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DAS RÄTSEL DER DREI INSELN

Geschichte|Archäologie

DAS RÄTSEL DER DREI INSELN
Sokotra, Kreta, Flores: Auf diesen Eilanden, die seit Hunderttausenden von Jahren nur übers Meer zu erreichen sind, stießen Archäologen auf archaische Steinwerkzeuge. Indizien für seefahrende Frühmenschen, sagen Forscher.

VOM NIKITSKY BULVAR, draußen vor der säulengeschmückten Gebäudefront, weht das Rauschen des Moskauer Innenstadtverkehrs herüber. Die Geräuschkulisse erinnert nicht wirklich an die Brandungswellen des Indischen Ozeans. Und doch muss Alexander Sedov, Generaldirektor des Museums für Orientalische Kunst, in diesen Tagen oft an Sokotra denken – eine Insel vor Ostafrika, die zu Jemen gehört. Dabei hat der Moskauer Geschichtsprofessor weder die türkisblauen Lagunen noch die Traumstrände dieses Naturparadieses im Sinn. Er macht sich vielmehr ernsthafte Sorgen um die nächste Grabungskampagne der „Russischen Archäologischen Mission in der Republik Jemen“, die für Herbst 2011 auf Sokotra geplant ist – und die er, wie schon in den Jahren davor, leiten soll. Das Problem: „Hoffentlich machen uns die politischen Turbulenzen, die derzeit den Jemen erschüttern, keinen Strich durch die Rechnung“, sagt Sedov. „Wir wollen doch unsere Untersuchung fortsetzen.“

Seit 1983 arbeiten russische Wissenschaftler auf Sokotra, der Hauptinsel des gleichnamigen Archipels. Auch 2008 war ein Team auf dem 130 Kilometer langen sonnendurchglühten Eiland unterwegs. Der Ethnologe Vitaly Naumkin spürte der Herkunft und Sprache der arabisch geprägten Insulaner nach, der St. Petersburger Forscher Yuri Vinogradov sowie Expeditionsleiter Alexander Sedov suchten an mehreren Stellen im Gelände nach Relikten der vorislamischen Ära. Da erlebten sie die Riesenüberraschung, die sie bis heute in Atem hält. Sedov: „Wir stießen auf archaische Steinwerkzeuge, die über den Boden verstreut lagen.“ Der Moskauer Museums-Chef präzisiert: „Die Faustkeile und Schaber gehören in die Oldowan-Kultur – sie sind möglicherweise 1 bis 1,5 Millionen Jahre alt.“

OHNE WASSERFAHRZEUGE UNMÖGLICH

Daran ist so ziemlich alles verwirrend. Sokotra liegt etwa 250 Kilometer vom Horn von Afrika entfernt und 380 Kilometer vor der jemenitischen Küste. Wer die Steinwerkzeuge auf die Insel gebracht hat, müsste also mit Wasserfahrzeugen gekommen sein. Die Oldowan-Kultur ist die erste Steintechnologie der Menschheit, benannt nach dem weltberühmten Fundort Olduvai in Tansania. Sie wird üblicherweise auf die Zeit vor 2,6 bis 1,5 Millionen Jahren angesetzt. Vor 1,5 Millionen Jahren waren Frühmenschen der Art Homo erectus die Träger der Oldowan-Kultur. Sie müssten folglich die Besucher gewesen sein, die vom Festland her übers Meer nach Sokotra fuhren. Erectus-Menschen waren die Ersten in unserer Ahnenreihe, die den heutigen Menschen – abgesehen vom Überaugenwulst und der niedrigen Stirn – in vielen Aspekten glichen: hochgewachsen, langbeinig, geschickte Großwildjäger mit großen Gehirnen. Aber Seefahrer?

Bei der Entdeckung der Russischen Archäologischen Mission hatte der Zufall Regie geführt. Denn 2008 war erstmals – in Gestalt des Archäologen Valeriy Zhukov – ein Altsteinzeit-Spezialist mit von der Partie. Nicht etwa, weil man glaubte, ihn wegen seiner speziellen Kenntnisse zu benötigen. Warum auch? Bis dahin war Konsens, dass frühestens vor 11 000 Jahren – in der Mittelsteinzeit – erstmals Menschen auf dem entlegenen Sokotra-Archipel landeten. Doch als die Forschergruppe in der Nähe des Flusstals Wadi Tharditror im Zentrum der Insel sowie beim Dorf Raquf im Osten das Gelände abschritt, erkannte Zhukovs trainiertes Auge: Was da am Boden lag, sah entschieden nach Altsteinzeit aus.

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MASSEN VON URALTEM STEINGERÄT

Die folgenden Kampagnen 2009 und 2010 zielten darauf, die Ergebnisse von 2008 zu untermauern. Mit Erfolg: „Wir haben weitere Steinwerkzeuge gefunden“, berichtet Sedov. „Im nördlichen Teil der Insel einschließlich Wadi Tharditror liegen sie massenhaft herum.“ Inzwischen begutachtete daheim in Moskau Hizri Amirkhanov, der landesweit angesehenste Experte für altsteinzeitliche Archäologie an der Russischen Akademie der Wissenschaften, die Sokotra-Funde. Auch er urteilte: vermutlich Oldowan. Amirkhanov erlebte dabei ein Déjà-vu: 1986 hatte er in Sedimenten der Al-Guza-Höhle im jemenitischen Landesteil Hadramaut – auf dem Festland – etwa 1,4 Millionen Jahre alte Oldowan-Werkzeuge entdeckt, die den Fundstücken von Sokotra seiner Meinung nach ähnelten.

Doch der äußere Anschein kann trügen, wie jeder misstrauische Kommissar bei der Untersuchung eines Kriminalfalles weiß. Und auch auf der Akte dieses Insel-Krimis stehen drei dicke Fragezeichen:

· War Sokotra schon vor 1,5 Millionen Jahren eine Insel, oder war der Archipel damals über eine Landbrücke mit Afrika verbunden?

· Sind die Werkzeuge ohne den geringsten Zweifel der Oldowan-Kultur zuzuordnen?

· Ist wirklich bewiesen, dass sie 1,5 Millionen Jahre alt sind? Grobe Geröllwerkzeuge kommen immer wieder an vielen Stellen der Welt ans Licht, auch an Fundstätten, die gerade mal 5000 Jahre alt sind.

Ketten kleiner Inseln

Landbrücke – ja oder nein? Dieses erste Fragezeichen bereitet Alexander Sedov und seinen Kollegen das meiste Kopfzerbrechen. Während der letzten Eiszeit, die vor 2,2 Millionen Jahren begann und noch andauert, wurde in den Kaltphasen immer wieder viel Wasser in den Gletschern des Festlandes gebunden. Daher lag der Meeresspiegel meistens etwa 40 bis 50 Meter tiefer als in der derzeitigen Warmphase, in Zeiten maximaler Vergletscherung sogar bis zu 120 Meter. Die Wassertiefe vor Sokotra erreicht heute maximal 190 Meter. Ein erheblicher Teil des Schelfsockels dürfte also zeitweise trockengelegen haben.

Der Expeditionsleiter berichtet: „Bei unserer letzten Kampagne im Herbst 2010 war Andrei Lukashov dabei, ein Geomorphologe von der Moskauer Staatsuniversität. Er wollte folgendes Szenario nicht völlig ausschließen: Vor 1,5 Millionen Jahren könnte es Ketten weiterer kleiner Inseln zwischen Hauptinsel und Festland gegeben haben, die nur durch schmale, seichte Wasserarme getrennt waren. Die waren möglicherweise leicht zu überwinden.“ Später, etwa als Folge tektonischer Prozesse, könnten diese Inselketten wieder im Meer versunken sein. „Ziemlich lächerlich“, findet Sedov, „aber wir werden auch dieser Möglichkeit nachgehen.“ Er selbst hält es mit der Mehrheitsmeinung. Die lautet: Der Sokotra-Archipel ist seit Dutzenden von Millionen Jahren vom afrikanischen Festland getrennt, und in den letzten 1,5 Millionen Jahren klaffte zwischen Abd al-Kuri – der westlichsten Insel des Archipels – und der somalischen Küste ein mindestens 80 Kilometer breiter Graben. Die Wassertiefe beträgt dort 900 Meter. Das ist ein Pluspunkt für die Seefahrer-Hypothese.

Bei dem zweiten großen Fragezeichen – wirklich Oldowan-Kultur? – verweist Sedov auf seine russischen Kollegen, die davon überzeugt sind. Doch hier erhebt sich Widerspruch. Der Madrider Archäologe Manuel Dominguez-Rodrigo ist immer wieder auf Grabungen in Ostafrika, im tansanischen Olduvai – dem namengebenden ersten Fundort solcher Werkzeuge – und in Kenia. Anhand von Bildern der Sokotra-Funde im Internet (www.ivran. ru/expeds/289) hat er Vorbehalte: „Für mich ist die Zuordnung zweifelhaft. Einige Stücke haben zu intensiv bearbeitete Schneiden, um aus dem Oldowan zu stammen.“ Sauer auf die Moskauer Kollegen ist Dominguez-Rodrigo außerdem: „Die Funde sind lediglich in zwei russischen Zeitschriften veröffentlicht worden. Für alle, die kein Russisch sprechen, ist es buchstäblich so, als ob diese Veröffentlichungen nicht existierten. Wenn das wirklich Oldowan-Funde sind, lässt sich so etwas mit Leichtigkeit in einer englischsprachigen größeren Zeitschrift unterbringen!“

Primitiv heisst nicht unbedingt alt

Die „zu intensiv bearbeiteten“, also für das Oldowan zu fortschrittlichen Schneiden verschieben den Kegel des Suchscheinwerfers in Richtung Acheuléen-Kultur. Sie setzte als Nachfolgerin des Oldowan vor etwa 1,5 Millionen Jahren ein und war bis vor rund 130 000 Jahren gebräuchlich. Doch auf Spekulationen, ob die Sokotra-Werkzeuge nun Oldowan oder Acheuléen seien, lässt sich der britische Archäologe Geoff Bailey sowieso nicht ein. Der Spezialist für Küstenarchäologie an der University of York, der am Roten Meer den Wanderrouten früher Menschen beim „Out of Africa“- Trip nachspürte, vergibt beim dritten Fragezeichen – wie alt? – einen satten Minuspunkt: „Dass die Werkzeuge mehr als eine Million Jahre alt sein sollen, ist nicht bewiesen. Es sind ja nur Oberflächenfunde!“

Eine überzeugende Datierung, so Bailey, ist bloß möglich, wenn ein Archäologe die betreffenden Objekte innerhalb einer ungestörten stratigraphischen Schichtenfolge antrifft. Mineralien oder organische Reste in der Fundschicht können dann im Labor verlässliche Altersangaben liefern. „Man hat schon etliche archaisch aussehende Stücke an der Erdoberfläche gefunden, deren behauptetes Alter später zurückgenommen werden musste“, sagt der Yorker Forscher. Und legt noch mehr Kritik nach: „Dass diese Werkzeuge primitiv aussehen, heißt noch lange nicht, dass sie sehr alt sind. Menschen aller Kulturen haben stets auch Objekte hergestellt, die einfacher waren als die technologisch besten ihrer Kulturstufe. Sie konnten es sehr wohl besser, aber es bestand nicht immer die Notwendigkeit, sich die Mühe zu machen.“ Das Anfertigen guten Steingeräts kostet Zeit, eine einfachere technische Lösung tat es manchmal auch.

SEDOVS GEGENARGUMENT

„Das stimmt schon“, räumt Alexander Sedov ein. „Man findet archaisch erscheinende Geröllwerkzeuge auch an relativ jungen Fundstätten. Aber“, kontert er, „in solchen Fällen handelt es sich üblicherweise um gemischte Inventare aus primitiven Geröllwerkzeugen und zeitgemäßem Steingerät. Auf Sokotra hingegen findet man homogene Inventare, die ausschließlich aus Geröllwerkzeugen bestehen.“ Die Kritik an der zeitlichen Einordnung der Sokotra-Funde lässt Sedov gelten. „Mir ist klar, dass die Datierung der Werkzeuge auf 1 bis 1,5 Millionen Jahre ziemlich hypothetisch ist“, stimmt er zu. „Wir können leider bisher nur Funde vorweisen, die auf der heutigen Oberfläche lagen – ohne Zusammenhang mit einer geologischen Formation. Für die zeitliche Zuordnung haben wir uns daher ausschließlich an den Formen und den technologischen Charakteristika der Werkzeuge orientieren können.“ Das reicht nicht für eine sichere Datierung, weiß Sedov, und das wurmt ihn mächtig. „Darum wollen wir unsere Untersuchungen in der nächsten Kampagne auf die Sedimente am Fuß von überhängenden Felswänden sowie auf Höhlen ausdehnen. Wir hoffen, dort auf ungestörte fundhaltige Schichten zu treffen“, sagt der russische Forscher und wünscht sich so schnell wie möglich ins Flugzeug nach Sokotra. Wenn die Umstände im Herbst es zulassen.

FALL NUMMER ZWEI: KRETA

Auch Thomas Strasser ist längst wieder reif für die Insel. „ Ich will im Juli noch einmal nach Kreta und versuchen, die Datierung weiter abzusichern“, informiert der amerikanische Archäologe im März 2011 den Anrufer von bild der wissenschaft. Auch an Strasser nagt ein Datierungsproblem, obwohl er in einer komfortableren Lage ist als die russischen Kollegen. „Ich habe bei unserem bisherigen Ergebnis – einem Alter der Funde von mindestens 130 000 Jahren – nach wie vor ein gutes Gefühl“, versichert der Griechenland-Spezialist, der am Providence College im US-Bundesstaat Rhode Island Kunstgeschichte lehrt. Aber er und seine Mitstreiter haben mit demselben Vorwurf zu kämpfen, der auch der russischen Mission auf Sokotra das Leben schwer macht: Wieder geht es um Oberflächenfunde. Und um die provokante Schlussfolgerung, schon in grauer Vorzeit hätten Frühmenschen große Distanzen auf offener See überwunden.

Plakias heißt das Städtchen an der Südküste Kretas, in dessen Umgebung – bis hinüber zum Nachbarort Ayios Pavlos – Strasser und ein Team aus griechischen und amerikanischen Kollegen 2008 unterwegs waren. Mit gesenktem Blick schritten die Wissenschaftler mehrere Wochen lang die steinigen, zum Meer abfallenden Hänge ab – auf der Suche nach Relikten aus der Mittelsteinzeit (Mesolithikum). Sie suchten nach Belegen für ihre Hypothese, dass nicht erst in der Jungsteinzeit, seit 9000 Jahren, Menschen übers Meer nach Kreta kamen, sondern schon seit 11 000 Jahren. Der Beweis gelang. Die Archäologen entdeckten an 20 Stellen im Gelände insgesamt rund 1600 mesolithische Steinobjekte – etwa Projektilspitzen, Stichel, Schaber. Aber dieses positive Ergebnis des „Plakias Survey“ stand plötzlich im Schatten einer ganz anderen Entdeckung.

Wie zur gleichen Zeit auf Sokotra hatte auch hier der Zufall seine Hand im Spiel. Diesmal in Gestalt von Curtis Runnels von der University of Boston, der als Experte für steinzeitliche Werkzeugtechnologie am Survey teilnahm. Die Region um Plakias ist reich an Quarzvorkommen, und als Runnels irgendwann einen hübschen milchig weißen Brocken am Boden liegen sah, hob er ihn auf und nahm ihn mit in seine Unterkunft – als Beschwerer für den Papierkram, der sich auf dem Verandatisch häufte. Als Runnels dort am nächsten Morgen seinen Frühstückskaffee schlürfte, beleuchtete die tiefstehende Sonne die Kante des Fundstücks – und brach sich in den Spuren schärfender Abschläge von Menschenhand. Der Bostoner Archäologe war fassungslos. Sein Papierbeschwerer war ein Schaber genau des Typs, wie er in der Kultur des Acheuléen gebräuchlich war – in der Altsteinzeit.

Diesen Überraschungsfund dürfte es eigentlich überhaupt nicht geben. Kreta ist während der vergangenen Millionen Jahre, in denen Frühmenschen derartige Steinwerkzeuge benutzten, immer eine Insel gewesen. Selbst an den Höhepunkten eiszeitlicher Vergletscherung, als der Wasserspiegel im Mittelmeer 120 Meter tiefer lag als heute, hätten hypothetische Seereisende von der libyschen Küste nach Kreta rund 350 Kilometer Meer vor sich gehabt. Von der Ägäis oder von Anatolien aus wäre es ein Inselhüpfen mit mindestens 20 bis 40 Kilometer langen Teilstrecken gewesen.

Der seltsame Schaber blieb kein Einzelfund. In den Tagen, die folgten, fokussierte Strassers Team den Blick neu – und sammelte an neun verschiedenen Fundstellen etwa 200 nach Acheuléen aussehende Steinwerkzeuge ein. Darunter waren drei Dutzend Faustkeile – die typischsten Werkzeuge dieser vor 1,5 Millionen Jahren beginnenden Epoche, in der Homo erectus und später dessen jüngere Variante Homo heidelbergensis Afrika verließen und Europa sowie Südasien durchstreiften. „Wir müssen die Besiedlungsgeschichte Europas neu überdenken“, ist Strassers Schlussfolgerung. „Bisher dachten die Wissenschaftler: Homo erectus und später Homo heidelbergensis kamen über den Nahen Osten und Anatolien, außerdem eventuell über die Straße von Gibraltar. Das wird wohl auch so gewesen sein – aber offenbar konnten zusätzlich Langstrecken-Seefahrer nach Belieben das Mittelmeer in beiden Richtungen überqueren.“

Dass nur ein paar Tsunami-Opfer mit einem Stück Treibholz in Kreta angeschwemmt wurden, mag der Amerikaner nicht glauben: „ Nicht bei diesen Distanzen, nicht bei dieser Menge an Fundobjekten! Die Menschen müssen mit lenkbaren Wasserfahrzeugen gekommen sein. Ich tippe auf ausgehöhlte Baumstämme. Mit ihren Faustkeilen konnten sie welche herstellen, experimentell arbeitende Archäologen haben das nachgewiesen.“

EIN GEOLOGE KOMMT WIE GERUFEN

Doch was gelten all solche Überlegungen ohne eine glaubhafte Datierung der Funde? Wie in Sokotra lagen auch in Kreta die Steinwerkzeuge auf der Oberfläche oder – an fünf der neun Fundstellen – steckten einige Zentimeter tief in blutroter, ausgewaschener Erde, sogenanntem Paläosol. Ein Glücksfall für Strasser war es, dass zur gleichen Zeit wie sein Team der Geologe Karl Wegmann von der North Carolina State University rund um Plakias für seine Doktorarbeit im Gelände unterwegs war. Der wurde von Strasser sofort dienstverpflichtet, schätzte das Alter der terrassenförmig zum Meer absteigenden Hänge, begutachtete den Farbton des Paläosols.

Wegmanns Resultat: mindestens 130 000 Jahre alt, möglicherweise sehr viel älter. Curtis Runnels, der Steinwerkzeug-Fachmann in Strassers Team, weist den Schabern und Faustkeilen nach stilistischen Merkmalen sogar ein mögliches Alter von 130 000 bis 700 000 Jahren zu. „Unsere Arbeit an der geologischen Datierung ist keineswegs abgeschlossen“, unterstreicht Thomas Strasser – und geht in Kürze wieder auf Kreta-Reise.

FALL NUMMER DREI: FLORES

Auf der anderen Seite des Erdballs hat eine Gruppe von Wissenschaftlern ihre Datierungsaufgabe bereits glänzend gelöst. Das Team um die Archäologen Adam Brumm und Michael Morwood an der University of Woolongong in Australien hatte das Alter von Steinwerkzeugen zu bestimmen, die bei Wolo Sege auf der indonesischen Insel Flores ans Licht gekommen waren. Frühere Funde aus den nahegelegenen Orten Mata Menge und Tangi Talo hatten ein angebliches Alter von 900 000 Jahren ergeben, waren jedoch wegen methodischer Mängel von der internationalen Wissenschaftlergemeinde nur naserümpfend zur Kenntnis genommen worden. Brachte Wolo Sege die Bestätigung?

Die Steinabschläge stammten alle aus der Böschung am Rand einer Viehweide – „in situ“, wie die Wissenschaftler sagen, eingebunden in eine ungestörte Schichtenfolge. Praktischerweise lag die Ascheschicht eines Vulkanausbruchs direkt über der zu datierenden Fundschicht mit den Werkzeugen – für Archäologen so etwas wie der Sechser im Lotto mit Zusatzzahl. Denn das Verhältnis der Edelgas-Isotopen Argon-40 zu Argon-39 in vulkanischen Ablagerungen erlaubt eine präzise Altersbestimmung. In diesem Fall ergab sie 1 020 000 Jahre. Somit ist dies das Mindestalter der darunter liegenden Abschläge. 2010 wurden die Ergebnisse im Fachblatt „Nature“ veröffentlicht.

Zugleich war es der diesmal unwiderlegbare Beweis, dass vor einer Million Jahren bereits Frühmenschen auf Flores gelebt haben – auf einer Insel also, die auch zu Zeiten niedrigsten Wasserspiegels stets durch mindestens 19 Kilometer offenes Meer von der Nachbarinsel Sumbawa getrennt war. Somit musste – lange vor Homo sapiens – Homo erectus zu solchen Seereisen fähig gewesen sein. Das ist ein großer Tropfen Balsam auf die gemarterten Seelen der Archäologen, die Gleiches für Sokotra und Kreta nachzuweisen versuchen. Denn so unwahrscheinlich sehen ihre Ergebnisse im Licht der Flores-Datierung nicht mehr aus. ■

von Thorwald Ewe

SOKOTRA: KEIN LAND IN SICHT

Am Maximum der kontinentalen Vergletscherung lag der Meeresspiegel 120 Meter tiefer als heute. Und doch war Sokotra wohl immer nur mit Wasserfahrzeugen erreichbar. Wer brachte archaische Werkzeuge auf die Insel?

FLORES: ZWEIFELSFREI DATIERT

Das Mindestalter der Steinwerkzeuge von Wolo Sege steht eindeutig fest: 1 020 000 Jahre. Zu jener Zeit müssen Frühmenschen die 19 Kilometer See zwischen Sumbawa und der Flores vorgelagerten Insel Komodo überwunden haben.

KOMPAKT

· Bisher galt, dass erst der Homo sapiens sich vor einigen Zehntausend Jahren mit Wasserfahrzeugen aufs offene Meer wagte.

· Doch auf mehreren entlegenen Inseln kamen deutlich älter wirkende Spuren von menschlicher Anwesenheit ans Licht.

· Folglich müsste bereits Homo erectus Seefahrer gewesen sein.

KRETA: INSELHÜPFEN ODER LANGSTRECKE?

Selbst bei niedrigstem Wasserstand betrug die Distanz Libyen–K reta für prähistorische Seefahrer etwa 350 Kilometer. Plausibler erscheinen die Routen von Rhodos oder vom Peloponnes aus, in mehreren kleineren Teilstrecken.

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