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HEISSE HAUFEN

Astronomie|Physik

HEISSE HAUFEN
Zwischen den Galaxien steckt eine ungeheuere Energie – und der größte Teil der Materie im Weltall. Mit empfindlichen Röntgenobservatorien in der Erdumlaufbahn kommen Astrophysiker den brachialsten Prozessen seit dem Urknall auf die Spur.

Hans Böhringer sieht das Universum mit Röntgenblick – mehr als 100 000 Kilometer über dem Erdboden. Dort inspizieren die beiden Satelliten XMM-Newton und Chandra die heiße Seite des Weltraums. Der Astrophysiker am Max-Planck-Institut für Extraterrestrische Physik ist Spezialist für die massereichsten Objekte im Universum: die Galaxienhaufen. Sie bestehen aus mehreren Hundert bis 1000 Galaxien unterschiedlicher Größe und Gestalt. Sie haben eine Ausdehnung von typischerweise 10 Millionen Lichtjahren und die Masse von 100 bis 1000 Billionen Sonnen. „Diese fundamentalen Bausteine unseres Alls lassen sich als faszinierende astrophysikalische Laboratorien betrachten“, sagt Böhringer. „Sie geben Auskunft über die Struktur des Universums – ähnlich wie die Sterne über die Struktur der Milchstraße.“

WELTRAUM-REKORDE

Galaxienhaufen sind kosmische Superlative: Sie stellen Welt(raum)rekorde auf. Mit ihrer riesigen Masse lenken sie das Licht von Hintergrundquellen am stärksten ab – der schon von Albert Einstein beschriebene Gravitationslinseneffekt. Neben den Quasaren sind Galaxienhaufen die leuchtkräftigsten Röntgenquellen im All. Sie haben eine Strahlungsleistung von 1036 bis 1039 Joule pro Sekunde. Das entspricht der Leistung von bis zu 300 Supernovae jährlich.

Diese Röntgenstrahlung stammt aus dem heißen Gas zwischen den Galaxien eines Haufens. Astronomen sprechen vom „Intracluster Medium“ (ICM), dem Medium innerhalb der Haufen. Es besteht überwiegend aus ionisiertem Wasserstoff und Helium. Die Röntgenstrahlung stammt hauptsächlich von beschleunigten Elektronen beziehungsweise Beinahe-Kollisionen von Elektronen und Ionen im Plasma. Mit Temperaturen von bis zu 100 Millionen Grad – zehnmal mehr als im Zentrum der Sonne – ist das ICM das heißeste thermische Plasma im heutigen Weltraum. So heiß war er überall sonst nur in der ersten Minute nach dem Urknall. Dass nicht die Galaxien selbst die meiste Röntgenstrahlung aussenden, sondern das heiße Gas zwischen ihnen, haben Astronomen schon Anfang der 1970er-Jahre entdeckt: Der Satellit Uhuru konnte erstmals die ausgedehnte Natur der Röntgenquellen nachweisen. Die erste Beobachtung eines Galaxienhaufens im Schein der energiereichen Strahlung war bereits 1966 mit dem Virgohaufen gelungen. Genauer: mit dem Nachweis der Röntgenstrahlung seines größten Mitglieds: M 87, eine gut 50 Millionen Lichtjahre ferne riesige Elliptische Galaxie. Sie beherrscht diesen uns nächstgelegenen Galaxienhaufen, zu dessen äußeren Ausläufern auch die Milchstraße gehört.

ENTFESSELTE ENERGIEN

Die kosmischen Höchsttemperaturen haben zwei Ursachen: Zunächst sind sie ein Relikt aus der Entstehung der Galaxienhaufen, als sich die Materie aus dem Urgas verdichtet hat. Außerdem sind sie die Folge brachialer Kollisionen. Denn aufgrund ihrer großen Masse ziehen Galaxienhaufen benachbarte Galaxiengruppen und -haufen an. Es kommt zwar selten zu direkten Karambolagen zwischen den Galaxien und fast nie zu Zusammenstößen einzelner Sterne. Doch die leuchtenden Welteninseln schwirren wie aufgeregte Mückenschwärme durcheinander, teils mit Geschwindigkeiten von 2000 Kilometer pro Sekunde. Dabei prallen die intergalaktischen Gasmassen zusammen. Hochenergetische Stoßfronten entstehen, das ICM heizt sich auf. „Die Verschmelzung ganzer Gruppen und Haufen von Galaxien sind die energiereichsten Prozesse nach dem Urknall. Dabei wird eine Gravitationsenergie von über 1057 Joule frei“, sagt Böhringer. Das ICM ist nur für Röntgenastronomen zugänglich, im sichtbaren Licht lässt es sich nicht beobachten. Dabei übertrifft seine Masse die der leuchtenden Materie – also von Sternen und Gas zwischen ihnen – um das Fünf- bis Sechsfache. „Das ICM ist also die größte im elektromagnetischen Spektrum nachweisbare Materiekomponente“, sagt Böhringer. „Und es charakterisiert die Gesamtstruktur der Galaxienhaufen am besten.“ Der größte Teil der Masse ist allerdings völlig unsichtbar, auch für Röntgenastronomen, da sie keinerlei elektromagnetische Strahlung abgibt. Astrophysiker sprechen von „Dunkler Materie“. In ihr sind die Galaxien eingebettet, und sie erfüllt auch den intergalaktischen Raum.

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Vermutlich besteht die Dunkle Materie aus noch unbekannten Elementarteilchen, die bereits im Urknall entstanden sind. Zufällig dichtere Ansammlungen von ihnen waren die Keime der späteren Galaxien. Kosmologen schätzen, dass in einem typischen Galaxienhaufen 78 bis 87 Prozent der Masse Dunkle Materie ist. Höchstens ein Fünftel der Materie im All besteht also aus den vertrauten Protonen, Neutronen und Elektronen – genau wie wir selbst. 11 bis 14 Prozent der Gesamtmasse liefert das ICM. Und nur 2 bis 6 Prozent entfallen auf die Sterne, Planeten und das leuchtende Gas in den Galaxien. Die große Mehrheit des Stoffs, aus dem die Welt besteht, bleibt also dem menschlichen Auge verborgen.

INTERGALAKTISCHE ARCHÄOLOGIE

Die modernen Röntgenteleskope sind so empfindlich, dass sie inzwischen auch die Spurenelemente im ICM nachweisen können. Besonders auffällig im Röntgenspektrum ist eine Emissionslinie des Eisens, die bei Galaxienhaufen schon Mitte der 1970er-Jahre gemessen wurde. Sie lässt sich sogar als „Thermometer“ für das ICM verwenden. Zwei Jahrzehnte später wies der japanische Röntgensatellit ASCA (Advanced Satellite for Cosmology and Astrophysics) weitere schwere Elemente nach. Inzwischen ist klar, das Sternexplosionen die Hauptquellen dafür sind – ihre Trümmerwolken „verschmutzen“ das ICM.

Elemente wie Sauerstoff und Magnesium stammen überwiegend von Supernovae des Typ II, das heißt von kollabierenden ausgebrannten Riesensternen. Eisen, Silizium und Schwefel dagegen werden hauptsächlich von Supernovae des Typ Ia ins All geschleudert, also bei den thermonuklearen Explosionen Weißer Zwergsterne, die sich Masse von nahen Nachbarsternen einverleibt haben. Aus der Verteilung der schweren Elemente im ICM können Astrophysiker Rückschlüsse auf die Stern- und Galaxienbildung in der Vergangenheit ziehen – mithin eine Art intergalaktische Archäologie betreiben. Denn die Typ-II-Explosionen ereigneten sich vor allem in der Frühzeit der Haufenbildung, als die Sterne noch jung waren. Die Elemente aus diesen Quellen sind daher homogener verteilt als die der Typ-Ia-Supernovae, die auch heute noch häufig aufflammen und räumlich stärker begrenzte Spuren hinterlassen. In der dichten Zentralregion eines Galaxienhaufens wird das ICM zudem durch die Massenverluste der Sterne in den Galaxien angereichert. „So entfallen von den zwei Milliarden Sonnenmassen an Gas in der 30 000 Lichtjahre weiten Umgebung um M 87 rund sechs Millionen Sonnenmassen auf Eisen“, beziffert Böhringer den Anteil der kosmischen „Spurenelemente“.

Bereits die Röntgensatelliten HEAO-1 und -2 (High Energy Astronomy Observatory) haben Ende der 1970er-Jahre einige 100 Galaxienhaufen entdeckt. Der Durchbruch kam aber erst mit ROSAT in den 1990er-Jahren, der die erste gesamte Himmelsdurchmusterung im Röntgenbereich erstellte. Im Atlas „ROSAT All-Sky Survey“ verbergen sich vermutlich 8000 bis 10 000 Haufen, von denen erst 2000 identifiziert sind. Sie sind nicht streng homogen verteilt, sondern klumpig – entsprechend der Seifenschaum-Struktur des Universums mit den Galaxien(super)-haufen um riesige Leerräume. Die Zahl der Röntgenhaufen nimmt mit wachsender Distanz ab. Weiter als 7,5 Milliarden Lichtjahre entfernt sind nur wenige Haufen bekannt, dagegen rund 1000 mit Distanzen innerhalb von maximal 3,5 Milliarden Lichtjahren. Das liegt zum einen an der schwierigen Nachweisbarkeit ferner Haufen, aber auch daran, dass die Zahl der massereichsten und leuchtkräftigsten unter ihnen (über eine Billiarde Sonnenmassen) in großer Entfernung um das Dreifache abnimmt. „Das ist ein starkes Indiz für die hierarchische Bildung der Galaxienhaufen“, sagt Böhringer. Die kleineren Strukturen haben sich demnach vor den größeren gebildet: Zunächst die ersten Sterne, dann Galaxien, Haufen und schließlich Superhaufen.

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Lange war der „ROSAT Faint Source Catalogue“ mit seinen 150 000 Röntgenquellen das umfangreichste Datenreservoir. Seit September 2007 gibt es einen noch größeren Katalog: 2XMM, der auf Zufallsbeobachtungen von XMM-Newton basiert. Seit September 2001 bleiben dessen drei Teleskope geöffnet, während der Satellit auf ein neues Beobachtungsziel schwenkt. Zwar sind die Instrumente dabei nur zehn Sekunden lang auf eine Stelle am Himmel ausgerichtet, doch überdecken die so registrierten Streifen bereits in 2XMM ein Viertel des Himmels. Bis 2010 dürfte fast der ganze Himmel abgetastet sein.

„2XMM schlägt die besten bisherigen Durchmusterungen – und ist sogar umsonst“, freut sich Andy Read von der Leicester University angesichts des „Abfallprodukts“, das keine speziellen Beobachtungen erfordert. 2XMM ist die Frucht von sechs Jahren Arbeit am XMM-Newton Survey Science Center, dem Zusammenschluss zehn verschiedener europäischer Institute. Knapp 246 000 Röntgenquellen sind in diesem Katalog bisher verzeichnet. Darunter gibt es zwar viele Dubletten, aber die Mehrfacheinträge haben auch einen Wert. Denn sie zeigen, dass sich die Leuchtkraft mancher Quellen beträchtlich ändern kann, innerhalb von 100 Sekunden teils um das Zehnmilliardenfache. Unter den 192 000 verschiedenen Quellen in 2XMM sind Tausende von Röntgenhaufen.

Den bis vor Kurzem fernsten bekannten Röntgengalaxienhaufen haben Hans Böhringer und seine Kollegen im Jahr 2005 entdeckt. Es war ein Zufallsfund, als XMM-Newton die am Himmel benachbarte, aber viel näher gelegene Galaxie NGC 7313 zwölf Stunden lang ins Visier nahm. Der Haufen trägt die nüchterne Katalogbezeichnung XMMU J2235.3–2557 und ist rund neun Milliarden Lichtjahre entfernt. „Wir haben nur 280 Photonen von ihm gemessen, im Schnitt also nur ein Lichtteilchen alle zweieinhalb Minuten“, sagt Böhringer. Zum Vergleich: In einem menschlichen Auge würde etwa diese Photonenzahl eintreffen, wenn es eine herkömmliche 100-Watt-Glühbirne in der Entfernung des Mondes anschaute.

Später nahmen sich die Astronomen den rötlichen Galaxienhaufen mit dem Very Large Telescope der Europäischen Südsternwarte ESO in Chile auch im sichtbaren Licht vor. „Das ist ein Bild des jugendlichen Universums, als es nur etwa ein Drittel so alt war wie heute“, kommentiert Christopher Mullis von der University of Michigan. Der ESO-Astronom Piero Rosati ergänzt: „Das Foto zeigt etwas Erstaunliches: Schon in dieser frühen Periode der kosmischen Geschichte sehen wir eine riesige, voll entwickelte Struktur. Das kann nur heißen, dass wir es mit einem alten Galaxienhaufen in einem jungen Universum zu tun haben.“

KOSMISCHE KENNZIFFERN

Die Röntgenastronomie liefert somit auch wichtige Beiträge zur Kosmologie – zur Entwicklung des Universums und zu dessen fundamentalen Kennziffern. Die Studien zeigen, dass die ferneren und näheren Galaxienhaufen viel gemeinsam haben. Ihre Struktur ist, abgesehen von der Größe, zwar nicht identisch – sie sind also nicht „stark selbstähnlich“ wie ein echtes Auto seinem Spielzeugmodell. Sie sind jedoch auch nicht so verschieden wie ein Schloss und ein Reihenhaus, das man auf Schlossmaße vergrößert. Aber sie sind „schwach selbstähnlich“, wie Ben Maughan von der University of Bristol und sein Team herausfanden. Die Wissenschaftler hatten mit XMM-Newton und Chandra elf Galaxienhaufen von 200 bis 1100 Sonnenmassen in einer Entfernung von sechs bis acht Milliarden Lichtjahre ins Visier. Ergebnis: Die Masse der fernen Haufen lässt sich erschließen, wenn man die der näher gelegenen kennt und die von der Schwerkraft geprägte Entwicklung berücksichtigt. „Unsere Forschungen helfen, die kosmischen Parameter stark einzugrenzen“, freut sich Böhringer. Zu diesen Kennzahlen unseres Universums gehören Alter, Ausdehnungsrate, mittlere Dichte, das Verhältnis der normalen Materie zur Dunklen Materie und zur Dunklen Energie sowie die Stärke der Dichteschwankungen im Urgas.

Die wichtigste Erkenntnis der letzten Jahre ist, dass alle Messungen mit ganz unterschiedlichen, unabhängigen Methoden sehr gut übereinstimmen und ein konsistentes Bild ergeben. Dazu hat die Röntgenastronomie wesentlich beitragen. So zeigten die Galaxienhaufen-Studien, dass die Dichte der Materie – Dunkle Materie inklusive – etwa ein Drittel des kritischen Werts beträgt, bei dem das Universum großräumig „flach“ ist, also nicht gekrümmt. Die Zweidrittelmehrheit stellt die ominöse Dunkle Energie, die heute zu einer beschleunigten Ausdehnung des Weltraums führt.

Auch die „Klumpigkeit“ des frühen Universums lässt sich mithilfe der Galaxienhaufen abschätzen – anhand deren Häufigkeit abhängig von der Distanz. Den physikalischen Parameter für die Klumpigkeit nennen Kosmologen Sigma-8. Er ist ein Maß für die Stärke der Schwankungen im fast gleichförmigen Urgas. Je stärker die Fluktuationen waren, desto rascher und häufiger bildeten sich Galaxienhaufen. Sigma-8 liegt zwischen 0,55 bis 0,83. Da die Haufenzahl von den Eigenschaften der Dunklen Energie abhängt, helfen die Röntgendaten auch bei deren Charakterisierung. Und sogar eine unabhängige Bestimmung der Hubble-Konstante ist Röntgenastronomen kürzlich gelungen. Sie gibt an, wie rasch sich der Weltraum heute ausdehnt: In jeder Sekunde wächst ein 1 Megaparsec weites Gebiet zwischen den Galaxienhaufen um 72 plus/minus 8 Kilometer, so der momentan favorisierte Wert (1 Megaparsec sind 3,26 Millionen Lichtjahre).

DER REST VOM FEUERBALL

Messungen mit dem Chandra-Observatorium von Max Bonamente, University of Alabama in Huntsville, bei 38 Haufen in 1,4 bis 9,3 Milliarden Lichtjahren Entfernung ergaben eine Hubble-Konstante von 77 (mit einer Unsicherheit von 15 Prozent). Das stimmt sehr gut mit den Werten der anderen Methoden überein. Dabei hangelten sich Bonamente und seine Kollegen nicht über eine „kosmische Entfernungsleiter“ in große Distanzen vor, was bei den üblichen Messungen nötig ist und systematische Fehler haben kann. Sondern sie machten sich den sogenannten SZ-Effekt zunutze, der schon 1969 von den sowjetischen Kosmologen Rashid Sunyaev und Yakov Borisovich Zel’dovich entdeckt wurde. Er besagt, dass das heiße ICM den kühlen Photonen der Kosmischen Hintergrundstrahlung etwas Energie abgibt. Die extrem gleichförmige Hintergrundstrahlung stammt aus dem Feuerballstadium des frühen Universums, 380 000 Jahre nach dem Urknall, als der Weltraum durchsichtig wurde. Sie ist das Relikt des ersten Lichts und heute mit Radioteleskopen im Mikrowellenbereich nachweisbar.

Als Folge der Dichteschwankungen im Urgas variiert die Temperatur der Hintergrundstrahlung um wenige Hunderttausendstel Grad. Wo die Photonen der Hintergrundstrahlung mit den energiereichen Elektronen des ICM wechselwirken, gewinnen sie statistisch etwas Energie. Diese lokale Erwärmung in der Hintergrundstrahlung ist mit Radioteleskopen tatsächlich messbar – und dadurch wurden schon mehrfach Galaxienhaufen entdeckt.

Der SZ-Effekt ist unabhängig von der Entfernung. Daher können Astrophysiker, wenn sie die Dichte und Temperatur des ICM kennen, mit rein geometrischen Methoden die Haufendistanz bestimmen und Rückschlüsse auf die Hubble-Konstante ziehen. Das hilft bei der Beantwortung der alten Menschheitsfrage, wie das Universum entstanden ist und woraus es besteht. „Ich finde es sehr erstaunlich“, sagt Hans Böhringer, „dass die moderne Kosmologie mit ganz klaren, mathematisch schönen Konzepten Antworten geben kann.“ ■

von Rüdiger Vaas

Die Röntgenspäher

Seit 1999 umrunden die leistungsfähigsten Röntgensatelliten aller Zeiten die Erde und liefern mit großer Zuverlässigkeit fantastische Daten von der heißen Seite des Universums. Das Chandra-Observatorium (links) wurde am 23. Juli 1999 von der Space Shuttle Columbia auf eine 10 000 bis 140 000 Kilometer hohe Umlaufbahn gebracht. Der 4,8 Tonnen schwere Satellit macht die bislang schärfsten Röntgenaufnahmen vom All – mit einer Auflösung von bis zu 0,5 Bogensekunden. XMM-Newton (X-ray Multi-Mirror) (rechts) hat zwar nur ein Zehntel des Auflösungsvermögens von Chandra. Doch mit seinen drei Wolter-Teleskopen aus 58 ineinander verschachtelten dünnen, bis zu 70 Zentimeter großen Spiegelschalen ist XMM-Newton das bislang empfindlichste Röntgenobservatorium und ideal für präzise Spektroskopie. Es wurde am 10. Dezember 1999 mit einer Ariane-5G-Rakete in einen 7000 bis 114 000 Kilometer hohen Orbit befördert. Mit 3,8 Tonnen war es damals der schwerste europäische Wissenschaftssatellit der Europäischen Raumfahrtagentur ESA. Es wird mindestens noch bis 2012 betrieben, vielleicht sogar bis 2018.

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Internet

Webseiten des Röntgenteleskops Chandra: chandra.harvard.edu/ www.nasa.gov/chandra

Webseiten von XMM-Newton: sci.esa.int/xmm xmm.esac.esa.int/

Hans Böhringer

Der 1952 geborene Röntgenastronom studierte Physik in Heidelberg, wo auch seine wissenschaftliche Laufbahn am Max-Planck-Institut für Kernphysik begann. Dort forschte er über die Chemie und Physik der Atmosphäre. 1984 wechselte er zum Max-Planck-Institut für Extraterrestrische Physik (MPE) in Garching, wo er unter anderem Daten des Röntgensatellits ROSAT analysierte. Heute leitet Böhringer eine Forschungsgruppe am MPE, die sich mit den Galaxienhaufen und der großräumigen Struktur des Universums befasst – sowohl theoretisch als auch durch astronomische Beobachtungen. Er hat fast 300 wissenschaftliche Veröffentlichungen vorzuweisen. Seine bedeutendsten Forschungsergebnisse sind eine genauere Bestimmung der mittleren Materiedichte des Universums mithilfe der Röntgengalaxienhaufen und die Entdeckung, dass die supermassereichen Schwarzen Löcher in den Zentralgalaxien der Haufen das intergalaktische Gas durch Jets heizen.

„Für mich ist es das Schönste, erstmals etwas Neues zu finden und über die richtige Erklärung nachzudenken“, sagt Böhringer. „ Am MPE gibt es viele Beobachtungsmöglichkeiten sowie eine Fülle von neuen Daten – und viel mehr Kooperation als Rivalität.“

Gut zu wissen: Röntgenastronomie

Astronomen müssen hoch hinaus, um die kosmische Röntgenstrahlung zu beobachten. Denn die Erdatmosphäre schirmt – zum Glück für die Lebewesen – die energiereichen Photonen ab (Wellenlänge: 10–8 bis 10–12 Meter, Energie: 0,1 bis 250 Kiloelektronenvolt). Daher wurde Röntgenstrahlung im All zunächst nur mit Raketen entdeckt. Als erste Quelle wurde 1949 die Sonne aufgespürt. Mit dem Start mehrerer OSO-Satelliten (Orbiting Solar Observatory) seit 1962 und von Uhuru 1970 begann dann die Ära der orbitalen Röntgenteleskope. 1978 flog das erste abbildende Röntgenteleskop, Einstein (HEAO-2), und zwischen 1990 und 1999 der deutsche ROSAT. Die gegenwärtigen „Flagschiffe“ der Röntgenastronomen sind XMM-Newton und Chandra (bild der wissenschaft 12/1999 und 4/2000). Frühestens 2011 wird eROSITA (extended ROentgen Survey with an Imaging Telescope Array) an Bord des russischen Satelliten Spectrum-X-Gamma starten. Das vom MPE gebaute Gerät soll nicht nur das heiße Gas in 100 000 Galaxienhaufen erforschen, sondern auch die mysteriöse Dunkle Energie. Frühestens 2018 wird, wenn die Finanzierung gelingt, die amerikanisch-europäisch-japanische Gemeinschaftsmission IXO (International X-ray Observatory) starten. Das Teleskop wird hundertmal empfindlicher sein als XMM-Newton.

KOMPAKT

· Galaxienhaufen gehören zu den heißesten Stellen im All und geben Aufschluss über dessen grundlegende Eigenschaften.

· Die Röntgenstrahlung des Gases zwischen den Galaxien enthält Informationen über deren Entwicklung und Zusammensetzung.

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