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Götter auf dem Schleudersitz

Allgemein

Götter auf dem Schleudersitz
Das Geheimnis der mythischen Tafelberge im Süden Venezuelas ist weitgehend gelüftet. Lange Zeit galten die hoch aufgeschossenen Tepuis auf dem Guayana-Schild als letzte weiße Flecken auf dem Globus. Das zog viele Forscher an – und lockt neuerdings auch immer mehr Touristen.

Die Stelle selbst war schon unheimlich genug, doch ihre Bewohner scheinen eine wahrhaft Dantesche Höllenszene heraufzubeschwören. Es war eine Brutkolonie der Flugsaurier. Hunderte von ihnen waren dort versammelt“, schrieb Arthur Conan Doyle. 1912 – längst hatte er sich durch die Erfindung des genialen Sherlock Holmes einen Namen gemacht – verlegte er seinen Romanschauplatz von der Londoner Bakerstreet in die ferne Welt der südamerikanischen Tepuis, wo er Lord Roxton und Prof. Challenger Saurier suchen ließ.

Doyles Roman „The Lost World“ inspirierte 1995 den amerikanischen Erfolgsschreiber Michael Chrichton zu einer Novelle gleichen Titels, die unter der Regie von Steven Spielberg verfilmt wurde und im vergangenen Jahr in die Kinos kam. Der Meisterregisseur selbst hatte die Welt der Tepuis schon zuvor im Visier. 1989 wollte er in ein Loch des Auyán-Tepui riesige Netze hineinbauen, von dem aus eine Monsterspinne für seinen Film „Arachnophobia“ Unheil verbreiten sollte. Doch der Protest venezuelanischer Umweltorganisationen stoppte das Urwaldprojekt. Spielberg drehte in Hollywood.

Zu den Phantastereien angeregt wurden Doyle & Co durch bizarre Berge im Südosten Venezuelas: Hoch aufgeschossene Naturtürme und mächtige Sandsteinbastionen ragen aus einer grandiosen Savannenlandschaft. Scheinbar uneinnehmbar thronen diese Tepuis über der Ebene. Das ist der Schauplatz, um den sich Legenden weben – bei Weißen wie bei Indios. Die Tepuis sind eines der letzten Mirakel der Natur, die noch nicht völlig vermarktet sind. In einem 1977 erschienenen Standardwerk über die Naturwunder der Erde ist von den Tafelbergen zwischen Äquator und etwa 6 Grad nördlicher Breite nicht einmal die Rede. Erst seit einem Jahrzehnt mehren sich die Berichte über die Wunderwelt nördlich der brasilianisch-venezuelanischen Grenze.

Das sind die geographischen Fakten: Aus dem venezuelanischen Anteil des sogenannten Guayana-Schildes, der so groß ist wie Deutschland und Österreich zusammengenommen, wachsen 50 Tafelberge empor, die sich in rund 120 Teilplateaus untergliedern. Der mächtigste Tepui ist der Cerro Ich£n, dessen Oberfläche 2460 Quadratkilometer einnimmt. Der schmächtigste ist Cerro Aratitiyope, seine Gipfelfläche umfaßt nicht einmal einen Hektar.

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Der höchste Gipfel liegt in der Sierra de la Neblina und mißt 3014 Meter, zweithöchster Berg ist der Roraima mit 2810 Metern. Auf seinem Gipfel liegt das wohl bemerkenswerteste Dreiländereck überhaupt. Auf dem unbewohnten und schwarzverwitterten Sandsteinkoloß stoßen die Staaten Venezuela, Brasilien und Guyana aufeinander. Kein Zöllner hat die Grenze dort je gesichert. Dabei liegen Venezuela und Guyana, das bis 1966 als British Guiana englische Kolonie war, seit einem Jahrhundert über den Grenzverlauf im Zwist.

Über das Alter der Tepuis bestehen nur vage Vorstellungen. Das granitische und metamorphe Fundament des Guayana-Schildes dürfte aus verschiedenen Gebirgsbildungszyklen stammen und vor 1,7 bis 3,6 Milliarden Jahren entstanden sein. Deren Berge hat die Erosion längst verschwinden lassen. Absenkungen der Erdkruste taten ein übriges. So versank das Gebirge allmählich unter sandigem Schutt, der aus Landstrichen herantransportiert wurde, die heute in Zentralafrika liegen. Das sagen Geologen. Die Geographie spricht nicht dagegen: Denn ehe sich der Atlantische Ozean auftat, grenzten beide Gebiete eng aneinander.

Im Lauf der Zeit verfestigte sich das Sediment. Aus Sand wurde ein hartes Sandsteinplateau. Weil in diesen Sandsteinen so gut wie keine Fossilien nachzuweisen sind, datieren Geowissenschaftler die Gesteinsbildung in die Zeit vor der Explosion des Lebens: ins Präkambrium, das vor etwa 600 Millionen Jahren endete. Verfeinerte Meßmethoden lassen die Geowissenschaftler annehmen, daß das Sandsteinplateau sogar vor gut 1,5 Milliarden Jahren entstanden ist. Es wäre damit rund zehnmal älter als weite Teile der Alpen. Seit 1,5 Milliarden Jahren wirkt allerdings auch die Zerstörungkraft der Natur auf diese Sandsteine ein. Von dem ehemaligen weit ausgedehnten Plateau sind die Tepuis der letzte Rest. Den Namen haben sie von den in der Ebene beheimateten Pemùn-Indios. Für die Pemùn sind Tepuis „Häuser der Götter“, weshalb sie sich bis in unsere Tage weigerten, die Berge zu besteigen. Es waren daher lange Zeit nur weiße Forscher, die sich auf den Tepuis zu schaffen machten.

Zu den ersten gehörten die in britischen Diensten stehenden deutschen Brüder Richard und Robert Schomburgk. Die beiden sammelten in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erstmals Pflanzen an den Schuttkegeln des Roraima, erreichten aber nie den Gipfel. Der Berg – nach Indioauffassung die „Mutter der Flüsse“ – wurde 1884 durch die Briten Everard Im Thurn und Harry Perkins zusammen mit einem ortskundigen Orchideensammler erstmals bestiegen. Inzwischen sind fast alle Tepuigipfel besucht worden. Lediglich einige Nebengipfelplateaus – von denen es allerdings allein auf dem Chimantá 19 gibt – harren einer menschlichen Inspektion.

Als Gipfelstürmer hervorgetan haben sich drei Botaniker: Rekordhalter ist der gebürtige Südtiroler Otto Huber, der seit 1975 die Tepuis erforscht. Huber – seit 1994 Leiter des Botanischen Instituts in Caracas – hat mit Hilfe von Helikoptern 41 Tepuis „erklommen“. Die beiden anderen Botaniker sind Bassett Maguire (1904 bis 1991), der am Botanischen Garten New York arbeitete, sowie der erfolgreichste Pflanzensammler aller Zeiten, der Amerikaner Julian Alfred Steyermark (1909 bis 1988), der insgesamt 135000 Pflanzen „herbarisierte“. Steyermark lebte mehr als 25 Jahre in Venezuela und sammelte allein im venezuelanischen Teil des Guayana-Schildes 27939 Pflanzen. In ihrer ersten Euphorie waren die Pflanzenkundler davon ausgegangen, daß 90 Prozent der auf und an den Tepuis gefundenen Pflanzenarten nur dort anzutreffen seien, also endemisch sind, wie es in der Fachsprache heißt. „Inzwischen wurde diese Zahl auf rund 40 Prozent korrigiert“, sagt der Göttinger Tropenbotaniker Prof. Stephan Robbert Gradstein, der 1985 anläßlich einer Expedition zum Roraima mithalf, 1000 Pflanzen einzusammeln und zu bestimmen, wobei er zwei neue Moosgattungen entdeckte.

9400 Pflanzenarten sind bisher allein auf dem venezuelanischen Teil des Guayana-Schildes gefunden worden. 3800 davon dürften an keiner anderen Stelle der Erde mehr vorkommen. Eine gigantische Vielfalt: In Deutschland zählen Botaniker lediglich 2600 Pflanzenarten. Und davon sind ganze sechs nur hier beheimatet.

Obwohl alle Tafelberge eine ähnliche geologische Geschichte haben, unterscheiden sich die Ökosysteme der Gipfelplateaus oft erheblich. So gibt es auf dem felsigen Roraima-Plateau allenfalls kleinere Vegetationsinseln, wogegen auf dem Chimantá Hochmoorvegetation vorherrscht. Häufiger als anderenorts sind dort oben fleischfressende Pflanzenarten. „Der Boden ist so nährstoffarm, daß sich viele Pflanzen evolutionär dahin entwickeln mußten, Nährstoffe aus Käfern und Fliegen zu beziehen“, erklärt Tropenbotaniker Gradstein. Zu den Fleischfressern gehören einige Arten des Sonnentaus, des Wasserschlauches und die großen Kolonien von Kannenpflanzen. Die verbreitetsten Pflanzenfamilien – sie kommen in fast allen Tepui-Ökosystemen vor – sind die Teestrauchgewächse Theaceen sowie die Rapateaceen. Andererseits gibt es Pflanzen, die man nur von einem Tafelberg kennt: etwa die Gattung Chimantaea, merkwürdig aussehende Korbblütler, die nur auf dem Chimantá leben.

„Die flächenmäßig großen Tepuis Auyán oder Chimantá im Osten des Guayana-Schildes haben eine reichhaltige Flora. Die spektakulären Türme wie Roraima oder Kukenán sind unter biologischen und ökologischen Gesichtspunkten dagegen weniger wertvoll“, erklärt der Chef des Botanischen Instituts Caracas, Otto Huber. Ursache der beachtlichen Vegetationsunterschiede ist das individuelle Zusammenwirken von Niederschlägen und Temperatur. Die Niederschläge variieren von 2000 mm bis 4000 mm im Jahr, und das Thermometer kann auf den höchsten Tepuis – trotz der Äquatornähe – bis zum Gefrierpunkt fallen.

Interessierten sich bis vor wenigen Jahren lediglich Forscher für das Reich der Tepuis, so sind es unterdessen auch Touristen. „Mir ist auf dem Auyán-Tepui schon eine Gruppe mit 60 Leuten begegnet, Damen und Herren von 50, 60 oder noch mehr Jahren“, erzählt Huber. Insgesamt besuchen die Gipfelregion des Auyán an die 1000 Touristen jährlich. Doch das ist nicht die Spitze: „Auf dem Roraima sind es jetzt pro Jahr schon 4000 – 1000 allein zu Ostern“, weiß der Botaniker.

Als erfolgreichster PR-Manager hat sich der Fotojournalist Uwe George erwiesen. In den Zeitschriften „Geo“ und „National Geographic“ berichtete er Ende der achtziger Jahre erstmals über diese bizarre Bergwelt. Noch mehr Aufmerksamkeit lenkte er durch sein Buch „Inseln der Zeit“ auf die Tepuis, das soeben in der fünften Auflage erschienen ist. Die darin enthaltenen Fotos sind atemberaubend. Die Texte schildern die Welt der Tepuis noch exotischer, als sie es in Wahrheit schon sind. Genau das sorgt für Zulauf: „Jede Neuauflage führt dazu, daß sich der Touristenstrom aus dem deutschen Sprachraum vervielfacht“, registriert Huber. Auch die Indios mischen inzwischen mit. Anders als früher führen sie gegen gutes Geld – der Preis pro Guide liegt bei 100 Dollar – dorthin, wo sie bis vor einer Generation den Sitz ihrer Götter wähnten und um keinen Preis der Welt hinwollten. Wer mit Indiohilfe auf die Tepuis steigt, muß allerdings Zeit haben. Touren auf den Auyán oder den Roraima und zurück dauern eine knappe Woche. Wer es eiliger hat, muß den Tepui-Gipfeln dennoch nicht entsagen: Für knapp 1000 Dollar die Stunde knattern Piloten mit ihren vier- oder sechssitzigen Hubschraubern in die Höhe und holen die modernen Gipfelstürmer nach der obligatorischen Nacht auf blankem Fels wieder ab.

„Mich als Ökologen beunruhigt es wenig, ob nun 4000 oder 6000 Menschen jedes Jahr auf dem Roraima herumturnen“, sagt Huber. Auch wenn es durch den Touristenansturm partiell zu irreparablen Schäden komme, sieht er das ganze Ökosystem nicht in Gefahr. Dafür sei die Fläche mit 34,5 Quadratkilometern zu groß. Sogar den Hubschrauber-Tourismus betrachtet er mit Gelassenheit: „Die Bergwanderer schaden in der Summe mehr, weil sie die Wege austreten und mit der Zeit tiefe Erosionsrinnen verursachen.“ Huber, der für die Regierungen diverser venezuelanischer Staatschefs eine Reihe von Umweltdekreten vorbereitete („Das Land hatte immerhin schon 1977 ein eigenes Umweltministerium, acht Jahre vor der Bundesrepublik Deutschland“), ist der Auffassung, daß man einige Tepuis für die Öffentlichkeit freigeben, die überwiegende Zahl der Gipfel aber abschirmen sollte.

Gefürchtet sind vor allem Brände. Viele der Pflanzen enthalten Terpene, ätherische Öle, die einem Feuer zusätzlich Zunder geben. „Ein Brand – etwa auf dem Chimantá – wäre verheerend“, sagt Huber, der etliche frühere Brandstellen an und auf den Tepuis kennt, wobei in einem Fall die Vegetationsschäden selbst nach einem Vierteljahrhundert nicht behoben sind.

In den siebziger und achtziger Jahren war es um den staatlichen Schutz der Naturlandschaft Venezuelas weit besser bestellt, als man einem südamerikanischen Land gemeinhin abzunehmen bereit ist. Unter dem Präsidenten Carlos Andrés Pérez wurden die Tepuis und große Teile der sie umgebenden Savannen und Regenwälder unter Schutz gestellt: Fast die Hälfte dieser 410000 Quadratkilometer wurden zum Nationalpark, zum nationalen Monument oder zum Biosphärenreservat erklärt.

Unterdessen hat sich das Blatt jedoch gewendet. Die jetzige Regierung unter Präsident Rafael Caldera stoppte die Ausarbeitung von Raumordnungsplänen in den Nationalparks der venezuelanischen Guayana. Im Gegenzug erhielt die Erschließung neuer Gold- und Diamantenlagerstätten höchste Priorität. Ökologische Belange – sofern sie überhaupt zur Kenntnis genommen werden – haben sich unterzuordnen, heißt das Credo der amtierenden Regierung.

In diesem Wirtschaftsimperialismus und im explosionsartigen Bevölkerungswachstum des venezuelanischen Guayana-Territoriums sieht Huber die größte Bedrohung für diesen Landstrich. 1961 lebten dort 259000 Einwohner, 1990 waren es bereits 1,12 Millionen. „Wollen wir die einzigartige Naturlandschaft erhalten, müssen der Ökonomie und dem Bevölkerungswachstum Grenzen gesetzt werden. Andererseits dürfen die Interessen der dortigen Naturvölker nicht übergangen werden. Dies zu leisten, ist eine der größten Herausforderungen an unser Land.“

Demgegenüber sind der Krach, den die Helikopter machen, um Touristen auf die Tepuis zu hieven, sowie die Fußtritte der Spaziergänger gegen die fragile Flora auf den Gipfelregionen des Roraima oder Auyán geradezu Petitessen.

Wolfgang Hess

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