Das Plättchen auf dem Tisch des amerikanischen Lawrence Berkeley National Laboratory ist so groß wie eine Briefmarke. 1024 neue Substanzen haben Chemiker um Prof. Peter Schultz auf dem Winzling hergestellt – jede davon eingebettet in eine quadratische Mulde mit einer Seitenlänge von etwas mehr als einem halben Millimeter.
Das Forscherteam ist auf der Suche nach Stoffen auf Silizium-Basis, die nach energetischer Anregung blaues Licht aussenden können. Nach solchen lumineszierenden Substanzen leckt sich die Elektronik-Branche die Finger – etwa für Anzeigetafeln oder Bildschirme. Unter den 1024 Stoffen, die auf dem Siliziumplättchen entstanden, sind tatsächlich 25, die nach Energie-Input blau schimmern. Einer davon ist ein Volltreffer: Er leuchtet ungewöhnlich hell.
Was die Fachwelt in Aufregung versetzt: Die amerikanischen Wissenschaftler konnten alle Substanzen in nur 20 Arbeitsschritten produzieren – nach althergebrachten Synthesemethoden wären mindestens 4000 nötig gewesen. Das bedeutet eine enorme Zeitersparnis, ermöglicht durch die sogenannte kombinatorische Synthese. Die Arzneimittelforschung hat sie bereits revolutioniert (bild der wissenschaft 4/1997, “Geplanter Zufall”). Doch daß sie so rasch auch andere Bereiche der Chemie erobern würde, glaubten noch vor kurzem nicht einmal die kühnsten Experten.
Nicht nur bei der Herstellung des blauen Leuchtstoffs stellte sich der Erfolg für die amerikanischen Wissenschaftler im Handumdrehen ein. Vor drei Jahren gründete Schultz zusammen mit Dr. Alejandro Zaffaroni die Firma Symyx, um aus der an der Universität Berkeley entwickelten Methode Profit zu schlagen. Heute beschäftigt das junge High-Tech-Unternehmen mit Sitz im kalifornischen Santa Clara bereits mehr als 80 Mitarbeiter.
Im Juni letzten Jahres schlossen die Hoechst AG und Symyx einen Kooperationsvertrag über fünf Jahre im Wert von fast 80 Millionen Mark. Inzwischen ist Symyx noch mit einem weiteren deutschen Chemiekonzern im Geschäft: Vor wenigen Wochen gab das Unternehmen Bayer bekannt, rund 95 Millionen Mark in eine Zusammenarbeit mit den Amerikanern zu investieren. So balgen sich jetzt zwei Weltfirmen um die Kooperation mit einem Zwerg – eine ungewöhnliche Konstellation.
“Forschergruppen können mit der kombinatorischen Chemie 10000mal schneller als bisher experimentelle Informationen sammeln”, wirbt Symyx euphorisch – eine Angabe, die schwer zu überprüfen ist. Nachvollziehbar ist hingegen der Kern des US-Know-hows: Kleinste Mengen von Substanzen werden kontrolliert verdampft – beispielsweise mit einem Elektronenstrahl. Sie lassen sich als Schicht, die nur wenige Nanometer (millionstel Teile eines Millimeters) dünn ist, auf Siliziumplättchen oder anderen Materialien abscheiden.
In der einfachsten Form eines kombinatorischen Experimentes decken die Forscher das Plättchen zur Hälfte mit einer Stahlmaske ab und bedampfen sie mit Substanz A. Anschließend drehen sie die Maske um 180 Grad und beschichten das Plättchen mit Substanz B. So entstehen in zwei Arbeitsgängen bereits vier verschiedene Bereiche: einer mit Substanz A, einer mit Substanz B, einer mit der Mischung AB und einer, der noch unbeschichtet ist.
Wird der Vorgang beispielsweise mit zwei weiteren Masken wiederholt, entstehen in insgesamt vier Arbeitsgängen bereits 16 (24) Substanzmischungen. Anschließend schieben die Forscher das gesamte Plättchen in einen Ofen, um dort die verschiedenen Mixturen miteinander reagieren zu lassen.
Um ihren Wettbewerbsvorsprung gegenüber Konkurrenten nicht zu verspielen, gehen die Symyx-Wissenschaftler mit den kommerziell erfolgversprechenden Ergebnissen noch nicht an die Öffentlichkeit. Bekanntgegeben haben sie immerhin, daß sie auf kombinatorische Weise Supraleiter hergestellt haben – Materialien, durch die elektrischer Strom widerstandslos fließen kann.
Bei Leuchtstoffen und Supraleitern ist es einfach, aus den vielen hergestellten Stoffen diejenigen mit den gewünschten Eigenschaften herauszufischen: Leuchtkraft kann ebenso schnell vollautomatisch mit Standard-Geräten gemessen werden wie die Temperatur, bei der ein Stoff supraleitend wird. Katalysatoren, mit denen viele großtechnische Prozesse in der chemischen Industrie schneller ablaufen, sind wirtschaftlich nicht minder lukrativ – jedoch nicht so einfach und rasch zu testen. Trotzdem geht es bei der Zusammenarbeit von Symyx und Hoechst gerade um die Entwicklung neuer Katalysatoren. Wie sich die Schwierigkeiten beim Test überwinden lassen, darüber hüllen sich die Firmen in Schweigen. Seitens der Deutschen jedenfalls ist “anfängliche Skepsis gegenüber der kombinatorischen Synthese einer positiven Einschätzung gewichen”, sagt Prof. Klaus Kühlein, Leiter der Katalyse bei Hoechst Research and Technology.
Auch die deutsche Hochschulszene ist wach geworden. Prof. Fredi Schüth vom Institut für anorganische Chemie der Universität Frankfurt am Main möchte genau wie die Symyx-Mitarbeiter die Suche nach neuen Katalysatoren beschleunigen. Doch er geht dabei einen anderen Weg: Er setzt auf Roboter, die viele verschiedene gelöste Stoffe gleichzeitig in eine ganze Reihe von kleinen Näpfchen einfüllen. Am Ende des Abfüllprozesses wandern fast 100 Näpfchen in einen Reaktor, wo sich die unterschiedlichen Lösungen in jedem der Miniatur-gefäße miteinander umsetzen.
Während bei Symyx winzige Mulden auf einem Plättchen mit Substanzen belegt werden, werden Schüths Lösungen in kleine Näpfchen pipettiert. Trotz dieses Unterschiedes gibt es eine wichtige Gemeinsamkeit: In jedem Arbeitsschritt werden viele Mulden oder viele Näpfchen zeitsparend parallel zueinander “befüllt”, die Stoffe darin reagieren ebenso parallel miteinander – jede Substanz wird mit der anderen kombiniert. Schüths Methode firmiert deshalb wie die von Symyx unter dem Etikett “kombinatorische Synthese”.
Der Frankfurter Professor hat die neue Arbeitsweise vor einem Jahr für sich entdeckt – für eine Erfolgsbilanz ist es daher noch zu früh. Immerhin verrät er, wie er das Testproblem angeht: Er setzt 100 Katalysator-Kandidaten einem Gasgemisch aus und führt dieses über 100 Kanäle gleichzeitig Analyse-Geräten zu.
Die deutsche Alternative: 96 verschiedene Testlösungen, von Robotern in Näpfchen auf Mikrotiter-Platten gefüllt, werden parallel – also zeitsparend – untersucht.
Wo das Gerät entdeckt, daß die Gase miteinander reagiert haben, gibt es Hoffnung auf ein Material mit der gewünschten katalytischen Eigenschaft – und der Kandidat kommt in die nächste Testrunde.
Die mit der kombinatorischen Synthese gewonnene Zeit eröffnet den Chemikern Freiräume, auch ungewöhnliche Elementkombinationen miteinander reagieren zu lassen. Denn Mixturen, die sie für wenig erfolgversprechend halten, probieren Wissenschaftler oft aus Zeitmangel nicht aus – doch gerade in solchen Mischungen schimmert hin und wieder ein Klümpchen Synthese-Gold.
Frank Frick