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Das Spitzelsystem der Assyrer

Allgemein

Das Spitzelsystem der Assyrer
Das Spionagenetz der altorientalischen Könige war perfekt. Es war eine wichtige Säule des Staates. Neue Archäologenfunde widerlegen die Mär vom allseits zufriedenen Volk.

„Die Streitkräfte des Urartäers sind … gänzlich geschlagen worden. Elf seiner Statthalter mit ihren Streitkräften konnten sich absetzen. Sein Feldmarschall und zwei Statthalter sind jedoch in Gefangenschaft geraten.“ So berichtete vor 2715 Jahren der Geheimdienstchef an der Nordgrenze an die königliche Zentrale in Assur. Ein Top-Agent bekräftigte die Meldung: „Die frühere Information über die Urartäer, welche ich geschickt habe, hat sich bestätigt: Unter ihnen ist ein furchtbares Blutbad angerichtet worden. Sein Feldmarschall ist in Gefangenschaft geraten. Der Urartäerkönig befindet sich in Uazaun.“ Solche Nachrichten über eine entscheidende Schwächung seines Feindes Rusa I. ließen Sargon II. um 714 v.Chr. handeln: Der assyrische König marschierte mit seinen Truppen in das Land des nördlichen Nachbarn ein. In einem Kriegszug der verbrannten Erde verwü- stete er das mächtige Reich Urartu zwischen Van- und Urmia-See, wo heute die Türkei, Syrien, Irak und Iran zusammenstoßen. Mit unvorstellbaren Schätzen kehrte Sargon II. in sein Reich am Euphrat zurück. Der Feind im Norden stand dem Wiederaufstieg Assyriens nicht mehr im Weg.

Mindestens zwei, eventuell sogar mehr voneinander unabhängige Nachrichtenstränge hatten dem assyrischen „König der Welt“ die Informationen über militärische und innenpolitische Probleme seines Nachbarn geliefert. Sie waren Teil eines perfekt funktionierenden Geheimdienstes. Archäologen und Keilschrift-Entzifferer spüren in den Tontafel-Archiven des alten Orients – in den Palästen von Ninive, Kalchu und Mari – immer mehr Nachrichten von und über frühgeschichtliche James Bonds auf. Jeder Potentat der unruhigen Region hatte seine besonderen Nachrichtenüberträger – Diplomaten gehörten ebenso dazu wie Fernhändler und veritable Undercover-Agenten. Sie alle dienten als „Auge und Ohr des Königs“. Einer von Sargons Geheimagenten ist namentlich aus den Tontafelarchiven in Ninive bekannt: Assur-resuja residierte offiziell als Gesandter des assyrischen Königs im südurartäischen Fürstentum Kumme. Von dort aus organisierte er die Ausspähung von Urartu. Unter der stets wiederkehrenden Eingangsformel „An den König, meinen Herrn: Euer Diener Assur-resuja. Gesundheit für den König, meinen Herren“ berichtet er in zahlreichen Keilschriftbriefen an den assyrischen Hof: „Der König von Urartu hat Tuspa am … verlassen und ist nach Elizzada gegangen. Sein Marschall Kaqqadanu ist nach Waisi gegangen. Die ganze urartäische Armee folgt dem König und marschiert nach Elizzada.“ „Sie haben Waisi mit drei Bezirkskommandeuren betreten. Nach ihrer Ankunft haben sie die Steuern des Landes eingetrieben und die Armee in Alarmbereitschaft versetzt.“ „Narage und 20 seiner Eunuchen haben gegen den König konspiriert und sind festgenommen worden. Der König ist nach Tuspa gekommen und hat sie verhört. 100 in die Verschwörung verwickelte Personen sind hingerichtet worden.“ Neben solchen brisanten Nachrichten schickt Assur-resuja seinem König in der fernen Hauptstadt Assur auch Berichte über banale Schmuggeleien an der Grenze, beschreibt verschiedene Häuser in Kumme oder listet die Namen von fünf urartäischen Gouverneuren auf.

Wie erstaunlich intensiv sich der König offenbar mit den Spionagenachrichten beschäftigte, geht aus Antworten seines Mannes in Kumme hervor: „Zum Befehl meines Königs ‚Sende Späher aus‘ – ich habe zwei ausgeschickt: Der eine kam zurück und berichtete mir diese Dinge; der andere ist noch nicht da.“ Den Herrscher interessierten mitunter sogar einzelne Personen im Nachbarland, seine Nachfrage nach einem Mann namens „Isiye“ bringt seinen Residenten in Verlegenheit: „Ich habe mich erkundigt, aber niemand weiß, wo er ist, und niemand kann mir sagen, ob er lebt oder tot ist.“ Dr. Eva Cancik, Keilschriftexpertin am altorientalischen Seminar der FU Berlin: „ Das sind Berichte auf den Punkt. Das zeigt, welchen Stellenwert die Informationspolitik für den König hatte.“ Dabei liegen den Wissenschaftlern nur Bruchteile der vorderasiatischen Tontafel-Korrespondenz vor. Aus ihren eigenen Übersetzungen und den Arbeiten französischer Kollegen, die das Mari-Archiv bearbeiten, rechnet Eva Cancik die Spionageberichte für den assyrischen Hof auf 10000 Dossiers in zwei Jahren hoch: „Das Archiv der Geheimdienstzentrale zu finden wäre Klasse!“ Dann würde sich vielleicht auch das Schicksal von Assur-resuja klären. Denn die Meldungen des Top-Agenten brechen abrupt ab. Unter Umständen ist er bei einem Aufstand in Kumme umgekommen. Vielleicht ist er aber auch nach Agenten-Art von urartäischen Geheimdienstlern liquidiert worden. Denn da jeder jeden bespitzelte, wußte auch jeder vom anderen. Das Spionagenetz, so finden die Forscher immer deutlicher heraus, war flächendeckend und eine tragende Säule der altorientalischen Reiche – im Inneren wie in der Außenpolitik. „Das war ein hocheffizientes, durchorganisiertes Gebilde“, liest Eva Cancik aus ihren Texten. Es gab verschiedene Berichtswege: Kleine Lauscher meldeten an Agentenführer, die wiederum an den Provinzstatthalter, der dann den Hof informierte. Daneben arbeiteten jedoch noch „qepu“, Agenten, die direkt an den König berichteten – zu ihnen gehörte Assur-resuja. Der Herrscher hatte also Sicherungen eingebaut. Unklar ist den Forschern noch, wie der König mit dieser Informationsflut fertig wurde und auch, „wie das zeitlich funktionierte“, so Cancik, denn „da waren ja einige Entfernungen zu überwinden“. Wie schnell konnten die Spione ihre keilschriftlichen Briefe übermitteln? Luftlinie Kumme–Assur: rund 350 Kilometer, übliches Reittier: der Esel. „Mehr als drei bis vier Tage dürften ja wohl wegen des Verfallsdatums der Information nicht dazwischen sein“, mutmaßt die FU-Wissenschaftlerin.

Für den Überfall auf Urartu kamen die Nachrichten von der Niederlage des urartäischen Königs wohl gerade recht. Dessen Reich am Ararat hatte sich in der Schwächephase des assyrischen Staates im 9. und 8. Jahrhundert v.Chr. zur dominierenden Macht der Region aufgeschwungen. Es blockierte die assyrischen Handelswege nach Anatolien und zum Mittelmeer. Dadurch bedrohte es den dringend benötigten Nachschub an Metallen und Holz. Scharmützel an der Grenze blieben nicht aus, ein assyrischer Limes war nur die halbe Lösung. Sargon II. suchte – nachdem er die angrenzenden Mini-Königreiche wieder unter seine Knute gezwungen hatte – die Entscheidung in einem großen militärischen Schlag gegen den urartäischen König Rusa I. Als Vorwand wurde flugs ein Vergehen Rusas gegen den assyrischen Reichsgott Assur konstruiert, und schon walzte Sargons Kriegsmaschinerie mit den üblichen Greueltaten durch das Nachbarland. Felder, Wälder und Siedlungen wurden niedergebrannt. Die Einwohner allerdings konnten sich meist rechtzeitig mit Hab und Gut und Tier in die Berge retten. Ohne großen Widerstand verwüstete Sargon das Land. Doch die Beute blieb gering – damit gerieten Rechtfertigung und Finanzierung des Feldzuges ins Minus. Das war der einzige Grund, um – auch damals rechtswidrig – das Fürstentum Musasir im Süden Urartus in einem Kommandounternehmen zu überfallen und das dortige Reichsheiligtum der Urartäer auszuplündern.

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430 Zeilen lang ist der Rechenschaftsbericht, den Sargon auf einer großformatigen Keilschrifttafel an seinen Auftraggeber Assur richtet. In diesem „Gottesbrief“ beschreibt er blumig die Mühen des Krieges, seine unerhörten Taten und zählt schließlich in allein 50 Zeilen seine Beute aus Musasir auf: tonnenweise Gold und Silber, Bronze, Waffen, Möbel, Geschirr, Schmuck, eine goldene Harfe und ein Bett aus Elfenbein mit einer Liegefläche aus Silber – über 330000 Gegenstände werden inventarisiert. Die Staatsfinanzen des Assyrers standen wieder im Haben.

Ein anderer Erfolg des Kriegszuges war Sargon so wichtig, daß er ihn in Zeile 300 extra festhalten ließ: Er eroberte unter anderem die Stadt Uajis, die stärkste und kunstvollste Festung des urartäischen Königs, „seine wilden Kampftruppen und die Spione, die Nachrichten über die Länder ringsum hereinbringen, waren in ihr stationiert“. Nach heutigem Frontbericht hatte er wohl die Garnison der Elitetruppen und die Geheimdienstzentrale seines Feindes vernichtet. Aber auch im Inneren gingen die altorientalischen Könige auf Nummer Sicher. Die Beamten des Hofes, ja sogar verbündete Fürsten wurden per Eid zu Augen und Ohren des Königs ernannt. Wer Übles über König oder Staat hörte und das nicht berichtete, hatte mit drastischer Strafe zu rechnen. „Dieses Stasi- System können wir bislang nur indirekt – über die Loyalitätsverpflichtungen – fassen, denn solche Berichte wurden vermutlich mündlich geliefert“, charakterisiert Eva Cancik das innenpolitische Informationssystem. Notwendig war es, denn die Zeiten waren unruhig. Viele Reiche kämpften um die Vorherrschaft: Der Dauerzwist zwischen Babylon und Assyrien prägte ein Jahrtausend lang den alten Orient, die Elamer mischten sich immer wieder ein, Urartu stieg auf und fiel, die Hethiter streckten ihr Reich bis nach Syrien, die Ägypter erhoben Ansprüche in Palästina, und aus den umliegenden Gebirgs- oder Wüstenregionen drangen immer wieder macht- und beutehungrige Barbaren in die etablierten „Staaten“ ein.

Auch im Inneren stand der Thron des Königs oft auf protzigen, aber unsicheren Füßen. Ein Agent berichtet: „Die Prinzen antworten (mir) ständig dasselbe … Die Bürger haben einen Aufstand gemacht. Der König hat Blut vergossen. Sein Thron ist nicht sicher. Die festgelegten Vereinbarungen sind suspendiert worden. Die Prinzen beobachten einander mißtrauisch.“ Kein Wunder – war doch die Legitimation von so manchem Herrscher höchst zweifelhaft. Die Thronfolge bot ebenfalls oft genug Anlaß zu blutigen Familienfehden. Aber auch andere Gruppen, etwa aus Adel, Militär oder Verwaltung, griffen immer wieder über Palastrevolten oder Konspiration mit fremden Mächten nach der Macht. Solche Ungeheuerlichkeiten standen natürlich nur bei siegreichem Verlauf für den König in der staatlichen Propaganda. Aber in den Spionage- und Diplomatenberichten der anrainenden Reiche finden die Schrift-Entzifferer jetzt immer mehr dieser aufrührerischen Geschehnisse. Eva Cancik: „Das rückt das schöne Bild von den altorientalischen Staaten zurecht, nach dem die Völker dort im Glauben an ihre Götter und im Prinzip zufrieden mit ihrem Herrn und König vor sich hin gelebt haben. Haben sie überhaupt nicht, kein bißchen.“ Die Wissenschaft kannte eben lange Zeit nur die Staatspropaganda, „jetzt schauen wir mal hinter die Kulissen und sehen, wie das erkauft wurde“ – nämlich mit einem flächendeckenden Spitzel- und Spionagesystem.

Ein spezieller Knoten in diesem Netz waren die Gesandten. Diese „Internspitzel“ lieferten ihrem Auftraggeber alles vom anderen Hof: das Palastgeschwätz ebenso wie die politischen Skandale und Affären. Der Botschafter des Königs von Mari am babylonischen Hof im 18. Jahrhundert v.Chr. war nach den Funden französischer Archäologen ordensverdächtig erfolgreich: Er hatte offenbar ein besonders großes Ohr und Auge in der unmittelbaren Nähe des babylonischen Königs Hammurabi. Jedenfalls berichtet er seinem Herrn Zimri-Lim von einer Sitzung des geheimen Staatsrates in Babylon, zählt namentlich die Personen auf, die daran teilgenommen hatten und weiß, welche Orakel begutachtet wurden und welche Entschlüsse die Runde danach fällte. Der Top-Agent hatte auch direkten Zugang zum Babylon-Herrscher, eine seiner Meldungen macht kribbelig. Frei übersetzt berichtet er seinem König in Mari: Hammurabi „hat mich, als alle anderen gegangen waren, zurückgehalten. Nur ich habe mit ihm geredet, sein Minister war nicht da und auch sein persönlicher Sekretär war nicht anwesend. Er und ich haben ein bißchen geredet und er hat mir gesagt …“ Da bricht die Tontafel ab.

Kompakt Top-Spione à la James Bond gab es schon vor mehr als 3000 Jahren – deren Berichte finden Archäologen jetzt in den altorientalischen Palastarchiven. Präzise Feindaufklärung vor einem Angriff gehörte zur Kriegsvorbereitung – die Auslandsspionage wurde hochprofessionell betrieben. Gegen Aufruhr und Konspiration im Inneren hatten die Herrscher ein Stasi-ähnliches Spitzelsystem aufgebaut.

Michael Zick

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