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Tom Sawyer war ein Wirtschaftsweiser

Allgemein

Tom Sawyer war ein Wirtschaftsweiser
Unsere vermeintlich feste Vorstellung von fairen Preisen ist ein Irrtum.

Tom Sawyer, der legendäre Südstaaten-Bengel, hat eine tiefe wirtschaftspsychologische Einsicht: Als er von der Tante die Strafarbeit „Zaunstreichen“ verordnet bekommt, schwingt er – scheinbar freudig erregt – den Pinsel. Seine Kumpel übernehmen nach kurzem Zögern seine Wertschätzung der Fron und bezahlen ihn, um auch streichen zu dürfen.

Zum Schluss ist der Zaun picobello und mehrfach gepinselt, und Tom Sawyers Schatztruhe ist angewachsen um: „zwölf Murmeln, ein Stück eines Brummeisens, ein Stück blau gefärbtes Glas zum Durchschauen, eine Spielkanone, ein Messer, das gewiss nie jemand Schaden getan hatte oder jemals tun konnte, ein bisschen Kreide, ein Glasstöpfel, einen Zinnsoldaten, den Kopf eines Frosches, sechs Feuerschwärmer, ein Kaninchen mit einem Auge, einen messingen Türgriff, ein Hundehalsband (aber keinen Hund), den Griff eines Messers, vier Orangenschalen und einen kaputten Fensterrahmen.“

Mit dieser Geschichte zeigte Mark Twains Geschöpf mehr ökonomische Weisheit als die etablierten Wirtschaftstheoretiker. Die gehen nämlich von der Existenz fester Preise in den Köpfen aus, die auf „fundamentalen Werten“ beruhen. Im Klartext: Vor einem Kauf schätzt der Mensch angeblich den Belohnungswert/Lustgewinn der Ware ab und taxiert, wie viel Unlust in Form von Arbeit er dafür berappen will.

Doch diese Einschätzung geht stramm an der Realität vorbei. Die Wirtschaftspsychologie liefert ein völlig anderes Bild: Unser Sinn für Preise ist äußerst unpräzise und fällt obendrein auf banale Manipulationen herein.

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Der Psychologe George Loewenstein von der Carnegie Mellon University in Pittsburgh/USA und der Ökonom Dan Arielyl vom Massachusetts Institute of Technology boten Testpersonen eine Reihe gehobener Konsumgüter an und fragten nach dem Preis, den sie dafür zu bezahlen bereit wären. Als Preis-Richtschnur nahmen die Wissenschaftler – völlig willkürlich – die beiden Endziffern der Sozialversicherungsnummer der Testpersonen: Wer die Endziffer 34 hatte, war zum Beispiel bereit, 34 Dollar für eine Computertastatur zu bezahlen. Wer die Endzahl 50 hatte, wollte durchaus 50 Dollar anlegen. Obwohl den Probanden klar war, dass die Zahlenkombination absolut zufällig war, färbte sie massiv auf ihre subjektive Preisvorstellung ab.

Die Finte mit der Sozialversicherungsnummer ist eine so genannte Anker- Manipulation, mit der man menschliche Entscheidungen beeinflussen kann. Auch hier hatte der willkürliche Urteilsanker Gewicht: Probanden mit der Endziffer 50 waren bereit, fast doppelt so viel für eine Computertastatur zu bezahlen wie jene mit der Zahl 34. Die Vorstellung vom „absoluten Warenpreis“ kommt also völlig willkürlich zustande. Die Vorstellungen über den „relativen Preis“ sind dagegen streng geeicht: Die Probanden mit der Endziffer 34 etwa wollten für einen guten Wein 11 Dollar ausgeben, für einen besonders edlen Tropfen schienen ihnen 17 Dollar fair. Bei den „Fünfzigern“ durfte der gute Wein 19 Dollar und der Gourmetwein 27 Dollar kosten. In beiden Fällen wurden also rund 50 Prozent Aufschlag als angemessen empfunden.

„Preisvorstellungen sind am Anfang ganz schwammig und werden erst durch einen Anker geprägt“, leiten die beiden Autoren aus ihren Untersuchungen ab. Der Anker, eine willkürlich gewählte Größe, dient als Ausgangspunkt, um die relativen Gewichtungen festzulegen.

In einer weiteren Studie fragten die Forscher die Bereitschaft der Teilnehmer ab, gegen 10 Dollar Entlohnung einem zehnminütigen Gedichtsvortrag zu lauschen. Eine andere Gruppe wurde dagegen gefragt, ob sie bereit wäre, für den gleichen Akt 10 Dollar zu bezahlen. Unabhängig davon, ob das Lyrik-Erlebnis als positiv oder negativ eingeschätzt wurde: Für länger dauerndes Zuhören setzten die Probanden höhere „Gebühren“ fest – sie wollten mehr Geld bekommen oder mehr bezahlen.

Wie beliebig die Bewertung ökonomischer Variablen ist, lässt sich auch daran ablesen, dass Menschen meist stärker auf Preisänderungen ansprechen als auf die Preise selbst. Vermutlich haben auch Arbeiter und Angestellte nur eine sehr vage Vorstellungen über den absoluten Wert ihrer Arbeitskraft. Der beste Anker, an den sie sich halten können, ist die Summe, die man ihnen bis dato bezahlt hat. Deshalb hat jede Änderung nach oben oder unten ein so großes Gewicht.

Die „Relativitätstheorie“ der Preise zeigt sich auch bei Gerichtsentscheidungen über Schmerzensgeld. In den USA, so berichtet Psychologieprofessor Daniel Kahneman von der Princeton University, hängt die Höhe der Summe nur zu 40 Prozent von der Schwere der Beeinträchtigung ab. Auch Richter und Geschworene halten sich dabei an Urteilsankern fest – wobei unklar ist, welcher Richtwert dem Gericht als Anker dient.

Der Instinkt, der uns den „handelsüblichen“ Preis als fair und jede Teuerung als „Schiebung“ erscheinen lässt, geht vermutlich auf unsere Vergangenheit zurück. Als der Steinzeitmensch von Angesicht zu Angesicht Güter tauschte, hat die Evolution ihm wohl einen Sinn für Handelsmoral eingeimpft.

Das fehlende Gespür für absolute Preise wirkt sich auch auf potenzielle Missetäter aus. Kriminelle haben wohl meist keine konkrete Vorstellung von der Wucht einer angedrohten Sanktion, heben Loewenstein und Arielyl hervor: Die absolute Strafhöhe hat jedenfalls kaum Einfluss auf die Verbrechensrate. Die Zahl der Verbrechen geht jedoch – kurzfristig – zurück, wenn das Strafmaß deutlich angehoben wird.

Rolf Degen

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