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Missverständnis Zukunft

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Missverständnis Zukunft
In der Oktoberausgabe 2008 berichtete bdw kritisch über die Zukunfts- und Trendforschung. Matthias Horx, Gründer und Leiter der Zukunftsinstituts in Kelkheim, über seine konträre Sicht der Dinge.

Kann man die Zukunft vorhersagen? Die Frage ist so alt wie die Menschheit. Und seit sie existiert, gibt es den heillosen Streit darum, wer unter welchen Konditionen dazu berechtigt sein könnte. In der öffentlichen Wahrnehmung herrscht eine seltsame Schizophrenie in Sachen Zukunft. Dass man über sie „eigentlich gar nichts sagen“ könne, ist Teil eine kollektiven Überzeugung – nur um gleich darauf den „Wirtschaftsweisen“ aufs Wort zu glauben, die für viel (Staats-)Geld die Konjunktur voraussagen. Oder den Klimaforschern, deren diverse Prognosen zum Anstieg der Welttemperatur ungefragt in jeden Fernsehbericht übernommen werden – Hauptsache drastisch.

Fest steht: Es gibt kaum eine Erfindung im Technischen, keine Wandlungen des Sozialen, die nicht vorausgesagt wurden – vom Auto bis zu Internet und Cyberspace, vom Sozialstaat über die Emanzipation bis zum demografischen Wandel. Selbst scheinbar völlig unvorhersehbare Ereignisse wie der Fall der Sowjetunion und der 11. September hatten ihre „Seher“. Natürlich nicht datumsgenau – das wäre Prophezeiung –, aber im Sachverhalt durchaus präzise. So lässt sich in einem Text der Fachzeitung „ The Futurist“ von 1999 nachlesen, dass „die Vereinigten Staaten in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts sehr wahrscheinlich Opfer von hochtechnologischen Angriffen von islamistischen Terroristen werden“. Das Problem damals: Niemand interessierte sich für solche „wilden Spekulationen“. Ebenso wenig wie für die vielen Prognosen von 2005 und 2006, in denen das Platzen der Immobilienblase in den USA inklusive aller Folgen prognostiziert wurde.

Querdenker mit gutem Riecher

Diese Beispiele zeigen: Prognostik beinhaltet immer ein Sender-Empfänger-Problem: Eine Prognose ist stets ein Kommunikationssystem, das aus den Aussagen einerseits und dem Erwartungsumfeld – der Gesellschaft, der Medien, der Publizistik, der Unternehmen, Interessengruppen und Individuen – andererseits besteht. Bemerkenswert ist auch, dass die Volltreffer der Prognostik fast nie von Fachleuten stammen. Und auch, das muss man ehrlich sagen, nur selten von „Futuristen“. Die besten Prognose-Ergebnisse erzielten universalistische Querdenker – Menschen, die die verschiedenen Wissenschafts- und Erkenntnisdisziplinen plausibel verbinden konnten. Mit viel gesundem Menschenverstand und meist völlig abseits der Medienwahrnehmung. Man kann Aussagen über die Zukunft machen, die verblüffend wahr sind. Die Frage ist jedoch: Wie geht es? Welche „ Tools“, welche Denkweisen, kognitiven Ansätze, lassen sich nutzen und weiterentwickeln?

Am Anfang der Antwort steht ein Verwechslungsproblem. Trendforschung wird in praktisch allen öffentlichen Diskursen mit Zukunftsforschung in einen übergroßen Topf geworfen. Von „ Zukunftstrends“ reden Journalisten, die sich nur unwillig und oberflächlich mit der Materie beschäftigen. Die Frage „Welche Trends sagen Sie voraus?“ zeugt von einem fundamentalen methodischen Unverständnis. Trend- und Zukunftsforscher würden Trends „erfinden“ oder bestenfalls „triviale“, von seriösen Wissenschaften längst beschriebene Phänomene analysieren – das ist der Tenor in der Titelgeschichte von bdw 10/2008. Trendforschung aber ist, wie der Name schon sagt, eine Disziplin, die sich mit aktuellen Veränderungsprozessen beschäftigt – und versucht diese darzustellen, zu belegen und zu kartografieren. Trends können in verschiedenen Ebenen verortet sein und verschiedene „Treiber“ haben – es gibt ökonomische, soziokulturelle, stilistische Trends in verschiedenen Dimensionen.

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Kunden der Trendforschung im Bereich der Konsumgüter erwarten etwas anderes als nüchterne Betrachtungen, die etwa ein Versicherungskonzern von prognostischer Arbeit erwarten würde. Was als „marktschreierische Publizität“ beschimpft wird, ist der Versuch, mit Sprachwitz und -kreativität zu arbeiten – bewusst und gegenüber dem Kunden deutlich ausgewiesen. Dass im Hintergrund schillernder Begriffe markt- und meinungsforscherische harte Fakten vorliegen, wird bei oberflächlicher Betrachtung nicht immer deutlich. Doch Ruf und Geschäft eines Trend- und Zukunftsforschungs-Unternehmens wie des Kelkheimer Zukunftsinstituts hängen davon ab, dass es auf einer soliden Datenbasis arbeitet.

produktive Störenfriede

Die Gefahr ist in der Tat, dem Kunden „nach dem Marketing-Mund“ zu reden. Wir sehen unsere Arbeit und Dienstleistung aber bewusst anders als in einer verlängerten Marketing-Funktion für den Verkauf von, sagen wir, mehr rosabunten Zahnbürsten, die angeblich „im Trend liegen“. Wir sehen uns als „produktive Störenfriede“. Kundengruppen aus Marketing und Produktentwicklung sind eher mit Ansätzen aus der Trendforschung zu bedienen. Management- und Strategieberatung verlangt einen höheren Anteil an Zukunftsforschungsmethoden. In manchen Ländern wie Finnland haben akademisch verankerte Methoden der Zukunftsforschung heute einen anerkannten Stellenwert in der strategischen Politikberatung.

Trendforschung neigt zum Empirisch-Partikularen, während Zukunftsforschung eine Tendenz zum Interdisziplinären aufweist, die sie, aus Sicht der Teilwissenschaften stets angreifbar und unwissenschaftlich macht. Und in dieser neuen Interdisziplinarität werden meta-wissenschaftliche, transdisziplinäre Diskurse spannend, die im bdw-Artikel noch nicht einmal angedeutet wurden. Auch das Internet mit seinen enormen Potenzialen zur Wissensgeneration spielt in der modernen Futurologie eine immer wichtigere Rolle – und ändert Methoden wie Zugänge erheblich. Unter dem Schlagwort „Crowdsourcing the Future“ werden derzeit mediengestützte Simulations-Zugänge zu möglichen Zukünften erarbeitet, die die alten Delphi-Methoden erheblich verbessern können. Der derzeitige Diskurs über die Zukunftsforschung handelt kaum von methodischen Fragen. Es geht vielmehr um Anrechts- und Deutungshoheiten. Einer der Kronzeugen ist Holger Rust, der seit Jahren mit der Denunziation einer gesamten Branche – mit der er schlichtweg konkurriert – Aufmerksamkeit erzeugt. Er lebt davon, serienweise polemische Bücher gegen „die Trendforschung“ zu veröffentlichen. Es sei daher eine Trend-Diagnose (und leider auch Prognose) erlaubt: Immer mehr Medien präferieren im Kampf um die Aufmerksamkeit die einfache personale Polemik gegenüber der abwägenden Auseinandersetzung. Leider auch Wissenschafts-Zeitschriften. ■

von Matthias Horx

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Lesen Sie die Debatte über die Trend- und Zukunftsforschung unter: www.zukunftsinstitut.de/ missverstaendniszukunft

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