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Achten Sie auf Trendwenden!

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Achten Sie auf Trendwenden!
Wie sich der Ausgang der Bundestagswahl frühzeitig erkennen läßt. Ist Wahlforschung mehr als Kaffeesatz lesen? Eines ist sicher: Der sogenannte heiße Wahlkampf ist für die Katz – die Wahl wird viel früher entschieden.

Es bleibt spannend – sagt die Wissenschaft: „Man kann im Moment keine vernünftige Prognose über den Ausgang der Wahl stellen“, analysiert Dr. Richard Stöss, Privatdozent am Fachbereich Politische Wissenschaft der Freien Universität Berlin. „Es ist nicht unplausibel zu erwarten, daß die Wahl 1998 im Osten gewonnen oder verloren wird“, konkretisiert wenig mehr Prof. Lutz Erbring, Kommunikationsforscher an der FU.

Seit der Befragung von Vogelflug, Schafslebern und Delphi-Damen hat sich keine Erscheinung so hartnäckig der vorausschauenden Durchleuchtung entzogen wie das Verhalten des Wählers in einer Demokratie. Für die Bundestagswahl vor vier Jahren waren tiefgreifende Veränderungen in Deutschland vorausgedacht worden – es blieb alles beim alten. Der Wertewandel in der Gesellschaft sollte die etablierten Parteien zausen – die Stammwähler blieben ihrer Partei treu. Rezession, Arbeitslosigkeit und allgemeine Verunsicherung sollten an der Stabilität des Landes rütteln – Ergebnis: Bloß keine Experimente!

In diesem Jahr sieht alles ganz anders aus. Wirklich? Der Stand Ende Juni 1998: Die CDU anhaltend im Keller der Meinungsumfragen, die SPD im Höhenflug der Wählergunst. Warnung vor einer „linken Republik“ auf der eine Seite, Horrorgemälde von „sozialer Kälte“ auf der anderen. „Der Wechsel ist möglich“ versus „Die Wahl ist noch nicht gewonnen“. Rückblick 1994: Die SPD, Partei wie Kanzlerkandidat Scharping, eindeutig vor der CDU und Kanzler Kohl – bis Mitte Juni. Dann wendet sich in der 23. Woche das Blatt. „Wird es diesem Jahr wieder so sein?“ fragt sich nicht nur Richard Stöss.

Der FU-Politologe und Lutz Erbring traten 1994 dem Wähler und seinem Verhalten mit riesigem forscherischen Aufwand sehr nahe: Jeden Tag wurden bundesweit 500 Bürger befragt nach Wahlabsicht, Parteienpräferenz, Zufriedenheit, Einschätzung der allgemeinen Lage und nach dem, was sie an politisch-wirtschaftlichen Meldungen in den Medien wahrgenommen hatten. Dazu wurden, vor allem für die Arbeit der FU-Kommunikationswissenschaftler, zusätzlich Tageszeitungen, Fernsehnachrichten und rund 10000 dpa-Meldungen erfaßt und codiert.

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Während die Befragungen abgeschlossen und von Stöss ausgewertet sind, harrt die Sisyphus-Arbeit „Medieninhalte und Wählerverhalten“ der endgültigen Bearbeitung. Immerhin haben die FU-Forscher einige allgemeine Strukturen und Trends festgestellt.

Punkt eins ist für Wissenschaftler so banal wie für Politiker zwanghaft: Das Plakatieren und die sogenannte heiße Phase des Wahlkampfs sind für die Katz. Erbring: „Da geht es allenfalls noch um zwei Prozent. Die Fixierung der Groblandschaft findet viel früher statt.“

Auch die in den letzten Jahren immer wieder wissenschaftlich beschworene Abnabelung des Wählers von „seiner“ Partei hat – zumindest in Westdeutschland – nicht stattgefunden. Wie Richard Stöss in seiner Wahlanalyse „Stabilität im Umbruch“ (Westdeutscher Verlag, 1997) darlegt, sind an die Stelle einer sozialen Schichtzugehörigkeit beim Wahlverhalten allgemeine Wertvorstellungen getreten, nach denen die Parteien beurteilt und gewählt werden: Soziale Gerechtigkeit kontra Marktfreiheit und Libertarismus versus Autoritarismus sind die Konfliktlinien der nachindustriellen Gesellschaft.

Soziale Gerechtigkeit fordert sozialstaatliche Umverteilung des gesellschaftlichen Gutes und die soziale Abfederung des als notwendig erachteten Modernisierungsprozesses. Marktfreiheit soll die Wirtschaft weitestgehend von finanziellen, rechtlichen und politischen Belastungen befreien, und ihr einen selbstgesteckten Handlungsspielraum bieten. Libertarismus hat sich durch den sozialen Wandel verstärkt und fordert mehr Individualität, Freiheit und Selbstverantwortung. Autoritarismus erwächst ebenfalls aus dem sozialen Wandel, der hier jedoch Unsicherheit erzeugt und nach Ruhe, Ordnung und Orientierung rufen läßt. Dabei bewegt sich der Wähler nie auf nur einer Linie. In den komplexen nachindustriellen Gesellschaften, die sich geschlossenen Weltanschauungen entziehen, kann ein Mensch bei Umweltfragen zum Beispiel sehr libertär eingestellt sein, bei der inneren Sicherheit jedoch ausgesprochen autoritäre Lösungen bevorzugen.

Das wiederkehrende Meinungstief jeder Regierungspartei in der Mitte der Legislaturperiode erklärt Stöss so: Der Stammwähler gibt „seiner“ Partei durch die Blume der Meinungsumfragen („Ich weiß nicht, ob ich die noch mal wähle“) zu erkennen, daß er nicht mit allem einverstanden ist. Er fordert mit dieser Kommunikation über die Medien Reaktionen hervor – und seien sie nur verbal in „kämpferischen“ Reden. Wenn am Wahltag die Machtfrage gestellt wird, kehrt dieser „flexible“ Wähler wieder zurück und sorgt für Stabilität.

Die – wahlentscheidende – Beurteilung der nationalen wie privaten Wirtschaftslage schlägt immer bei der Regierung zu Buche – positiv wie negativ. Die Wirtschaftspolitik „macht“ die Regierung, sie kann sich mit den Erfolgen schmücken. Allerdings offenbart sich der Wähler dabei wieder als unfaßbares Wesen: Zu Beginn des Jahres 1994 waren wirtschaftliche Fragen für die Umfrage-Bürger wichtige Themen – kein Wunder bei grassierender Rezession und hoher Arbeitslosigkeit. Ab Februar mehrten sich die Medienmeldungen, die Regierung habe die Rezession überwunden, im Mai signalisierten die Wirtschaftsforschungsinstitute ebenfalls eine positive Entwicklung. Mit Verzögerung kamen auch die Bürger zu der Einschätzung, mit der Wirtschaft gehe es wieder bergauf. In der abgefragten Wahlabsicht stieg (23. Woche) die Regierungspartei CDU steil nach oben. Jedoch: Die Wirtschaftserholung war nur „eine öffentliche Wahrnehmung“ (Erbring) – sprich: die subjektive Beurteilung durch den Bürger: Objektiv geändert hatte sich an der wirtschaftlichen Misere gar nichts. Spätestens hier taucht die Frage nach der Medienwirkung auf – ein kitzliges Gebiet, mit dem sich alle Wissenschaftler schwertun.

Wo steht der Wähler? Die klassische Einteilung der Gesellschaft in rechts und links, Kapitalismus und Sozialismus ist einer differenzierten Wertegesellschaft gewichen. Bei der letzten Wahl 1994 ergab sich die stärkste Polarisierung zwischen den Wählern von Bündnisgrünen und Republikanern, während sich die Wähler der SPD, der Unionsparteien und der FDP um die Mitte gruppieren. Die PDS-Wähler sahen sich, wie nicht anders zu erwarten, als Sachwalter der sozialen Gerechtigkeit, wobei sie jedoch eine autoritären Partei- und Gesellschaftsstruktur ablehnten. Die Mitglieder tendieren übrigens bei allen Parteien (bis auf die der SPD) zu radikaleren Einstellungen: FDP und Union Richtung Marktfreiheit und Autoritarismus, die Republikaner weiter nach „unten“, die Grünen erheblich nach „oben“, die PDS weiter nach „links“.

Keine Probleme hat Wahlforscher Stöss dagegen mit einzelnen Trendanalysen der letzten Bundestagswahl: Über die Hälfte der Befragten wählte die gleiche Partei wie vier Jahre zuvor. Wer sich zu den „Modernisierungsgewinnern“ zählt, bleibt bei seiner früheren Wahlentscheidung. Zufriedenheit und Optimismus begünstigten bei der Wahl 1994 fast ausschließlich die Unionsparteien. Die CDU konnte ab der 23. Woche ihre Wähler deutlich aktivieren, die SPD blieb dagegen auf ihrem Stand.

In der ominösen Zeit zwischen der 21. und 24. Woche des Jahres 1994 stürzte die SPD ab, die CDU schoß raketengleich vorbei. Was war geschehen? Kommunikationsforscher Erbring zuckt die Achseln und summiert vage:

Die positiven Meldungen über die Wirtschaftserholung sickerten ins Bewußtsein. Der Kanzlerkandidat der SPD, Rudolf Scharping, benahm sich vor laufenden Kameras töricht und gratulierte Roman Herzog als einziger nicht zu seiner Wahl als Bundespräsident. Und Scharping verwechselte in der Debatte um die sogenannten Besserverdienenden „brutto“ und „netto“. Die SPD-Spitze war heillos zerstritten.

Hier Klarheit zu schaffen, ist ein sehnliches Ziel des FU-Forschers: „Es wäre schön herausfinden, was in diesen Wochen passiert ist. Welchen Anteil an dem Stimmungsumschwung haben die Wirtschaftsmeldungen gehabt, wie stark fiel Scharpings schlechtes Benehmen ins Gewicht? Unsere Hoffnung, das mit Feinanalysen bis hinunter zum Tagesereignis herauszubekommen, ist allerdings nicht sehr groß.“ Scharpings Pannen wurden 1994 weit und breit über die Medien verbreitet. Wie stark wirken Medien? Erbring kontert: „Wie stark wirkt Chemie? Bekehrungseffekte über die Medien gibt es jedenfalls nicht.“

FU-Politologe Richard Stöss sieht das anders. Nach seiner Auffassung kam der im Frühjahr 1994 jäh erwachende Wirtschaftsoptimismus nur durch die Medienmeldungen zustande, „die ständig über die Meinungen, Hoffnungen und Prognosen von sogenannten Experten, Vertretern der Wirtschaft und Wirtschaftspolitikern berichteten und damit ein Ereignis heraufbeschworen, das gar nicht stattgefunden hatte: den Wirtschaftsaufschwung“.

Sein Fazit: Wenn sich das Wahlvolk so leicht durch Wissenschaftler und Experten beeinflussen lasse, „dürften die Wahlkampfmanager künftig verstärkt auf nützliche Experten zurückgreifen.“ Und auf die Medien.

Michael Zick

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