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Genies mit Schnuller

Allgemein

Genies mit Schnuller
Neugeborene können mehr und wissen mehr, als man ihnen zutraut. Säuglinge beobachten die Welt und ziehen daraus ihre Schlüsse – wie Wissenschaftler. Vor allem aber interessiert sie, wie Erwachsene funktionieren.

Wenn Wolfgang Mack anfängt zu forschen, zieht er eine Kasperle-Figur über die Hand und stellt sich hinter eine Puppenbühne. Da die in der Universität Frankfurt steht, ist der Raum hinter dem Vorhang vollgestopft mit Elektronik. Über einen Monitor beobachtet der Psychologe den Ehrengast der Vorstellung: ein Baby auf dem Schoß seines Vaters. Mack will herausfinden, ob die sechs Monate alte Arnika zählen kann – wenigstens bis drei. Deshalb spielt er mit einem Notebook kurze Tonfolgen ab, mal zwei Töne, mal drei. Doch nur bei drei Tönen hält er den Kasper vor den Vorhang und läßt ihn kurz mit seinem Glöckchen bimmeln. Wird die kleine Versuchsperson den Unterschied merken und im Lauf des Experiments bei drei Tönen öfter in Erwartung des Kaspers zur Bühne schauen als bei zwei?

Das würde beweisen, daß sie zumindest kleine Anzahlen auseinanderhalten kann. Arnika kann nicht einfach nach der Dauer des Geräuschs urteilen, weil die Länge der Töne ständig variiert und drei nicht unbedingt länger dauern als zwei. Ihr Vater kann ihr nicht helfen, weil er über einen Kopfhörer mit lauter Musik zugedröhnt wird. Und eine Assistentin spielt direkt gegenüber dem Baby mit einem großen Würfel, damit es nicht ständig auf die Bühne guckt. Arnika lieferte den Forschern keine eindeutigen Beweise: Sie lag im statistischen – wissenschaftlich undankbaren – Mittelfeld.

Mack wird noch etliche Babys testen müssen, bevor er weiß, ob sie beim Hören tatsächlich zählen. Schon jetzt aber ist klar: Beim Sehen können Säuglinge kleine Mengen erfassen. Das hat Mack ebenso wie Kollegen in anderen Psycho- Labors der Welt mit ähnlichen Experimenten bewiesen. Bei ihm konnten sechs bis acht Monate alte Babys drei von vier Kreisen unterscheiden.

Solche Leistungen traute den Winzlingen lange niemand zu. Der Philosoph John Locke vermutete im Kopf von Babys gähnende Leere: „ Tabula rasa”. Nach einem Ausspruch des Psychologie-Gründervaters William James vom Ende des 19. Jahrhunderts wiederum herrscht dort „blühende, summende Verwirrung”.

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Heutige Experten dagegen erkennen im Nachwuchs ihresgleichen: „ Wissenschaftler in der Wiege” betitelten die renommierten amerikanischen Entwicklungspsychologen Alison Gopnik, Andrew Meltzoff und Patricia Kuhl denn auch ihr vergangenes Jahr erschienenes Resümee des Forschungsstandes. Die kleinen Geschöpfe, so das Team, „betrachten die Beweislage, ziehen Schlußfolgerungen, machen Experimente, lösen Probleme und suchen nach der Wahrheit”.

Auf den ersten Blick scheinen sie jungen Vögeln weit unterlegen. Während gerade aus dem Ei geschlüpfte Enten losschwimmen und Birkhühner auf den Spuren der Henne nach Insekten suchen, können Neugeborene scheinbar nur hilflos nach ihrer Mutter schreien. Doch ihre wirkliche Begabung ist das Lernen. Und sie haben längst damit angefangen. Schon im Mutterleib bekommen sie Laute aus der Umgebung mit und prägen sich einige davon ein. Deshalb sind sie mit drei Tagen in der Lage, eine Geschichte wiederzuerkennen, die ihre Mutter in den sechs Wochen vor der Geburt zweimal täglich vorgelesen hat – ein paar Klangstrukturen haben sich festgesetzt. Die Winzlinge erkennen die Geschichte sogar, wenn eine andere Frau sie vorliest. Monika Knopf, Professorin für Entwicklungspsychologie in Frankfurt, bescheinigt ihnen „hochwirksame Lernmechanismen” .

Im gleichen Alter können Säuglinge ihre Muttersprache von einer anderen unterscheiden. Man weiß das aus Experimenten, bei denen der Schnuller vier Tage alter Babys zu einer Art Fernbedienung für zwei Tonbänder umfunktioniert wurde. Je nachdem, wie sie saugten, hörten sie ein Band mit ihrer Muttersprache oder mit einem anderen Idiom: Sie wollten lieber die Muttersprache hören. Kaum auf der Welt, beginnen Kinder, ihre Umgebung zu beobachten. Drei bis sechs Millionen Augenbewegungen im ersten Vierteljahr verschaffen ihnen ebenso viele Eindrücke von der Welt. Wie kleine Physiker ziehen sie ihre Schlüsse daraus. Schon mit drei Monaten wissen sie, daß die Dinge um sie herum bestimmten Gesetzen gehorchen. So ließen Forscher vor den Augen Viermonatiger eine Kugel fallen. Die Babys sahen den Beginn des Falls, dann verschwand der Ball hinter einer Sichtblende. Anschließend wurde diese weggezogen, und die Kinder konnten sehen, wo der Ball gelandet war. Bei einem Teil der Versuche stellten die Wissenschaftler die Kinder auf die Probe: Der Ball lag nach dem Fall unter einem kleinen Tischchen. Um dort hinzugelangen, hätte er die Tischplatte durchqueren müssen. Die Babys merkten, daß da etwas faul war: Überrascht starrten sie auf den Ball unter der Platte – deutlich länger, als sie einen regulär auf der Tischplatte gelandeten Ball ansahen.

Könnte solches physikalisches Wissen angeboren sein? Die führende Entwicklungspsychologin Elizabeth Spelke vom Massachusetts Institute of Technology vermutet, daß Kinder einige physikalische Grundprinzipien mit auf die Welt bringen. Ihre nicht minder angesehene Kollegin Renée Baillargeon von der Universität von Illinois dagegen glaubt, daß den Kleinen lediglich „spezialisierte Lernmechanismen, die den Erwerb physikalischen Wissens steuern”, in die Wiege gelegt wurden.

Doch selbst bei einem ererbten Grundlagenwissen müßten die Kinder die Regeln durch viel Lernen verfeinern. So wissen drei Monate alte Kinder zwar, daß losgelassene Dinge fallen. Doch sie glauben, daß jede Art von Kontakt eine Schachtel am Fallen hindern kann – selbst wenn diese nur die Kante einer Tischplatte berührt und ansonsten frei in der Luft schwebt. Erst allmählich begreifen die Kleinkinder, welche Umstände mit entscheiden, ob ein Spielzeug zu Boden donnert. Sie müssen ein halbes Jahr alt werden, bevor sie wissen, daß eine Schachtel herunterfällt, wenn nur ein kleiner Teil ihres Bodens auf dem Tisch steht. Sie haben dies nun öfter erlebt, da sie jetzt selbst mit Gegenständen hantieren können. Wie bewußt Kleinkinder die Naturgesetze wirklich begreifen, weiß niemand – man kann sie ja nicht fragen. Sicher denken sie anders als Erwachsene. Doch selbst skeptische Forscher wie Marshall Haith und Janette Benson von der Universität Denver räumen ein, „daß Kinder Informationen über physikalische Ereignisse haben, die wir noch vor anderthalb Jahrzehnten im Traum nicht für möglich gehalten hätten”.

Babys sind nicht nur kleine Physiker, sie betätigen sich auch als Psychologen. Menschen interessieren sie über alles. Schon Neugeborene reagieren auf das Schreien anderer Babys – sie schreien ebenfalls. Dabei können sie menschliches Baby-Geschrei erkennen: Werden ihnen die Klagelaute eines Schimpansen oder computersimuliertes Gejammer vorgespielt, schreien sie seltener.

Vor allem interessiert es Babys, ob sie sich auf die Menschen in ihrer Umgebung verlassen können. Viele Experten glauben nicht mehr, daß sich Säuglinge wie Graugänse in einer sensiblen Phase an ihre Eltern binden und spätere Erfahrungen keine Rolle spielen. Kleinkinder registrieren ständig, wer für sie da ist und wie Menschen miteinander umgehen. Fallen ihre Beobachtungen zufriedenstellend aus, entwickeln sie Vertrauen. Dabei gibt es keine alles entscheidende Phase – Kinder kommen oft über Vernachlässigungen in der Kindheit hinweg, wenn sie später einen verläßlichen Menschen finden. „Eine relativ kurze Erfahrung mit einem Freund, einer Tante oder einem Lehrer kann Kindern ein anderes Bild davon vermitteln, wie Liebe aussehen kann”, folgert Alison Gopnik. Babys nutzen Erwachsene auch als Informationsquelle über die Welt. Sie greifen fröhlich in eine Schachtel, wenn die Versuchsleiterin zuvor mit entzücktem Gesichtsausdruck hineingeschaut hat. Signalisierte deren Gesicht hingegen Ekel, lassen Einjährige schön die Finger aus der Schachtel, obwohl sie selbst nie hineingesehen haben.

Doch schon mit anderthalb Jahren überwinden sie diese schlichte Weltsicht – eine enorme intellektuelle Leistung. Eine Forscherin verspeiste vor den Augen ihrer 18monatigen Versuchsperson einige Goldfisch-Cracker, verzog das Gesicht und machte „Bäh”. Dann aß sie mit sichtlichem Wohlgefallen ein bißchen rohen Brokkoli. Sie schob beide Schalen zum Kind und bat: „Könntest du mir etwas geben?” 14 Monate alte Kinder reichten prompt ein paar Cracker, weil sie sich nicht vorstellen konnten, daß jemand Brokkoli essen will. Doch mit 18 Monaten greifen sie zum Gemüse. Sie verstehen nun, daß andere Menschen andere Vorlieben haben können. Aber wie kommen Menschen zu ihrer Sicht der Welt – und man selbst zu seiner? Diese Frage gibt den kleinen Denkern noch lange Rätsel auf. Wissenschaftler zeigten dreijährigen Kindern eine Süßigkeitenschachtel, in der sich jedoch Bleistifte befanden. „Süßigkeiten!”, rief das erste Mädchen, und dann „Ach, Bleistifte!”. Doch schon eine Minute später behauptete es steif und fest, daß es in der Schachtel nie etwas anderes als Bleistifte vermutet habe. Alle Dreijährigen waren wie sie obendrein überzeugt, daß andere Kinder ebenfalls von Anfang an nur Bleistifte in der Süßigkeitenschachtel erwarten würden.

Schließlich sind Bleistifte drin – und daß man sich irren kann, ist im Kopf von Dreijährigen noch nicht vorgesehen. Doch sie können es lernen. Forscher führten einer Gruppe Dreijähriger die Relativität menschlichen Wissens immer wieder an verschiedenen Beispielen vor – etwa indem sie demonstrierten, daß andere Kinder fest mit Süßigkeiten in der Schachtel rechnen. Schließlich begriffen die Kleinen, daß Wissen sich auf Schlußfolgerungen stützt, die falsch sein können.

Bis zu solchen schon ins Philosophische gehenden Einsichten ist es ein weiter Weg. Doch Kinder beschreiten ihn nimmermüde. Darum experimentieren sie auch mit ihren Mitmenschen. Sie wollen wissen, wie die funktionieren. Deshalb fassen die im Englischen als „Terrible Twos” bezeichneten Zweijährigen die Mutter fest ins Auge, während sie die Hand nach dem Lampenkabel ausstrecken: Sie wissen, daß die Lampe fallen wird und daß man deshalb nicht an dem Kabel ziehen darf – sie tun es trotzdem, und zwar bewußt. Man darf es ihnen nicht übel nehmen. Wie Wissenschaftler haben sie den Drang, die Welt zu erforschen, kommentiert Alison Gopnik, „ selbst bei Gefahr für Leib und Leben und bei mütterlichen Verzweiflungsanfällen”.

Kompakt

Sechs Monate alte Babys können bereits zählen – beim Sehen unterscheiden sie drei von vier Kreisen. Schon im Mutterleib erfassen Ungeborene Klangstrukturen: Sie bevorzugen die Muttersprache. Säuglinge lernen schnell – mit einem halben Jahr wissen sie, wann Dinge zu Boden fallen. Gibt es angeborenes physikalisches Grundwissen?

Jochen Paulus

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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