Die Assoziation mit einer rauschenden Liebesnacht liegt nahe: Der erste furiose Höhepunkt kam praktisch ohne Vorspiel. Jetzt legen die Schlagzeilen der Magazine und Boulevardblätter erst einmal eine kurze Erholungspause ein, bald aber winken neue Lustschreie: Viagra in Deutschland, wie gefährlich ist Viagra, Viagra im Alter, Viagra für Frauen, Viagra auf Krankenschein, ewig fit dank Viagra.
Die neue Erektionspille hat eingeschlagen wie schon lange kein Arzneimittel mehr. Geschickt gesteuert von Marketing-Managern, erreichte sie innerhalb Wochen Spitzenplätze in der Umsatz-Hitliste. Vor allem aber wurde sie zum Thema Nummer eins in allen Gesprächen von Männern mittleren und höheren Alters. Ob bei festlichen Empfängen oder in gemütlichen Stammtischrunden – wenn die Damen gerade nicht zuhören, wird mit süffisantem oder nachdenklichem Lächeln die blaue Pille angesprochen.
Nach der sexuellen Befreiung der Frau durch die Antibabypille, so heißt es, sei dies nun die sexuelle Befreiung des Mannes. Ist der Wegfall von Beschränkungen gleich Befreiung? Mit „Pille zum Lustgewinn“ dürfte der Sachverhalt treffender beschrieben sein. Schon macht das Wort von der „Lifestyle-Medizin“ die Runde – Medizin, die nicht dazu dient, Krankheiten zu heilen, sondern Befindlichkeit zu bessern, natürliche Schwächen zu beseitigen. Da winken Medikamente gegen Übergewicht, gegen Gedächtnisschwäche, gegen Hautfalten und Blässe, gegen Haarausfall oder gegen schlechte Laune.
Schon immer tummelten sich in dieser medizinischen Grauzone die Geschäftemacher. Sie nutzten aus, daß Menschen sich danach sehnen, perfekt zu sein. Das Neue, das mit Viagra in diese Szene kommt: Bislang waren die Versprechungen der Mittelchen zu vage, so daß jede wissenschaftlich orientierte Medizin sie ablehnen mußte. Nun sind die Wirkungen nach allen Kriterien hieb- und stichfest, die Nebenwirkungen sorgfältig getestet. Eigentlich kann sich keine Krankenkasse weigern, bei Erektionsstörungen für dieses Medikament zu bezahlen. Damit sind dem Mißbrauch Tür und Tor geöffnet, die „Lifestyle-Medizin“ wird schnell zur Lust auf Krankenschein.
Zufällig nur wenige Tage, nachdem Viagra-Schlagzeilen die Republik überschwemmten, forderte der Deutsche Ärztetag, die Leistungen der Krankenversicherungen auf ein Mindestmaß zu beschränken. Die Debatte drehte sich vor allem um Finanzen. Die Frage, was denn bei Gesundheit das Mindestmaß sei, ging völlig unter. Gilt noch die Definition von Gesundheit, die das körperliche und seelische Wohlbefinden umfaßt? Ist „nicht ganz wohl“ schon „krank“? Ist Lust nicht auch Wohlbefinden? Nehmen nicht einzelne Menschen bestimmte Defizite ganz unterschiedlich wahr, abhängig von der Persönlichkeit, aber auch von den Lebensumständen und der Kultur? Kein Zweifel: Viagra ist der Vorbote einer Revolution – nicht nur in den Betten. Wir werden uns fragen müssen, was wir als krank ansehen. Alles, was wir behandeln können? Oder alles, worunter wir leiden? Und vor allem: Wer entscheidet darüber, was krank ist und was nicht – der Arzt, der Patient, die Krankenkasse, der Gesetzgeber? Das wird eine lange, heiße Debatte, verlogen und geprägt von Verteilungskämpfen, fokussiert auf Details, weil es für die wesentliche Frage keine zufriedenstellende Antwort geben kann.
Die „Lifestyle-Medizin“ ist auf dem Weg zur Glückspille. Wohlbefinden per Droge. Wir müssen unsere Probleme nicht mehr lösen, „… fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker“.
Reiner Korbmann