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Die Flegeljahre Giganten

Astronomie|Physik

Die Flegeljahre Giganten
Die Jugend unseres Sonnensystems war äußerst turbulent: Die Riesenplaneten kamen sich gefährlich nahe, tauschten womöglich sogar die Plätze und schleuderten dabei Kometen und Planetoiden aus ihren Bahnen.

Bei Vollmond kann man sie am besten sehen, die großen, dunklen Flecken auf der Vorderseite des Mondes. „Maria“ heißen sie, weil die Menschen sie früher für Meere hielten. In Wirklichkeit sind sie Narben: Hunderte Kilometer große Krater, entstanden durch gewaltige Einschläge vor etwa 3,9 Milliarden Jahren.

Die schwarzen Basaltbecken zeugen von einer Zeit des Aufruhrs. Über die Ursachen dieses Meteoritenhagels haben Astronomen lange gerätselt, insbesondere darüber, wieso das Bombardement sich erst 600 Millionen Jahre nach der Geburt von Sonne und Planeten ereignete. Doch dank Alessandro Morbidelli und seinen Kollegen vom Observatoire de la Côte d’Azur in Nizza kommt nun Licht in die Geheimnisse unserer fernen Vergangenheit. Es begann im Frühjahr 2004 mit einem „magischen Moment“ für den italienischen Astrophysiker, als er auf den silbernen Vollmond über der Provence schaute. Seit Monaten hatte er zusammen mit drei Kollegen versucht, gewisse Ungereimtheiten in den Bahnen der Riesenplaneten zu erklären. Plötzlich passte alles zusammen. Morbidelli starrte auf den Mond und dachte: „Wahnsinn, vielleicht haben wir gerade den Ursprung dieser dunklen Flecken verstanden.“ Denn um die Planeten auf die richtige Bahn zu bringen, musste das Team die Geschichte des Sonnensystems völlig neu schreiben. Dabei ergab sich – fast wie von selbst – eine plausible Erklärung für den großen Meteoritenhagel. Das Nizza-Modell, wie die Theorie mittlerweile in Fachkreisen genannt wird, stellte vieles auf den Kopf, was Astronomen seit mehr als 200 Jahren über die Entwicklung der Planeten zu wissen glaubten. Vor zehn Jahren galt noch, dass sich das Sonnensystem nach seiner Entstehung vor 4,6 Milliarden Jahren nicht mehr wesentlich verändert hat. Die Fachleute nahmen an, dass alle Himmelskörper heute noch da kreisen, wo sie einst entstanden: Gesteinsplaneten und felsige Planetoiden innen, Gasplaneten und eisige Kometen außen.

STÜRMISCHE JUGEND

Dieses klassische, recht statische Bild hat nun ausgedient. Dem Nizza-Modell zufolge war die Jugend des Sonnensystems eine stürmische Zeit, in der die Planeten zum Teil wie wildgewordene Billardkugeln durchs Sonnensystem wirbelten. Während des großen Bombardements erreichte das Chaos seinen Höhepunkt. Die äußeren Planeten räumten einen dichten Trümmerring jenseits des letzten Planeten leer. Erst danach kehrte Ruhe ein.

2005 veröffentlichten Morbidelli und seine Kollegen die Grundlagen ihres Konzepts in drei Artikeln in der Zeitschrift Nature. Seitdem hat das Team immer weitere Puzzlestücke hinzugefügt. Inzwischen gibt es ein fast vollständiges Bild davon, wie Planeten, Monde und Kleinkörper ihren heutigen Platz am Himmel gefunden haben. Das Nizza-Modell setzt an dem Punkt ein, als die junge Sonne noch von einer dichten Scheibe aus Gas und Staub umgeben war. Solche Scheiben verschwinden innerhalb weniger Millionen Jahre. Das zeigen astronomische Beobachtungen junger Sterne. Im inneren Scheibenbereich ist es so heiß, dass flüchtige Stoffe wie Wasser oder Methan als Gas existieren. Weiter außen liegt die sogenannte Schneegrenze. Jenseits dieser Linie kondensiert Wasser zu Eis. Diese Grenze hat einen Sonnenabstand von etwa drei Astronomischen Einheiten (AE). Eine AE ist die Distanz der Erde von der Sonne: rund 150 Millionen Kilometer.

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EMBRYOS JENSEITS DER SCHNEEGRENZE

Das Nizza-Modell beschreibt die turbulente Frühzeit des Sonnensystems folgendermaßen: Jenseits der Schneegrenze wachsen zunächst vier Planeten-Embryos heran. Anfangs bestehen sie wahrscheinlich nur aus einem festen Kern, der schnell ein Mehrfaches der Erdmasse erreicht. Dann sammeln die Babyplaneten Gas direkt aus der Scheibe auf. Die beiden inneren wachsen besonders schnell, sie nehmen vor allem Wasserstoff und Helium auf. Die beiden äußeren schwellen langsamer an – sie horten vorwiegend Wasser, Methan und Ammoniak. Alle vier bewegen sich auf Kreisbahnen in der gleichen Ebene wie der Sonnenäquator. Auf anderen Orbits wären sie so schnell, dass sie viel weniger Materie aufsammeln würden.

Doch die Anziehungskraft der Gasscheibe verändert die Bahnen. Der innere Riesenplanet, Jupiter, ist als Erster ausgewachsen und wirbelt das Gas nun kräftig durcheinander. Als Folge verringert sich sein Drehimpuls, er trudelt langsam auf einer spiralförmigen Kurve immer näher zur Sonne. Dabei nimmt er weiter Material auf, bis er eine ringförmige Lücke in die Gasscheibe gepflügt hat. Das verlangsamt den Sog nach innen zwar, stoppt ihn aber nicht ganz. Denn Jupiter ist weiterhin durch ein kompliziertes Kräftegleichgewicht mit der Gasscheibe verbunden, die sich allmählich näher zur Sonne hin bewegt.

„Man denkt heute, dass es dieser Prozess war, der die Heißen Jupiter so nah an ihre Zentralsterne getrieben hat“, sagt Thomas Henning vom Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg. Heiße Jupiter – Riesenplaneten mit einer Umlaufzeit von wenigen Tagen – machen gut ein Fünftel der rund 500 bislang bekannten Exoplaneten aus. Dem echten Jupiter bleibt dieses Schicksal erspart – dank seines Nachbarn Saturn, wie es die neueste Version des Nizza-Modells nahe legt.

STABILITÄT DURCH SYNCHRONISATION

Demnach wandert Saturn schnell nach innen, bis er Jupiter so nahe kommt, dass er in den Bann seiner Schwerkraft gerät. Die Umlaufperioden synchronisieren sich: Während Jupiter dreimal die Sonne umkreist, vollführt Saturn weiter außen zwei Umläufe. Solche ganzzahligen Verhältnisse zwischen den Umlaufzeiten zweier Himmelskörper, sogenannte Resonanzen, spielen in der Himmelsmechanik eine besondere Rolle: Sie können Bahnen destabilisieren, wie etwa im Planetoidengürtel (siehe Kasten S. 48 „Resonanzen – Taktgeber der Himmelsmechanik“), andererseits aber auch eine besondere Stabilität gewährleisten.

Jupiter und Saturn bleiben trotz ihres relativ geringen Abstands stabil, da ihre Resonanz Störungen ausgleicht. Zudem ändert sich das Kräftegleichgewicht mit der Gasscheibe. Die zwei verbundenen Planeten bewegen sich nicht weiter nach innen, sondern entfernen sich wieder von der Sonne. Computermodelle zeigen, dass zwei resonante Planeten nur dann nach außen wandern, wenn der äußere Planet deutlich leichter ist als der innere. Das ist bei Jupiter und Saturn der Fall. Ihr Massenverhältnis hat deshalb verhindert, dass Jupiter in Richtung Sonne streunte und das Sonnensystem einen Heißen Jupiter bekam.

Jupiter BEI DER MARS-BAHN

Wie weit Jupiter sich in seiner Migrationsphase nach innen vorgewagt hat, ist unklar. Er könnte ungefähr bis zur heutigen Marsbahn gelangt sein, bevor Saturn ihn stoppte. Das zeigen Berechnungen von Alessandro Morbidelli und Kevin Walsh, der heute ebenfalls am Observatoire de la Côte d’Azur forscht. Die Gesteinsplaneten Merkur, Venus, Erde und Mars waren zu jener Zeit noch nicht ausgewachsen. Sie brauchten bis zu 100 Millionen Jahre, um sich zusammenzuklumpen aus zunächst meter- und kilometergroßen, später mondgroßen Embryos. Der weite Vorstoß Jupiters könnte die protoplanetare Scheibe bis zur heutigen Erdbahn leer gefegt haben. Das würde erklären, warum Mars viel kleiner ist, als es Modelle erwarten lassen, berichteten Morbidelli und Walsh im März 2011 auf einer Konferenz in Texas. Auch für die zusammengewürfelte Bevölkerung des Planetoidengürtels, der heute zwischen Mars und Jupiter liegt, bietet Jupiters Exkursion eine Erklärung. Dort landeten sowohl Felsbrocken, die innerhalb der Erdbahn entstanden waren, als auch schmutzige Schneebälle aus der Geburtsregion der Riesenplaneten.

BALLETT DER EISRIESEN

Wie weit Jupiter auch gekommen sein mag – in jedem Fall schließen sich Uranus und Neptun dem Planeten-Ballet an. Die beiden Eisriesen wachsen langsamer als ihre großen Brüder, wandern aber irgendwann rasch nach innen. Dabei landen sie schließlich ebenfalls auf resonanten Bahnen. Als sich der Nebel um die Sonne verflüchtigt, bilden die vier eine kompakte, „ multiresonante“ Konfiguration. Der Abstand zwischen Jupiter und dem äußeren Eisriesen beträgt nur 7 Astronomische Einheiten, heute sind es 25. Trotzdem ist das System stabil, die innige Bindung der vier Brüder könnte Jahrmilliarden überdauern. Doch kurz hinter den Planeten, etwa 13 oder 14 Astronomische Einheiten von der Sonne entfernt, lauert eine Störung: Ein dichter Ring aus den eisigen Resten der Planetenentstehung. Diese sogenannten Planetesimale weisen insgesamt das 30- bis 50-Fache der Erdmasse auf. Dieses Trümmerfeld zerstört nach und nach den Zusammenhalt der Planeten. Immer wieder gelangt ein Brocken in die Nähe von Uranus oder Neptun. Die beiden Eisriesen schleudern die Planetesimale ins innere Sonnensystem, ganz ähnlich wie Raumsonden in sogenannten Swing-by-Manövern durch die Schwerkraft eines Planeten umgelenkt werden. Jupiter dagegen wirft die meisten Irrläufer nach außen. Bei jeder dieser Begegnungen tauschen die Beteiligten wie bei einem elastischen Stoß Energie und Drehimpuls aus, auch wenn sie sich nicht berühren. Wirft ein Planet einen Kleinkörper nach innen, muss er selbst zum Ausgleich ein winziges Stück nach außen rücken. Fliegt das Planetesimal nach außen, muss der Planet eigentlich eine sonnennähere Bahn einnehmen. Im jungen Sonnensystem geht das aber nicht: „Weil die Planeten sich in Resonanz befinden, können sich die Abstände nicht ändern“, erklärt Alessandro Morbidelli. Überschüssige Energie wird stattdessen in die Planetenbahnen gepumpt: Die anfangs kreisrunden Orbits verformen sich allmählich zu Ellipsen. Schließlich, nach einigen Hundert Millionen Jahren, sind die Störungen so groß, dass der fein abgestimmte Takt durcheinander kommt. Und das gründlich. Immer wieder zerrt Jupiters Schwerkraft an seinen Nachbarn, bis die leichten Eisriesen Uranus und Neptun aus ihren Bahnen geworfen werden. Einer der beiden – wahrscheinlich Neptun – gerät dabei auf einen stark exzentrischen Orbit, der die Saturnbahn kreuzt. Innerhalb einiger Zehntausend Jahre kommt er Saturn mehrfach extrem nahe, vielleicht bis auf wenige Millionen Kilometer. Womöglich schleudert Saturn den kleinen Bruder weit hinaus ins Sonnensystem. Vielleicht schießen Saturn und Jupiter ihn auch erst einmal wie eine Flipperkugel zwischen sich hin und her, bevor Jupiter ihn nach außen katapultiert. Ob es Uranus oder Neptun war, der so zum Spielball der Himmelsmechanik wurde, ist unklar: In der Hälfte der Simulationsrechnungen des Morbidelli-Teams tauschen die beiden die Plätze. Demnach ist es durchaus möglich, dass Neptun näher an der Sonne geboren wurde und erst während der „Chaostage“ zum fernsten Planeten wurde.

Den Simulationen zufolge gerieten wohl beide Eisriesen auf stark elliptische Bahnen, die sie mitten in den Trümmergürtel führten. Innerhalb kurzer Zeit fegten sie die einstmals dichte Scheibe fast leer und verursachten dadurch den Meteoritenhagel im inneren Sonnensystem. Ihre eigenen Orbits näherten sich nach und nach wieder einem Kreis – wenn auch nicht völlig. Alle vier äußeren Planeten haben heute noch Bahnen, die ein ganzes Stück vom perfekten Kreis abweichen: Sie sind exzentrisch, wie Astronomen sagen. Jupiters Abstand zur Sonne schwankt zum Beispiel zwischen 816 und 741 Millionen Kilometern. Zwischen den Bahnebenen der Riesenplaneten liegen zudem Winkel von maximal zwei Grad. „Das ist zwar nicht viel, aber doch erheblich mehr, als man eigentlich erwarten würde“, sagt Alessandro Morbidelli.

KOSMISCHE EXZENTRIKER

Einer der ersten Erfolge des Nizza-Modells war, dass es diese Bahneigenschaften erklären konnte: Die Simulationen zeigten, dass die Riesenplaneten durch Resonanzen auf ihre exzentrischen Bahnen gekommen sein müssen. Inzwischen ist klar, dass sich einige weitere Eigenheiten der Orbits nur durch gefährliche Rendezvous von Gas- und Eisriesen erklären lassen.

Die Planetenforscher haben das Nizza-Modell inzwischen weitgehend akzeptiert. „Es ist ein sehr solides Modell, das große Attraktivität besitzt“, urteilt zum Beispiel Max-Planck-Forscher Thomas Henning. Doch es gibt ein paar strittige Punkte, wie Morbidelli zugeben muss: „Natürlich suchen einige Kollegen weiter nach Fehlern.“ Er ist jedoch zuversichtlich, dass sich einzelne derzeit noch rätselhafte Details ohne grundsätzliche Veränderungen des Modells klären lassen. „Zumindest hat bis jetzt noch niemand eine echte Alternative vorgestellt“, sagt Morbidelli.

Die Attraktivität des Nizza-Modells liegt darin, dass es nicht nur die Planetenbahnen erklärt, sondern auch viele Einzelheiten in der Architektur des Sonnensystems. Dafür gibt es etliche Beispiele:

· Das späte Auftreten des großen Meteoritenhagels: Der Zeitpunkt der „Chaostage“ hängt im Nizza-Modell von der Masse und Lage der äußeren Scheibe aus Planetesimalen ab. In den Simulationen dauert es 200 bis 900 Millionen Jahre, bis die Eisriesen anfangen, in der Trümmerscheibe zu marodieren. Der Zeitrahmen stimmt also.

· Die irregulären Monde: Die Riesenplaneten werden in großem Abstand von Schwärmen seltsamer Monde auf ungewöhnlichen Bahnen umkreist. Derzeit sind 93 dieser Exoten bekannt, darunter der 220 Kilometer große Saturnmond Phoebe. Während sich die „regulären“ Monde vermutlich wie in einem Mini-Sonnensystem gemeinsam mit den Planeten bildeten, sind die irregulären Monde eingefangene Vagabunden. Forscher um David Nesvorný vom Southwest Research Institute in Boulder zeigten 2007, dass solche Eroberungen möglich sind, wenn sich zwei Planeten ungewöhnlich nahe kommen. Auch Jupiter muss demnach gefährlich dicht an einem Eisriesen vorbeigekommen sein.

· Die Trojaner: Jupiter teilt seine Bahn mit Zigtausenden Planetoiden. Diese „Trojaner“ bevölkern zwei Gebiete 60 Grad vor und hinter dem Planeten, wo sich die Anziehungskräfte von Sonne und Jupiter ausgleichen. Ursprünglich nahmen die Astronomen an, dass sich diese Kleinkörper gleichzeitig mit dem Planeten bildeten. Sie könnten aber auch in der Chaosphase eingefangen worden sein, legten Morbidelli und Kollegen 2005 dar. Unterschiedliche Herkunftsorte würden erklären, warum manche Trojaner Kometen ähneln, andere dagegen kaum Wasser und organische Stoffe enthalten. Auch die teils um 40 Grad geneigten Bahnen einiger Trojaner passen ins Chaos des Nizza-Modells.

· Der Kuiper-Gürtel: Jenseits der Neptun-Bahn befindet sich ein dünner Ring aus eisigen Kleinplaneten, darunter Pluto und die 2003 sowie 2005 entdeckten Eiskörper Haumea und Makemake. Berechnungen zufolge besitzt der Kuiper-Gürtel zu wenig Masse, als dass dort Objekte wie Pluto mit einem Durchmesser von 2000 Kilometern heranwachsen konnten. Das Nizza-Modell liefert eine einleuchtende Erklärung: Im Kuiper-Gürtel befinden sich die wenigen Überlebenden des dichten Planetesimal-Gürtels, den Neptun und Uranus während der Chaosphase auseinandersprengten. Am Ende blieb nur ein Tausendstel der ursprünglichen Masse übrig.

MERKWÜRDIGES BEI FREMDEN SONNEN

Doch die Nizza-Story ist noch nicht komplett, betont Morbidelli. „Es fehlt noch ein Modell für das Wachstum der Riesenplaneten, bei dem diese am Ende auf den richtigen Orbits landen.“ Aber schon jetzt machen die Modellrechnungen klar, welch ein Zufall die Geburt unseres Sonnensystems war. Wenn die Forscher die Anfangsbedingungen ihrer Simulationen nur ein klein wenig ändern, kommen oft sehr merkwürdige Dinge heraus: Planeten auf stark exzentrischen Bahnen wie Kometen, Planeten, die für immer in Resonanzen gefangen bleiben, oder Planeten, die auf retrograden Bahnen kreisen, das heißt andersherum um die Sonne als diese um sich selbst. Und genau solche seltsamen Planetensysteme entdecken Astronomen immer wieder bei vielen fremden Sonnen. ■

UTE KEHSE ist Wissenschaftsjournalistin in Delmenhorst und regelmäßige bdw-Autorin für geowissenschaftliche und astronomische Themen.

von Ute Kehse

Jupiter und Saturn – Die Folgen der frühen Wanderungen

Wenige Millionen Jahre nach der Geburt des Sonnensystems wanderten Jupiter und Saturn – laut einer Hypothese – weit ins innere Sonnensystem und dann wieder nach außen. Ihr Vorstoß reduzierte zum einen die Masse der Scheibe aus ursprünglichen Felsbrocken (Planetesimalen) in der Nähe der Sonne, aus denen sich später die inneren Planeten von Merkur bis Mars bildeten. Zum anderen entstand durch die Wanderung der beiden Gasriesen der Planetoidengürtel: Zahlreiche Felsbrocken aus der Nähe der Sonne, aber auch kohlenstoffreiche Planetesimale aus ferneren Bezirken des Sonnensystems, wurden in die Region des heutigen Planetoidengürtels geschleudert. Dort bilden sie überlappende Zonen aus felsigen Planetoiden vom S-Typ (reich an Silizium) und C-Typ (reich an Kohlenstoff). Ursprünglich hatten Planetenforscher angenommen, dass beide Planetoidentypen in einer Sonnenentfernung von 300 bis 500 Millionen Kilometern entstanden, dem Zwei- bis Dreifachen der Distanz von Sonne und Erde. Inzwischen hat sich jedoch gezeigt, dass die Planetoiden vom C-Typ viele Gemeinsamkeiten mit Kometen haben und wohl von sonnenferneren Regionen eingewandert sind. Die Gasriesen Uranus und Neptun bildeten sich erst später.

Alessandro Morbidelli

Er bezeichnet sich gern als „Himmelsgeologe“. Zu diesem schillernden Beruf kam der in Norditalien geborene Forscher nach einer eher trockenen Ausbildung: Er studierte Physik in Mailand und promovierte an der Universität von Namur (Belgien) in Mathematik. Dabei hätte er schon in der Masterarbeit gerne ein astronomisches Thema gewählt, fand aber keinen Betreuer. „Ich bin erst durch die Hintertür zur Astronomie gekommen“, sagt der 45-Jährige. Sein physikalisch-mathematischer Hintergrund prädestinierte ihn für die Feinheiten der Himmelsmechanik. Seit 1991 arbeitet Morbidelli am Observatoire de la Côte d’Azur. Für seine Arbeit erhielt er mehrere renommierte Preise, darunter den Urey-Preis der American Astronomical Society und den Preis der französischen Akademie der Wissenschaften. In seiner Freizeit ist er viel in der Natur unterwegs – von der Atacama-Wüste bis zum Gipfel des Mont Blanc. Hätte er noch einmal die Wahl, würde er ,richtige Geologie‘ studieren, wie er sagt – der Feldarbeit wegen.

Resonanzen – Taktgeber der Himmelsmechanik

Wenn die Umlaufperioden zweier Himmelskörper in einem ganzzahligen Verhältnis zueinander stehen, dann beeinflussen sich die beiden stark. Im Planetoidengürtel zwischen Mars und Jupiter gibt es mehrere Lücken, die auf solche Resonanzen zurückgehen. Gelangt ein Planetoid in eine dieser Lücken, verzerrt Jupiters Anziehungskraft die Bahn langsam vom Kreis zur Ellipse. Früher oder später gerät der Planetoid auf Kollisionskurs mit einem Planeten, fällt in die Sonne oder wird aus dem Sonnensystem herausgeschleudert.

Resonanzen können aber auch eine stabilisierende Wirkung haben. So befindet sich Pluto in einer 3-zu-2-Resonanz mit Neptun. Obwohl sein Sonnenabstand teilweise geringer ist als der von Neptun, kommt er dem Eisriesen nie zu nahe. Immer wenn Pluto sich dem Neptun-Orbit nähert, befindet sich der Planet gerade in sicherer Entfernung. Die Jupiter-Monde Io, Europa und Ganymed sind ebenfalls in einer Resonanz gefangen, das Verhältnis ihrer Umlaufzeiten beträgt 1 zu 2 zu 4. Dadurch heben sich die Störungen gegenseitig auf.

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Beiträge über verschiedene Sonnensysteme: bild der wissenschaft 5/2006, 12/2006, 7/2010, 8/2010

Die Suche nach einer zweiten Erde: Sven Piper EXOPLANETEN Springer, Heidelberg 2011, € 24,95

Internet

Homepage von Alessandro Morbidelli: www.oca.eu/morby/

KOMPAKT

· Das Sonnensystem veränderte sich 600 Millionen Jahre nach seiner Geburt noch einmal grundlegend. Die Bahnen der äußeren Planeten wurden instabil, ein gewaltiges Meteoriten-Bombardement traf Erde und Mond.

· Ein neues Modell zeigt, wie sich während dieser Chaostage die heutige Architektur des Sonnensystems entwickelte.

· Die Prozesse, die das Sonnensystem prägten, führen in fremden Planetensystemen zu ganz anderen Konfigurationen.

Planeten mit Migrationshintergrund

Dem Nizza-Modell zufolge veränderte sich das Sonnensystem vor 3,9 Milliarden Jahren drastisch: (1) Nach ihrer Entstehung vor etwa 4,5 Milliarden Jahren liegen die Bahnen der vier äußeren Planeten zunächst dicht beieinander. Weil die Umlaufperioden genau aufeinander „abgestimmt“ sind, ist diese Konfiguration sehr stabil. Eine dichte Scheibe aus eisigen Planetesimalen umgibt die Planeten. Dann kommt das Gleichgewicht allmählich aus dem Takt. Die Bahnen von Uranus und Neptun verformen sich langsam zu Ellipsen. (2) Vor 3,9 Milliarden Jahren bricht das Chaos aus: Uranus und Neptun werden tief in den Gürtel aus Planetesimalen geschleudert und werfen durch ihren Schwerkrafteinfluss viele Kleinkörper aus der Bahn. Im inneren Sonnensystem kommt es zu einem großen Meteoritenhagel. (3) Vor etwa 3,7 Milliarden Jahren erreichen die Planeten erneut eine stabile Konfiguration, in der sie sich bis heute befinden. Sie sind nun viel weiter vonein-ander entfernt als am Anfang. Außerdem: Uranus und Neptun haben wahrscheinlich die Plätze getauscht.

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