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Alles andere als nobel

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Alles andere als nobel
Passanten in der Jury, Nobelpreisträger im Schafspelz und skurrile Forscher aus aller Welt. Zum 10. Mal wird in Harvard die Wissenschaft aufs Korn genommen.

Die Menge tobt, der Festsaal bebt. Papierflieger landen auf der Bühne, gelegentlich auch ein bunter Strandball und haufenweise Konfetti. Davon ungestört stehen honorige Herren und Damen am Rednerpult und halten spaßige Kurzvorträge, einige sogar in Versform. Als nächstes gibt es muntere Tanzeinlagen, die das wohlgelaunte Publikum mit tosenden Beifallsstürmen, Sprechchören und Salven an Papierfliegern würdigt. Nun fehlt nur das „Helau“, meinen Sie? Ganz falsch. Was sich anhört wie die Beschreibung einer etwas außer Kontrolle geratenen Karnevalssitzung in Köln, ist in Wirklichkeit die Vergabe eines Wissenschaftspreises an der noblen Harvard-Universität in Cambridge, Massachusetts. Die Aktiven auf der Bühne sind ernstzunehmende Forscher aus aller Welt, deren Leistungen auf nicht ganz so ernstzunehmende Weise honoriert werden: Sie erhalten den sogenannten Ig-Nobelpreis, wobei Ig für „ignoble“ (unwürdig) steht, für ignorant oder auch für igittigitt.

Seit 1991 werden pro Jahr zehn solche Auszeichnungen vergeben. Das Kriterium ist simpel: Die Preise sind für Forschungsarbeiten, die „nicht wiederholt werden können oder sollten“. So steht es in den Statuten des in den USA erscheinenden Wissenschaftssatire-Magazins „Annals of Improbable Research“ (AIR, Annalen der unwahrscheinlichen Forschung), das am 5. Oktober nun schon zum 10. Mal besonders skurrile und ungewöhnliche Arbeiten prämiert. Beispiele gefällig? Den bei Männern nicht vorhandenen Zusammenhang zwischen Schuhgröße, Penislänge und Körpergröße bewiesen die Kanadier Jerald Bain und Kerry Siminoski. Sie qualifizierten sich 1998 damit für den Ig-Statistik-Nobelpreis. Nicht minder wiegen die Untersuchungen Züricher Forscher über den „Einfluß unterschiedlicher Geschmackssorten bei Kaugummis auf die Gehirnaktivität“ (Ig-Nobelpreis für Biologie 1997) .

Passend zu derartig ungewöhnlichen Leistungen muß es eine ebenso ungewöhnliche Honorierung geben, dachte sich Marc Abrahams, geistiger Vater von Ig-Nobel und Herausgeber von AIR. Daher hat die Vergabe auch gar nichts mit dem namensverwandten Festakt in Stockholm zu tun. „Ich komme mir manchmal vor wie Kermit, der Frosch, bei den Muppets“, sagt Zeremonienmeister Abrahams und spielt dabei auf den leicht chaotischen Ablauf der Verleihung an. Schließlich wird in Cambridge nicht nur simpel ein Preis ausgehändigt. Es gibt augenzwinkernde Kurzvorträge – die 30 Sekunden dauernden „Heisenberg-Bestimmtheitsvorlesungen“ –, deren Zeitlimit entweder bullige Schiedsrichter oder naseweise Grundschüler überwachen. Und manch ein Ig-Laureat muß ohne Vorwarnung in einer „Mini-Oper“ sein Gesangstalent unter Beweis stellen. Auch das Publikum, ein bunter Mix aus abenteuerlich verkleideten Narren jeglichen Alters und Standes, verhält sich alles andere als vorhersehbar. Pausenlos bombardiert es die Ig-Laureaten mit Papierfliegern, die Abrahams regelmäßig von der Bühne fegen muß, Studentengruppen stimmen Sprechchöre an, oder es verlassen ganze Sitzreihen unter lautem Gejuchze den mit 1200 Leuten prall gefüllten Saal.

Die einzige Gemeinsamkeit mit Stockholm: echte Nobelpreisträger. Im letzten Jahr kamen Shelden Glashow (Physik 1979), Dudley Herschbach (Chemie 1986), William Lipscomb (Chemie 1976) und Robert Wilson (Physik 1978). Ihre Aufgabe beschränkte sich nicht auf das schnöde Überreichen der Preise: Das illustre Quartett war sich nicht zu schade, während einer Mini-Oper als Schafe verkleidet über die Bühne zu hopsen und ins Mikrofon zu mähen. Außerdem wurde Glashow unter den Zuschauern als „Blind Date“ verlost, und Lipscomb unterstützte die Band mit seinen Klarinettenkünsten.

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Während in Schweden die Laureaten mit einem Koffer voller Geld nach Hause gehen, gibt es in Cambridge nur eine Plastiktüte voller Belanglosigkeiten: gelbe Quietsche-Entchen, alte Einkaufszettel, Teebeutel, Zigarettenstummel oder eine Rolle Klebeband. Selbst die Kosten für Anreise und Unterkunft muß jeder aus der eigenen Tasche finanzieren. Eigentlich erstaunlich, daß bei jeder Verleihung fast alle zehn Nominierten persönlich erscheinen, um den Preis in Empfang zu nehmen. „Es ist doch nichts dabei, wenn sich Wissenschaftler gegenseitig auf die Schippe nehmen“, meint Engländer Len Fisher, Ig-Nobel-Laureat für Physik 1999 und Vater der Formel für das ideale Eintauchverhalten von Keksen in Tee (L = ?Dt/4ç). Für Abrahams stand sowieso von Anfang an fest: „Viele Menschen würden gerne in ihrem Leben einen Preis bekommen, der ihnen bestätigt, daß sie etwas geleistet haben.“

Nach diesem gewissen Etwas sucht das Ig-Nobel Board of Governors – ein Komitee aus AIR-Redakteuren, echten Nobelpreisträgern und anderen Forschern – in den gut 10000 wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die jährlich aus aller Herren Länder an das närrische Gremium herangetragen werden. „ Jeder kann jeden für einen Ig-Nobelpreis nominieren, selbst Eigenvorschläge sind zulässig“, sagt Abrahams und berichtet von norwegischen Wissenschaftlern. Sie legten ihre Studien zum Thema „ Auswirkungen von Bier, Saurer Sahne und Knoblauch auf den Appetit von Blutegeln“ selbst vor und wurden prompt mit dem Ig-Nobelpreis für Biologie belohnt. Wer nun letztlich die glücklichen zehn Sieger sind, das entscheidet das Board zusammen mit einem Passanten, der zur Stunde der Endabstimmung zufällig am Redaktionshaus vorbeiläuft.

„Wissenschaft ist Spaß und Ernst zu gleich“, kommentiert Ig-Veteran und Nobelpreisträger William Lipscomb. „Unsere Zeremonie sorgt dafür, daß die Wissenschaft mehr Aufmerksamkeit erhält. Auch die schlechte Wissenschaft“, schmunzelt Lipscomb und nennt als Beispiel die letztjährigen Ig-Nobelpreisträger für Pädagogik: das Kansas Board of Education. Es verbannte die Darwinsche Evolutionstheorie aus den Lehrplänen für die Schulen des US-Bundesstaats Kansas.

Doch für einige Menschen ist der Schalk im Nacken der Ig-Veranstalter einfach zu respektlos. So bekam Abrahams bitterböse Briefe von den treuen Anhängern des Wissenschaftlers Jacques Benveniste, Ig-Laureat für Chemie 1998: Bereits sieben Jahre zuvor hatte der Franzose den Preis für seine Entdeckung bekommen, daß Wassermoleküle ein Gedächtnis haben sollen. Die Weiterführung dieser Idee – Wassermoleküle können ihre Informationen über Telefon und Internet weiterleiten – brachte dem Forscher die erneute Nominierung. „Wir wurden aufgefordert, Benveniste doch einen richtigen Nobelpreis zu geben“, erinnert sich Abrahams.

Deutsche Wissenschaftler wurden bisher nur in Zusammenhang mit ihrer Veröffentlichung im New England Journal of Medicine ausgezeichnet. Doch dafür waren es gleich 48 auf einmal: Gemeinsam mit 972 anderen Forschern erhielten sie 1993 den Ig-Literatur-Nobelpreis für ihren Fachartikel, der 100mal mehr Autoren als Seitenzahlen aufzuweisen hatte. Über ihre Reaktion auf den Preis ist leider nichts bekannt. Es wird sich zeigen, wer in Cambridge am 5. Oktober dieses Jahres den meisten Humor besitzt. Das Motto dieses Jahres wird „Intelligenz“ sein. Ein dickes Fell sollten die Kandidaten auf jeden Fall mitbringen – allein schon wegen der Papierflugzeuge.

Désirée Karge

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