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MAMA UND MACHO ZUGLEICH

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MAMA UND MACHO ZUGLEICH
Ein Mäuseversuch brachte es an den Tag: Geschlechtsspezifisches Verhalten ist im Gehirn nicht für alle Zeiten fest verdrahtet. Es lässt sich umschalten.

Manche Revolutionen kommen auf Mäusepfötchen daher: So schlug die Arbeit mit dem Titel „Ein funktioneller Kreislauf für männliches Sexualverhalten im weiblichen Mäusehirn“, die im August 2007 in der Zeitschrift „Nature“ erschien, keine hohen Wellen. Ein paar Kommentatoren amüsierten sich über die beschriebenen Mäusemütter, die nach einer Operation in der Nase plötzlich ihre Jungen vernachlässigt hatten und stattdessen – in den höchsten Tönen fiepend, wie das sonst nur Männchen tun – Artgenossen beiderlei Geschlechts zu begatten versuchten. bild der wissenschaft veröffentlichte eine längere Meldung mit dem Titel „Weibliche Mäuseriche“, stellte aber sofort klar: „Auf den Menschen sind die Ergebnisse nicht übertragbar.“

Heute, drei Jahre später, wandelt sich das Bild. In der Fachwelt beginnt es sich herumzusprechen, dass Tali Kimchi und Catherine Dulac, die beiden Mäuseforscherinnen von der Harvard University in Cambridge (USA), nicht etwa ein Kuriosum bei Nagern entdeckt haben. Sie haben vielmehr ein grundlegendes Prinzip gefunden, das alles auf den Kopf stellt, was Neuro- und Entwicklungsbiologen in den letzten Jahrzehnten über die Organisation von Geschlechtsunterschieden im Gehirn gedacht haben.

nicht fürs ganze leben

Das zentrale Dogma lautete bisher: Steroidhormone wie das Testosteron stellen im Gehirn die Weichen. Vor der Geburt und in der Pubertät sorgen sie dafür, dass ein Männergehirn anders strukturiert wird als ein Frauengehirn – und dass das fürs Leben so bleibt. Seit Kimchi und Dulac aber ist klar: Dieses einfache Bild ist falsch. Im Gehirn erwachsener Mäuseweibchen liegen Module für Männchenverhalten bereit und können aktiviert werden: Aus Mamas werden Machos, wenn man nur den richtigen Schalter umlegt. Umgekehrt ist es übrigens genauso, wie Catherine Dulac jetzt gegenüber bild der wissenschaft versicherte: Nach neuen, noch unveröffentlichten Studien aus ihrem Labor schlummert im Gehirn des Mäusemanns unterdrückte Weiblichkeit. „Einen Teil des weiblichen Verhaltens konnten wir bei Männchen auslösen.“ Und: Das ist mit hoher Wahrscheinlichkeit bei allen Wirbeltieren so, vom Fisch bis zum Homo sapiens.

Klingt unglaublich? Nicht, wenn man sich ältere wissenschaftliche Studien genauer anschaut. Etwa die Übersichtsarbeit über das Sexualverhalten von Säugetieren des US-Psychologen Frank A. Beach aus dem Jahr 1947: Darin ist von Rattenweibchen die Rede, die sich gelegentlich wie Männchen verhalten, aber auch von Hündinnen, Katzen, Säuen und Kühen, die sich entsprechend daneben benehmen. „Berichte über weibliches Sexualverhalten bei Männchen sind seltener, sie wurden jedoch bei männlichen Ratten, Meerschweinchen, Goldhamstern, Rhesusaffen und Schimpansen beobachtet“, zählt Beach auf. Ein ganzes Kapitel widmet der Psychologe deshalb den „bisexuellen Paarungsreaktionen“ der Säugetiere und fügt auch eigene Beobachtungen an: Rattenmännchen mit bisexuellen Neigungen hatten sich umso eher von einem Artgenossen besteigen lassen, wenn ihnen nach einigen erfolgreichen Kopulationen mit einem Weibchen dieses aus dem Käfig weggenommen worden war.

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UnVERSEHRTE NERVENPFADE

Wie konnte sich bei solcher Variabilität des Sexualverhaltens das Bild des hormonell fest programmierten Geschlechtsorgans Gehirn in den Köpfen von Wissenschaftlern und Laien festsetzen? Wie konnten Bestseller Glauben finden, die behaupten, dass Männer vom Mars und Frauen von der Venus stammen – und dass selbst die Fähigkeit, ein Auto einzuparken, hormonell geprägten Schaltkreisen unterliege? „Der Grund ist, dass die Erforschung der Geschlechtshormone sehr erfolgreich war“, sagt Catherine Dulac. „Die Wirkungen, die Steroidhormone auf das Gehirn ausüben, sind enorm. Steroide sind so kraftvoll in ihrer Wirkung, dass man sie überschätzt hat.“ Sprich: Geschlechtshormone prägen das Gehirn wirklich (siehe auch den folgenden Beitrag „Wie ein Mann gemacht wird“). Aber sie formen es nicht vollständig und nicht irreversibel um.

Wenn es um ihre Mäuse geht, kann Dulac heute sagen: Ja, es stimmt, Steroide legen in der Entwicklung den zentralen Schalter um. Sie sorgen dafür, dass Männchen sich wie Männchen benehmen und Weibchen wie Weibchen – jedenfalls so lange ihre Nasen in Ordnung sind und die Nerven, die von der Nase ins Gehirn führen. Die Geschlechtshormone rauben den Mäusen aber nicht die Fähigkeit, sich wie ein Vertreter des anderen Geschlechts zu verhalten. „Die neuronalen Pfade dafür bleiben ungestört im Gehirn erhalten.“

Und das sei ja auch sehr sinnvoll, meint die Biologin. „ Entwicklungsbiologisch ist es der einfachere Weg, einen Schalter umzulegen, als ganze Schaltkreise umzubauen.“ Auch aus der Sicht der Evolution habe es etwas für sich, wenn „Mann“ ein wenig Weiblichkeit und „Frau“ ein wenig Männlichkeit in petto hat. Bei Eidechsen und Fischen jedenfalls haben einzelne Spezies bereits auf diese Reserven zurückgegriffen. Catherine Dulac erzählt: „Es gibt eine Sorte parthenogenetischer Eidechsen. Sie sind allesamt Weibchen und vermehren sich durch Klonen. Männchen gibt es bei ihnen nicht, sie werden nicht gebraucht. Dennoch bilden die Eidechsen Paare. Ein Weibchen verhält sich wie ein Männchen und besteigt das andere. Zwei Wochen später werden die Rollen getauscht. Es passt perfekt!“ Wissenschaftler haben festgestellt, dass bei diesem Wechselspiel Geschlechtshormone keine Rolle spielen: Hormonell bleiben die Eidechsen weiblich, egal ob sie oben oder unten liegen. Nur in ihren Kopf spielt sich jeweils etwas anderes ab, wie Messungen des Energieverbrauchs in zwei beteiligten Hirnregionen gezeigt haben.

VERHALTENSÄNDERUNG IN MINUTEN

Erstaunlich benimmt sich auch der Putzerlippfisch Labroides dimidiatus: Er lebt normalerweise in einer Art Harem. Verschwindet aber das Männchen aus der Weibchengruppe, verwandelt sich das größte Weibchen in einen Mann und entwickelt sogar Hoden. Während diese Metamorphose Tage oder gar Wochen dauert, „ ändert sich das Verhalten innerhalb von Minuten und hängt nicht von einer hormonellen Änderung ab“, betont Dulac. Japanische Forscher, die diesen Fisch und seinesgleichen untersucht haben, gehen deshalb davon aus, dass „das Fischhirn im Grunde bisexuell“ ist.

Und das Menschenhirn? „Ich habe keine Ahnung“, sagt Catherine Dulac lachend. „Aber ich finde, es wird Zeit, dass Psychologen sich Experimente ausdenken, die die Verhältnisse beim Menschen klären.“ Ziemlich sicher ist, dass der Schalter bei uns nicht durch eine Manipulation am Riechorgan umgelegt werden kann – denn wir Menschen sind nun einmal keine großen Riechkünstler und verfügen nicht über das spezielle Epithel, mit dem Mäuse die chemischen Signale von Artgenossen wahrnehmen (das Vomeronasalorgan, siehe Kasten links „Das neue Paradigma“). „Aber die Schalter sind sowieso bei jeder Art verschieden. Beim Menschen könnte ein visueller Schalter beteiligt sein. Oder auch ein sozialer.“

IM FALSCHEN KÖRPER

Als Catherine Dulac vor Kurzem einen Vortrag an der Harvard University hielt, wurde sie hinterher von einem Arzt angesprochen, dem Leiter des „Transgender-Teams“ der Universitätsklinik. An ihn wenden sich Menschen, die mit ihrem angeborenen Geschlecht nicht zufrieden sind und sich im falschen Körper fühlen. „Diese Menschen wissen schon als kleine Kinder, dass sie anders sind“, berichtete er. Sind sie deswegen krank? Wohl nicht. Ihr Gehirn ist wahrscheinlich völlig in Ordnung – nur eben ein bisschen anders verschaltet als bei Hans und Grete. ■

von Judith Rauch

DAS FORSCHERTEAM

Catherine Dulac ist Inhaberin des Lehrstuhls für Molekulare und Zellbiologie an der Harvard University und zugleich Forscherin am Howard Hughes Medical Institute der Universität. Beide Institutionen müssen genannt werden, wenn man über die geborene Französin schreibt, denn beide sind stolz, sie gewonnen zu haben. Nach der Doktorarbeit in Entwicklungsbiologie in Paris wandte sie sich der Erforschung des Geruchssinns zu: Sie arbeitete in den 1990er-Jahren im Labor von Richard Axel an der Columbia University in New York. Axel bekam 2004 zusammen mit seiner Kollegin Linda Buck, heute in Seattle, den Nobelpreis für die Entschlüsselung der am Riechen beteiligten Gene. Das Interesse Dulacs galt aber von Anfang an dem sogenannten Vomeronasalorgan der Maus: dem spezialisierten Epithel, mit dem das Tier Pheromone wahrnimmt – Geruchssignale seiner Artgenossen, die sein Verhalten steuern. Außerdem studiert sie die Rolle epigenetischer Prozesse bei der Hirnfunktion.

Tali Kimchi stammt aus Israel. Nachdem sie als Doktorandin den Orientierungssinn blinder Nacktmulle studiert hatte, führte sie im Labor von Catherine Dulac an der Harvard University die Experimente durch, die zu der erstaunlichen Entdeckung des umschaltbaren Sexualverhaltens bei Mäuseweibchen führten: Egal, ob man den Weibchen einen bestimmten Pheromonrezeptor auf genetischem Wege oder operativ entfernte – sie ließen ihre Kinder im Stich und verhielten sich wie Casanovas. Heute leitet Kimchi eine eigene Forschungsgruppe am Weizmann Institute in Rehovot bei Tel Aviv.

An der 2007 veröffentlichten bahnbrechenden Studie war auch der Student Jennings Xu beteiligt, der seine wissenschaftliche Karriere nun in der Biologie oder Medizin fortsetzen wird.

DAS NEUE PARADIGMA

Nach dem vorherrschenden Dogma der sexuellen Differenzierung (a) prägen Sexualhormone dem Gehirn weiblicher Tiere – hier gezeigt am Mäusehirn – ein fest verdrahtetes weibliches Muster auf, dem Gehirn männlicher Tiere ein fest verdrahtetes männliches Muster. Impulse aus dem Vomeronasalorgan der Nase – beim Mäusemännchen etwa der Geruch eines empfängnisbereiten Weibchens – rufen das entsprechende Rollenverhalten (Aufreiten, Kopulieren) stereotyp ab. Doch nach den Entdeckungen der Gruppe um Catherine Dulac muss man davon ausgehen, dass in den Gehirnen beider Geschlechter das gegengeschlechtliche Verhalten im Prinzip aktivierbar ist (b). Doch es steht unter der Kontrolle eines Schalters im Vomeronasalorgan, der beim Weibchen im Normalfall den männlichen, beim Männchen den weiblichen Weg blockiert (Kreuze).

Kompakt

· Die Wirkung von Geschlechtshormonen bei der sexuellen Prägung des Gehirns wurde bisher überschätzt.

· Auch bei erwachsenen Tieren lässt sich das Sexualverhalten noch umpolen.

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