paisley Caves in Oregon. In diesem Höhlensystem entdeckten Wissenschaftler 2008 die fossilen Überreste steinzeitlicher Toilettengänge: 14 300 Jahre alten versteinerten Menschenkot. Von der Pazifikküste aus, mehr als 300 Kilometer flussaufwärts am Klamath River entlang, sind diese Höhlen in einer mehrwöchigen Reise zu erreichen. Das ist sicher zu weit für einen bloßen Toilettengang, aber durch die Anbindung über den Fluss liegen die Paisley Caves immerhin noch im Einzugsbereich der Küste.

Erlandson ist überzeugt, dass er nicht nur auf den Channel Islands, sondern auch an der Pazifikküste Spuren von frühen Besuchern finden würde. Doch dazu müsste er auf Tauchstation gehen, denn der Meeresspiegel ist seit der Ankunft der ersten Entdecker um mehr als 100 Meter gestiegen. „Zu tief und durch die raue See zu gefährlich”, urteilt Erlandson und überlässt die Unterwasser-Archäologie lieber anderen. Für seinen Kollegen Jim Adovasio segnete er Fördergelder für Studien an der Ostküste von Florida im Golf von Mexiko ab. Adovasio ist bisher der einzige Wissenschaftler, der die ersten Amerikaner mitten im Ozean sucht – 150 Kilometer vor der heutigen Küstenlinie.

EISZEITLANDSCHAFT UNTER WASSER

„Vor St. Petersburg haben Fischer immer wieder fossile Tierknochen aus Prä-Clovis-Zeiten aus dem Wasser geholt”, berichtet der Leiter des renommierten Mercyhurst College im US-Bundesstaat Pennsylvania. Auch an Land gibt es ähnlich alte Spuren einer menschlichen Besiedlung, bezeugt er. In den Sommern 2008 und 2009 kartografierte Adovasio eine eiszeitliche, heute bis zu 125 Meter unter Wasser liegende Landschaft, unter anderem mit zwei Flussläufen und mehreren Dolinen. „Das sind trichterförmige Einstürze, auf dem Festland ein natürlicher Anziehungspunkt für Menschen”, erläutert Adovasio. Hornstein, das wichtigste Ausgangsmaterial für Steinwerkzeuge, hat der Forscher ebenfalls am Meeresgrund gefunden. Er wies nach, dass dieses Mineral hier bereits vor 20 000 Jahren zur Verfügung stand, als alles noch auf dem Trockenen lag. Auch für 2010 war vor Florida eine Expedition in die überflutete Flusslandschaft geplant. Doch die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko machte das Vorhaben zunichte.

So hat Adovasio wieder mehr Zeit, sich um sein liebstes Steckenpferd zu kümmern: die Grabungsstätte Meadowcroft Rockshelter im Südwesten von Pennsylvania – die seiner Meinung nach älteste in Nordamerika. Die Steinwerkzeuge, Projektile und Knochen, die er aus vier Meter tiefen Erdschichten unter einem Felsüberhang zutage gefördert hat, schieben die Erstbesiedlung des Kontinents ein großes Stück weiter in die Vergangenheit: Sie seien auf 16 000 bis 19 000 Jahre datiert, sagt der renommierte Forscher. Verdächtig alt, unken Kritiker und machen Verunreinigungen durch lokale Kohlevorkommen für dieses Ergebnis der C-14-Datierungen verantwortlich. Doch im Licht des aktuellen Sensationsfundes in Texas mit 15 500 Jahren Alter sieht die Sache nicht mehr ganz so fragwürdig aus.

Bruce Bradley hat mit hohen Jahreszahlen kein Problem. „Vor 20 000 Jahren kamen die Europäer nach Amerika”, behauptet der Professor für experimentelle Archäologie von der University of Exeter in England. Der Stabreim „Iberia – not Siberia” (von der Iberischen Halbinsel, nicht aus Sibirien) bringt seine Idee von der Erstbesiedlung der Neuen Welt auf den Punkt. So soll auch der Titel eines Buches lauten, das er gemeinsam mit Dennis Stanford von der Smithsonian Institution, Washington/DC, 2011 veröffentlichen will. Der Stein des Anstoßes war für die beiden die berühmte Clovis-Speerspitze.

SIEDLER DER SOLUTRÉEN-KULTUR?

„Wenn die ersten Siedler aus Sibirien kamen – warum hat dann bis heute niemand dort ihre typischen Waffen gefunden?”, fragt Bradley. Auch er suchte clovisähnliche Speerspitzen zunächst in Asien – aber fand sie stattdessen in Gestalt der lorbeerblattförmigen „Solutréen-Spitzen” in Südeuropa: bei den Menschen der Solutréen-Kultur, die in Bradleys Sichtweise vor 15 000 bis 20 000 Jahren in Nordspanien und Südfrankreich lebten. In der archäologischen Literatur ist meist der Zeitraum vor 17 000 bis 22 000 Jahren genannt. Bradley liest aus den Abschlagstellen der Speerspitzen, ihren Einkerbungen und Splitterprodukten heraus, dass die Fertigungstechniken der Solutréen- und der Clovis-Kultur „fast identisch” gewesen seien. Die 16 000 Jahre alten Speerspitzen vom Meadowcroft Shelter sowie gleich alte Funde in Cactus Hill/Virginia könnten feine Unterschiede zwischen beiden Projektil-Formen wie eine technologische Zwischenstufe überbrücken und somit die Steinmetzkunst der alten Solutréer mit der Technik der jüngeren Clovis-Jäger zeitlich und räumlich verbinden, meint er.

Bradleys Hypothese: Abenteuerlustige Solutréer überquerten den Atlantik vom Golf von Biscaya aus. In einfachen Booten hangelten sie sich entlang des Kontinentalschelfs und der Packeiskante bis an die Küste Neufundlands. „Ungefähr die Route der Titanic”, verdeutlicht Bradley. Er vermutet, dass die Menschen damals den gleichen Überlebensstrategien folgten wie die Inuit (Eskimos) der jüngsten Vergangenheit, die bei rauer Wetterlage Lagerstätten auf dem Eis errichteten und sich vom Meer ernährten. Nahrungsmittelknappheit habe die Menschen aus dem eiszeitlichen Europa vertrieben, das vor 20 000 Jahren überwiegend eine öde Steppenlandschaft war. Statt sich um die letzten Rentier- und Mammutsteaks zu streiten, seien die Überlebenden lieber auf Poseidon-Platte umgestiegen: Die Solutréer könnten den Wanderrouten der Meerestiere gefolgt sein, beispielsweise den Zügen des Riesenalks, eines heute ausgestorbenen Nordmeer-Pinguins. Diese Vögel seien – wie Bradley bezeugt – bis ins heutige North Carolina gewatschelt, um dort zu überwintern.

Der erste Amerikaner – ein 20 000 Jahre alter Steinzeit-Columbus aus Europa? „Großer Blödsinn”, urteilt David Meltzer, ein Experte für amerikanische Frühgeschichte an der Southern Methodist University in Texas. Die Genetiker (siehe Kasten „Gene zum Reden gebracht”, S. 65) hätten doch schon längst gezeigt, dass sich Bradley und Stanford auf dem Holzweg befinden. Aus den Erbinformationen der heutigen Indianer lässt sich ableiten, dass es fünf „Ur-Stämme” gegeben haben muss. Alle sind in Asien beheimatet – keiner in Europa. „Die Abstammungslinien entstanden allesamt vor 15 000 bis 20 000 Jahren in Sibirien und der heutigen Mongolei”, weiß Theodore Schurr, Molekular-Anthropologe an der University of Pennsylvania in Philadelphia.

WIE VIELE MIGRATIONSWELLEN?

Für David Meltzer ist die Solutréer-Hypothese daher abgehakt. „ Viel wichtiger ist es, zu klären, wann genau, wo und in wie vielen Migrationswellen die ersten Siedler kamen”, sagt der Autor des kürzlich erschienenen Buchs „First Peoples in a New World”. Darüber wiederum streiten nicht nur Archäologen, sondern auch die Gelehrten aus anderen Disziplinen.

Unter den Genetikern herrscht gegenwärtig Konsens über diese Version: Es gab nur eine einzige Einwanderungswelle – irgendwann im Zeitfenster vor 15 000 bis 23 000 Jahren. Dies stellte bereits 2007 der britische Wissenschaftler Sijia Wang fest, der federführend mit einem großen Team die Erbsubstanz von mehr als 400 modernen Indianern aus allen Teilen Amerikas untersuchte. Zu dem gleichen Ergebnis kam jüngst auch sein brasilianischer Kollege Nelson Fagundes. Die Anthropologen sehen das anders. „ Nein, es waren zwei Migrationswellen”, widerspricht etwa Katerina Harvati von der Universität Tübingen und lässt statt DNA lieber Köpfe sprechen: Sie hat über 1000 prähistorische und moderne Schädel vermessen und die Daten mit Evolutionsmodellen verglichen (siehe Kasten links „Eine Studie mit Köpfchen”). Und um aller guten Dinge Willen: „Unser Konsens lautet: mindestens drei Einwanderungswellen”, sagt Jim Adovasio – als Sprecher der amerikanischen Archäologen.

VERWANDTE IN ZENTRALSIBIRIEN

Natürlich wollen neben Genetikern, Anthropologen und Archäologen auch die Linguisten ein Wort mitreden. Vor Kurzem gelang es Edward Vajda von der Western Washington University erstmalig, eine sprachliche Verwandtschaft zwischen heutigen Indianern und Asiaten aus den Datenbanken herauszudestillieren: Er zeigte, dass die jenisseische Sprachfamilie aus Zentralsibirien verwandt ist mit der Sprache der Na-Dené-Familie in Nordamerika. Seine Kollegin Johanna Nichols von der University of California in Berkeley wagte sogar eine zeitliche Einordnung für die Besiedlung der Neuen Welt: Sie untersuchte, wie lange es gedauert hat, bis mindestens 150 moderne Indianersprachen aus einer gemeinsamen Ur-Sprache entstehen konnten. Zudem beobachtete sie die Verbreitungsgeschwindigkeiten der Sprachen innerhalb des Doppelkontinents und rechnete zurück, wann der sprachliche Ausgangspunkt an der Nordostküste Amerikas anzusetzen sei. Beide Arbeiten kommen zum gleichen Ergebnis: vor 20 000 Jahren. Doch das Puzzle um den ersten Amerikaner ist komplex. „Es fehlen noch viele Teile, ehe wir uns ein akkurates Bild machen können”, fasst Jim Adovasio die aktuelle Debatte zusammen. Dass sie kritisch und manchmal ruppig verläuft, ist für den Wissenschaftler verständlich. „Es geht hier immerhin um das letzte große Kapitel in der Bevölkerungsgeschichte der Erde. Die nächste Besiedlung wird die eines neuen Planeten sein.” Bleibt zu hoffen, dass künftige Forschergenerationen nicht auch darüber wieder heftig streiten müssen. ■

DÉSIRÉE KARGE lebt seit 13 Jahren in den USA, ist aber keine Amerikanerin. Deshalb gingen die streitbaren Fachleute freundlich mit ihr um.

von Désirée Karge

BERINGIA TAUCHT AUF

So sah die Landbrücke Beringia vor 21 000 Jahren aus. Als der Meeresspiegel am Kältemaximum der Eiszeit um 120 Meter sank, gab es einen Landweg nach Amerika.

ZU WASSER UND ZU LAND: DIE BESIEDLUNG AMERIKAS

Ein gewaltiger Eisschild versperrte den aus Sibirien kommenden Nomaden etwa 20 000 Jahre lang den Landweg nach Nordamerika. Erst vor 16 000 Jahren war das Gletschereis weit genug geschmolzen, um allmählich einen Durchgang nach Süden freizugeben. Vor 13 000 Jahren war der Nord-Süd-Korridor frei. Da waren aber längst Paläo-Indianer bis ins heutige Süd-Chile vorgedrungen. Das kann nur mit Booten entlang der Pazifikküste geschehen sein. Auch die 2011 datierte Fundstelle Buttermilk Creek im US-Bundesstaat Texas ist zu alt, um auf dem Landweg erreichbar gewesen zu sein.

MEHR ZUM THEMA

LESEN

Beitrag „Rätsel der drei Inseln”:

Der wissenschaftliche Bericht des Teams um Thomas Strasser über die Werkzeugfunde auf Kreta: Thomas F. Strasser et al. STONE AGE SEAFARING IN THE MEDITERRANIAN Evidence from the Plakias Region for Lower Palaeolithic and Mesolithic Habitation of Crete In: Hesperia 79 (2), S. 145–190 (2010)

Wissenschaftlicher Tagungsband über die Anfänge der Seefahrt: Atholl Anderson, Katie Boyle et al. THE GLOBAL ORIGINS AND DEVELOPMENT OF SEAFARING McDonald Institute for Archaeological Research, Oxford 2010, € 65,–

Ein archäologisches Experiment – auf einem Bambusfloß von Timor nach Australien: Robert G. Bednarik, Martin Kuckenburg NALE TASIH Thorbecke, Stuttgart 1999 (nur noch antiquarisch erhältlich) Beitrag „Im Fellboot nach Amerika”:

Aktueller Statusbericht eines führenden US-Forschers auf diesem Gebiet: David J. Meltzer FIRST PEOPLES IN A NEW WORLD Colonizing Ice Age America UC Press, Berkeley 2010, $ 19,95

GENE ZUM REDEN GEBRACHT

Das menschliche Erbgut als Geschichtszeuge – auf diese Idee kam Douglas Wallace von der University of Pittsburgh als Erster. Der Genetiker fand heraus, dass man in der DNA blättern kann wie in einem jahrtausendealten Kalender. Genauer: in der mitochondrialen DNA (mt-DNA). Das ist das ringförmige Erbgut der Mitochondrien, der Kraftwerke der Zelle. Nur von der Mutter wird die in der mt-DNA steckende Erbinformation an die nächste Generation vererbt. Das heißt: Bei einer Mutation werden auch „ Abschreibfehler” jeweils nur über weibliche Nachkommen an die nächste Generation weitergereicht – bis der nächste Abschreibfehler passiert. Da die Genetiker ermittelt haben, mit welcher Häufigkeit solche Mutationen entstehen, kann Wallace mit der mt-DNA der heutigen Indianer einen kompletten Stammbaum weiblicher Vorfahren rekonstruieren. „Mithilfe der Gene ist genau bestimmbar, seit wann es bestimmte ethnische Gruppen gibt und wann sich daraus wieder Untergruppen abgespalten haben und eigene, charakteristische Mutationen entwickelten”, erläutert Wallace. Aus der Erbsubstanz der modernen Indianer hat Wallace abgeleitet, dass es fünf Ur-Stämme gegeben haben muss – die Genetiker sprechen von den Haplogruppen A, B, C, D und X.

EINE STUDIE MIT KÖPFCHEN

„Warum sehen die heutigen Indianer anders aus als ihre Vorfahren?”, fragte sich die aus den USA stammende Anthropologie- Professorin Katerina Harvati an der Universität Tübingen. Schließlich ähneln moderne Indianer den Menschen in Asien, während die frühesten Paläo-Indianer eher ausgesehen haben wie Australier oder Afrikaner. Gemeinsam mit Mark Hubbe von der Universidad Católica del Norte in Chile und Walter Neves von der brasilianischen Universidade de São Paulo verglich die Forscherin mehr als 1000 Schädel – von heute lebenden Indianern und von bis zu 11 500 Jahre alten.

24 Schädel-Parameter ließen die Wissenschaftler in Computermodelle einfließen und testeten daran sechs unterschiedliche Besiedlungsszenarien. „Jedes Szenario macht bestimmte Vorhersagen, wie die heutigen Indianer aussehen müssten” , erklärt die Forscherin. Auch Umwelteinflüsse wurden berücksichtigt: „Die Nase eines Menschen wird schmaler und größer, je kälter und trockener das Klima ist”, weiß Harvati. Doch solche Umweltfaktoren waren nicht für die Unterschiede zwischen alten und neuen Schädeln ausschlaggebend. Klarer Sieger wurde das Modell „Zwei Einwanderungswellen”: Demnach müsste es zwei Populationen von Einwanderern gegeben haben, die mit deutlichem zeitlichem Abstand voneinander in Asien aufgebrochen sind und von dort aus, entlang der Pazifikküste, zunächst Süd- und Mittelamerika besiedelt haben.

KOMPAKT

· Nach jahrzehntelangem Gelehrtenstreit zeichnet sich ab: Der amerikanische Kontinent ist zwischen 15 000 und 20 000 Jahren vor heute erstmals besiedelt worden.

· Die allesamt aus Nordostasien stammenden Einwanderer kamen möglicherweise in zwei bis drei Schüben – und zumindest die frühesten von ihnen per Boot entlang der Pazifikküste.

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