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Verflixte Instinkte

Gesellschaft|Psychologie Gesundheit|Medizin

Verflixte Instinkte
Wer eine heikle moralische Entscheidung zu treffen hat, sollte seinen ersten Eingebungen besser nicht trauen. Schon gar nicht, wenn der Boden des Zimmers dreckig ist.

Unbehagen, Zweifel, ein tief sitzendes Gefühl, hin- und hergerissen zu werden: Wenn er es schafft, dass Sie so empfinden, ist Joshua Greene glücklich. Der amerikanische Psychologe ist Erfinder Dutzender von Experimenten, durch die er seine Testpersonen absichtlich in gedankliche Zwickmühlen bringt. So will er den Wurzeln des Moralempfindens auf die Spur kommen.

Zum Beispiel mit folgendem Albtraum: Stellen Sie sich vor, Sie sind Kapitän und mit Ihrem Schiff auf dem offenen Meer unterwegs. Plötzlich erhalten Sie einen Funkspruch und werden gebeten, einen in Seenot geratenen Mann zu retten. Natürlich nehmen Sie Kurs auf den Ertrinkenden. Doch wenig später erreicht Sie ein zweiter Funkspruch: In entgegengesetzter Richtung sind mehrere Menschen schiffbrüchig und in höchster Not. Sie müssen sich entscheiden: Wen retten Sie?

Was genau bei diesem Tauziehen im Gehirn passiert, verfolgte Joshua Greene im letzten Jahr an Bildschirmen im Moral Cognition Lab an der Harvard University. Seine Probanden lagen in einem Magnetresonanztomographen, der in den Momenten der Entscheidung – ein einziges Leben retten oder aber mehrere – Gehirnscans von ihnen aufnahm. Auf Greenes Monitoren flammten Hirnregionen mit gesteigertem Sauerstoffumsatz orangefarben auf – ein Hinweis, dass an genau diesen Stellen gerade viel geistige Arbeit geleistet wurde.

DA STAUNTE JOSHUA GREENE

Das Ergebnis überraschte den Forscher. Nicht etwa, dass die meisten seiner Probanden angaben, den einzelnen Schiffbrüchigen retten zu wollen – schon lange ist bekannt, dass wir den Wert eines individuellen Menschenlebens weniger hoch ansetzen, sobald es als Teil einer Gruppe auf dem Spiel steht. Wie sonst wäre es beispielsweise zu erklären, dass am 7. Oktober 2011 in den USA die vermeintliche Entführung eines Kleinkindes aus Kansas die Schlagzeilen beherrschte, während am gleichen Tag – exakt dem zehnten Jahrestag des Kriegseinsatzes in Afghanistan – Tausende von US-Soldaten in Lebensgefahr schwebten, unbeachtet und unerwähnt. Nein, die Überraschung für den jungen Harvard-Psychologen waren die Monitorbilder selbst.

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„In dieser Situation waren ungewöhnliche Gehirnregionen aktiv“ , stellte der Studienleiter fest. Denn bei seinen „Kapitänen“ leuchtete die Inselrinde auf, eine Region, die normalerweise für die Abschätzung von Wahrscheinlichkeit und Risiko zuständig ist, ferner das Ventrale Striatum, das Größe und Ausmaß von Dingen bewertet. „Im Alltag verlassen wir uns auf diese Areale, wenn wir ökonomische Entscheidungen treffen – also ob wir 30 oder 50 Dollar für etwas ausgeben, oder in welchem Restaurant wir abends essen wollen“, erklärt Greene.

Warum Menschen das gleiche System benutzen, wenn es um die Bewertung von Leben geht, liegt möglicherweise in der Entwicklungsgeschichte begründet. „Es ist nur eine Hypothese“, betont der Moralforscher, „aber diese Regionen sind wohl entstanden, um uns beim Sammeln von Nahrung zu helfen. Wenn man keinen Apfel hat, dann ist ein einzelner viel wert. Besitzt man hingegen viele Äpfel, macht ein zusätzlicher wenig Unterschied.“

KONTROLLE gegen GEFÜHL

Ganz sicher ist Joshua Greene, dass es in unseren Gehirnen keinen obersten Moral-Apostel gibt. „Bei einem moralischen Dilemma findet immer ein Wechselspiel statt zwischen aktiven Kontrollvorgängen und automatischen Gefühlsprozessen“, betont der Forscher und entwirft eine typische Szene: Stellen Sie sich vor, es ist Krieg. Sie verstecken sich mit anderen Zivilisten in einem Keller. Draußen suchen feindliche Soldaten nach Ihnen. Plötzlich fängt Ihr Baby an zu weinen, und Sie können es nicht beruhigen. Würden Sie es ersticken, um sich und die anderen vor dem sicheren Tod zu retten?

Bereits vor einigen Jahren hat Greene mithilfe seiner Tomographie-Aufnahmen gezeigt, dass im Gehirn bei diesem „ Baby-Szenario“ stets zwei unterschiedliche Areale aktiv sind. Zum einen ist es der Präfrontale Cortex, eine Region an der Stirnseite des Gehirns, die mit kognitiver Kontrolle und vernunftbetontem Nachdenken assoziiert ist. Diese Region meldet, dass es sinnvoll ist, ein einzelnes Leben zu opfern, um damit viele weitere zu retten. Die zweite aktive Region umfasst Teile der vorderen und oberen Großhirnrinde, in der Gefühle entstehen und verarbeitet werden. Sie sorgen für das lähmende Entsetzen, das beim Gedanken an die Tötung des eigenen Kindes entsteht. „Das ist der Grund, warum wir uns in derartigen Momenten so hin- und hergerissen fühlen“, verdeutlicht Greene.

DRECK BEEINFLUSST ENTSCHEIDUNGEN

Warum ein Mensch am Ende eine bestimmte Entscheidung trifft, ist nicht auf den Punkt zu bringen. Anscheinend spielen die Gefühle und Umstände im Moment der Entscheidungsfindung eine wichtige Rolle: So stellte die britische Psychologin Simone Schnall von der University of Cambridge fest, dass Probanden härtere moralische Urteile fällen, sobald sie sich in einer schmutzigen Umgebung aufhalten. Testpersonen in Schnalls Studie, die sich in einem sauberen Zimmer befanden, urteilten weit milder über Lebenslauffälscher oder über Leute, die gefundene Brieftaschen nicht zurückgeben.

„Es macht einen großen Unterschied, ob wir uns in solchen Situationen wohlfühlen oder nicht“, meint auch David Pizarro. Der amerikanische Psychologe versprühte in seinem Labor an der Cornell University in Ithaca, New York, übelriechendes Furzspray aus einem Scherzartikelladen. Dann ließ er seine Probanden einen Fragebogen zum Thema Homosexualität ausfüllen. Diejenigen, die ihre Antworten während des Gestanks zu Papier brachten, bezeugten eine deutlich negativere Einstellung gegenüber schwulen Männern als die Befragten in einem neutral riechenden Raum.

„Der Ekel vor Gestank, insbesondere vor dem Geruch von Kot oder Erbrochenem, ist ein Erbe unserer Evolution und soll uns vor Krankheiten schützen“, erklärt Pizarro. Dass dieser Mechanismus auch greift, sobald wir über Menschen außerhalb unseres Kulturkreises oder über für uns unübliche Sexualpraktiken urteilen, könnte ebenfalls ein evolutionäres Erbe sein. Pizarro erklärt: „Es war möglicherweise ein Vorteil, sich von fremden Gruppen fernzuhalten, für deren Krankheitskeime man keine Immunität entwickelt hatte. Ihnen gegenüber mit Ekel zu reagieren, weil sie irgendwie regelverstoßend erschienen, war eventuell ein Teil eines verhaltensbasierten Immunsystems.“

PUTZMITTEL MACHEN KONSERVATIV

Dies könnte auch das Ergebnis einer Studie von kanadischen Forschern der University of British Columbia erklären. Sie zeigten Testpersonen unterschiedliche Aufnahmen, auf denen Gefahren dargestellt waren – ein Föhn, der über einer Badewanne hängt, ein Schulbus kurz vor einem Crash und ein Comic, in dem eine Frau Bakterien in der Küche mit Putzmitteln bekämpft. Das erstaunliche Resultat: Probanden, die den Comic gesehen hatten, bekundeten eine deutlich negativere Einstellung zu Immigranten aus Nigeria als alle anderen Versuchsteilnehmer.

Dass jedoch schon der Anblick einer Flasche Desinfektionsmittel unsere politische Haltung nach rechts verschieben kann, hätte auch David Pizarro nicht für möglich gehalten. 2011 befragte er seine Studenten in Ithaca nach ihrer Einstellung gegenüber sozialen und steuerlichen Themen. Probanden, neben deren Fragebogen „zufällig“ eine Flasche Sterillium stand, gaben deutlich konservativere Antworten.

Wie soll man sich auf sein moralisches Urteilsvermögen verlassen können, wenn es durch die bloße Anwesenheit eines Drogerieartikels beeinflusst wird? Joshua Greene sieht das inzwischen sehr illusionslos: „Glauben Sie nicht alles, was Sie denken“, empfiehlt ein Sticker an der Wand in seinem Büro. „Was wir ‚gesunden Menschenverstand‘ nennen, ist dafür ausgelegt, sich in einer Welt von Jägern und Sammlern zurechtzufinden, und nicht, um im 21. Jahrhundert Frieden und Glück zu verbreiten.“

Um einen Tipp gebeten, sagt der Harvard-Forscher: Die einzige Lösung sei es, ein gesundes Misstrauen gegen unsere Instinkte zu entwickeln. In einigen Bereichen sei das schon gelungen, etwa bei der Aufhebung der Rassentrennung oder bei der Gleichberechtigung der Frau. Joshua Greene rät: „Wir müssen unsere Gefühle beiseite schieben und ein bisschen mehr nachdenken.“ ■

US-Korrespondentin DÉSIRÉE KARGE ist sehr beeindruckt davon, wie Jahrtausende alte Instinkte in rationale Entscheidungen hineinspuken.

von Désirée Karge

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