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Das zweite Kind ist trickreicher

Allgemein

Das zweite Kind ist trickreicher
Schon in der Pubertät des Erstgeborenen verändert sich die Kommunikation in der Familie von Grund auf. Das zweite Kind setzt noch einmal neue Maßstäbe.

Beim zweiten Kind wird alles anders. Denn es wird oft von Mama und Papa nicht seinem Alter entsprechend behandelt. Erstmals sind jetzt auch die nachkommenden – etwa zwei Jahre jüngeren – Geschwister der pubertierenden Jugendlichen ins Blickfeld der Familienforscher vom Berliner Max-Planck- Institut (MPI) für Bildungsforschung geraten.

Ist das erste Kind in der Pubertät, betrachten die Eltern es zwar weiter als Kind, verändern aber die Art ihrer Kommunikation mit ihm. Und, so eine verblüffende Erkenntnis der MPI-Langzeitstudie, sie sprechen auch mit der jüngeren Schwester oder dem kleineren Bruder anders.

Pubertät – das ist eine schwierige Entwicklungsphase, „nicht nur für Kinder“, weiß Dr. Kurt Kreppner. Der MPI-Entwicklungspsychologe hat unzählige familiäre Konflikte direkt miterlebt oder im Videofilm auf dem Bildschirm gesehen. Die Tür fliegt knallend ins Schloss. Wütend wirft sich Moritz auf das mit Klamotten übersäte Bett in seinem unaufgeräumten Zimmer und ist sauer. „Null Verständnis“ habe seine Mutter für ihn, klagt der hoch aufgeschossene Junge. Alle seine Freunde dürfen am Wochenende ohne elterliche Aufsicht in einer Gartenlaube übernachten und dabei jede Menge Spaß haben, laut Musik hören oder Videos gucken. Nur er, Moritz, ist mal wieder nicht dabei. Seine Mutter hat es ihm nach einer lautstarken Diskussion verboten, weil „dabei doch so viel passieren kann“.

Moritz ist mittendrin in der Pubertät. Dass bei ihm zu Hause Türen knallen und Tränen fließen, ist momentan fast an der Tagesordnung. Dabei sind es nicht die Themen wie Politik oder Religion, die den Familienkrach heraufbeschwören, sondern die Fragen des alltäglichen Lebens. Fast leidenschaftlich streiten Eltern und ihre allmählich erwachsen werdenden Kinder in dieser Lebensphase darüber, ob die Freunde der richtige Umgang sind, ob Mama und Papa schon wieder eine neue Handy-Karte bezahlen müssen, ob die Geburtstagsparty um neun oder zehn Uhr endet, ob die Jeans löchrig und die Haare unbedingt grün sein müssen.

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„Letztlich geht es für die Kinder bei diesen Streitereien darum, mehr Verantwortung für das eigene Tun auszuhandeln, sich von den Eltern zu lösen und einen neuen Status innerhalb der Familie zu bekommen“, erklärt der Leiter der MPI-Langzeitstudie Kreppner: Wer bin ich, wer und wie will ich sein, und wie wirke ich auf andere? Die eigene Identität zu finden und ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln, sind die zentralen Ziele in der Pubertät. „Die Kinder müssen sich selbst erfahren. Sie testen, was sie gut können und was nicht“, sagt Kreppner. „Das kann im Sportverein oder in der Schule sein, aber möglicherweise suchen sie auch Grenzerfahrungen wie Drogenkonsum und Ladendiebstahl.“

Während der Untersuchung haben Familienforscher Kreppner und seine Kollegen 67 West-Berliner Familien mit mindestens zwei Kindern besucht und dabei Videos gedreht, um dem Phänomen der Pubertät auf die Schliche zu kommen: Wie verändert sich die Familie in dieser Phase, und wie reden Eltern und Kinder miteinander? Das Hauptinteresse der Wissenschaftler galt der Kommunikation. „Sie ist der Stoff, aus dem Beziehungen gemacht sind, und aus denen sich die Verhältnisse der Familienmitglieder zueinander ablesen lassen“, sagt Kreppner.

Achtmal in dreieinhalb Jahren sind die Forscher in Berliner Wohnzimmern zu Besuch gewesen, haben gefragt und gefilmt. Tausende von Fragebögen werden teilweise noch heute – acht Jahre nach dem letzten Besuch – ausgewertet. Fast 900 Stunden Filmmaterial zeigen Eltern, die miteinander oder mit ihren pubertierenden Töchtern und Söhnen über das zu lange belegte Badezimmer, den mangelnden Lerneifer in der Schule oder die Höhe des Taschengeldes diskutieren, sich streiten – oder einfach nur schweigen.

Dabei änderte sich die Form der familiären Kommunikation während der Beobachtungszeit ganz auffällig: Lief sie zunächst nach der Devise „erklären und unterstützen“, lautet sie mit zunehmendem Alter des Nachwuchses „argumentieren und verhandeln“. Es werden also „Formen des Diskutierens, wie sie unter Erwachsenen üblich sind, auf den Umgang mit Kindern übertragen“, konstatiert Kurt Kreppner.

Mehr noch als für die gesprochenen Worte interessierten sich die Familienforscher für die Art und Weise, wie Eltern und Kinder miteinander sprechen, Kompromisse finden oder auf ihren Standpunkten beharren. Tonfall, Gestik und Körperhaltung der Diskutierenden wurden unter die Lupe genommen. Ergebnis: Die Jugendlichen, die zuvor im Fragebogen angaben, sich auf Mama und Papa verlassen zu können, zeigten auch bei den Diskussionen, dass sie ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern haben. „Sie können völlig unterschiedlicher Meinung sein, dennoch ist es den Familienmitgliedern anzumerken, dass sie sich mögen und viel Spaß miteinander haben“, so der Berliner MPI-Forscher. Nähe zeigt sich hauptsächlich nonverbal: Selbst Streitende schauen sich an, wenden sich dem Gesprächspartner zu, können Ironie vertragen, und berühren sich manchmal sogar.

Töchter und Söhne, die in einer solchen Atmosphäre aufwachsen, werden animiert, ihre eigenen Meinungen zu vertreten. Ihre Eltern gehen auf sie ein, sie tauschen Argumente aus und finden oft einen Kompromiss. „Diese Jugendlichen können ihr Ich auf den verschiedenen Ebenen der Kommunikation integrieren“, interpretiert Kreppner seine vielfältigen Erfahrungen. Und er weiß: „Für die Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls sind solche Ich-Erfahrungen unerlässlich.“

Aber etliche Kinder haben nicht das Glück, in einer verständnisvollen Umgebung aufzuwachsen. Immerhin ein Drittel der Mädchen und Jungen gaben bei der Befragung an, emotional ein ambivalentes Verhältnis zu ihren Eltern zu haben. Sie wissen nicht, woran sie mit Mutter und Vater sind und ob sie sich in schwierigen Situationen – bei Liebeskummer oder gefährdeter Versetzung – auf sie verlassen können. Nähe, so beobachteten die Berliner Entwicklungspsychologen, ist in diesen Beziehungen kaum vorhanden. „Die Stimmung ist überwiegend kalt, fast feindlich. Wir haben deutlich gespürt, dass diese Familien am liebsten auf jegliches Gespräch miteinander verzichten würden“, resümiert Familienforscher Kreppner.

Die Meinungen der Kinder werden selten auch nur zur Kenntnis genommen, ein echter Austausch von Argumenten findet kaum statt. Die Diskussionen dauern extrem lange, kommen aber in den seltensten Fällen zu einem einvernehmlichen Ergebnis: „Diese Kinder haben wenig Möglichkeiten, ihre neuen Ansichten und Beziehungsvorstellungen auf dem geschützten Übungsfeld des eigenen Zuhauses auszutragen.“ Und: Diese Eltern leben ihren Kindern nicht vor, wie Konflikte konstruktiv gelöst werden können. Das Kommunikationsverhalten der Kinder, so der Familienforscher, „fällt schließlich nicht vom Himmel“: Die Beziehung zwischen den Eltern ist eindeutig Vorbild für die Kinder im eigenen Umgang mit Meinungsunterschieden und Konflikten.

Auf solche Kommunikationsmodelle können pubertierende Scheidungskinder gar nicht erst zurückgreifen. Alleinerziehende gehen einem Krach mit ihren Sprösslingen meist aus dem Wege und machen dagegen häufiger die Beziehung zwischen sich und dem Kind zum Thema. Vor allem Mütter neigen dazu, die eige-ne Rolle zum Verhandlungsgegenstand des Zusammenlebens zu machen. Die Heranwachsenden fühlen sich von ihren Müttern oft als gleichwertige Partner behandelt. Das aber überfordert sie meist. „ Diesen Jugendlichen fehlen verbindliche Regeln, die ihnen Orientierung bieten“, beobachtet Kurt Kreppner. Kinder fordern deshalb häufig von ihren alleinerziehenden Müttern, die Grenze zwischen den Generationen zu wahren: „Du bist schließlich die Mutter.“ Eine solche Abgrenzung schützt sie vor zu hohen Ansprüchen der Mutter, etwa an deren Sorgen teilzunehmen, sie zu verstehen oder gar zu beraten.

Doch nicht nur Scheidungskinder werden nicht immer ihrem Alter entsprechend behandelt. Auch Zweitgeborene werden leicht überfordert, denn oft verzichten die Eltern frühzeitig auf erklärende Worte und verhandeln stattdessen Standpunkte mit ihnen. Wenn das zweite Kind dann mit 13 Jahren in der eigenen Pubertät ist, so eine weitere Erkenntnis der Berliner Langzeitstudie, verlaufen die Diskussionen mit den Eltern oft zähflüssiger und sinnzerstörender als das mit dem ersten Kind der Fall war.

Es ist auch viel schwieriger, mit dem Juniorkind Kompromisse auszuhandeln, denn es hat aus den Erfahrungen des Erstgeborenen gelernt, was für die Durchsetzung des eigenen Willens effizient ist. Trickreich verzichtet Junior von vornherein auf Mittel, die wenig Erfolg versprechend sind, und konfrontiert seine Eltern fast ausschließlich mit den Methoden, die beim älteren Kind wirksam waren. Das schränkt den Handlungsspielraum der Eltern ein, es kracht häufiger.

Wenn das erste Kind in der Pubertät Forderungen stellt und eine eigene Meinung vertritt, reagieren die Eltern sehr viel emotionaler, weil es für sie eine neue Situation ist. Das zweite Kind wird dagegen von den Eltern distanzierter behandelt. Es lebt in einer emotional etwas abgekühlteren Welt, da Mama und Papa bereits auf Erfahrungen mit einem pubertierenden Kind zurückgreifen können. Aber auch das jüngere Geschwisterkind ist „ erfahrener“: Es schaut sich die Beziehung der Eltern zum ersten Kind an und kann sehr genau einschätzen, was erlaubt und was verboten ist.

Erziehung beruht offenbar auf Gegenseitigkeit und „ist ein Kontinuum“, meint Familienforscher Kreppner. Die jüngste Shell Jugendstudie hat es gerade wieder bestätigt: 90 Prozent der Jugendlichen im Alter von 12 bis 25 Jahren sind mit ihren Eltern zufrieden. Knapp 70 Prozent werden ihre Kinder genauso oder so ähnlich erziehen, wie sie selber von ihren Eltern erzogen worden sind – mit allen Streitigkeiten, die zur Pubertät gehören wie das Salz zur Suppe.

Kathryn Kortmann

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