Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Die Grande Dame und der Aufsteiger

Allgemein

Die Grande Dame und der Aufsteiger
Nur eine Handvoll chemischer Stoffe besetzt die Schlüssel- positionen im industriellen Netz der Welt. Zwei Jahrhunderte lang war Schwefelsäure die heimliche Herrscherin – heute hat ein Aufsteiger ihren Thron erobert.

Ammoniak, Chlor, Salzsäure, Natronlauge – keiner braucht so was, allenfalls für gelegentliche Befreiungsschläge bei verstopfter Toilette. Und doch wäre das Leben ohne sie eine herbe Umstellung: auf das Niveau um etwa 1700, teilweise davor. Natronlauge etwa wird verwendet, um Aluminium zu gewinnen, Rohstoffe für Seife herzustellen, ferner für die Glasproduktion. Ohne Salzsäure gäbe es – Gourmets dürfen sich jetzt schütteln – weder Brühwürfel noch Gummibärchen. Und auch kein erschwingliches Papier, um sich über diesen Zustand zu beschweren.

Aber das wäre erst der Anfang einer langen Mängelliste. „Vor 50 bis 100 Jahren bestimmten noch großenteils Holz und Textilien das Leben – jetzt sind es die so genannten Grundchemikalien“, sagt Dr. Klaus Blum. Er ist Leiter der Abteilung chemische Zentralfunktionen im Chemieunternehmen Wacker in Burghausen, das die innovative Nutzung dieser chemischen Grundstoffe forciert.

„Heute ist unsere gesamte Zivilisation stark von ihnen beeinflusst“, sagt Blum. „Ohne die Grundchemikalien könnte man beispielsweise die mehreren tausend Feinchemikalien für Medikamente nicht herstellen. Aber auch für vieles andere, von Sportartikeln bis zu Autos, benötigt man diese wenigen Ausgangssubstanzen.“

Die Grande Dame unter den heimlichen Herrschern ist die Schwefelsäure. Die betagte Lady, eine starke Säure mit der Formel H2SO4, war unter den ersten Grundchemikalien, für deren Herstellung vor gut 200 Jahren Fabriken errichtet wurden. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war sie sogar so bedeutend für die Industrie, dass sich an ihrem Produktionsvolumen ablesen ließ, wie sich die Wirtschaft eines Staates entwickelte. Heute ist sie immer noch vorne mit dabei – bei der Herstellung von Düngemitteln, Farbstoffen, Konserven, Kunstfasern, Sprengstoffen, Waschmitteln und vielem mehr.

Anzeige

Unverarbeitet – wenn auch mit Wasser auf 20 bis 32 Prozent verdünnt – präsentiert sie sich nur in Autobatterien. Dort leitet sie Strom und hilft, elektrische Energie in chemischer Form zu speichern. Allerdings wandern derzeit lediglich 0,8 Prozent der jährlich weltweit hergestellten 160 Millionen Tonnen Schwefelsäure in Bleiakkus, weiß Michel Michaux, Koordinator des Chemieverbandes European Sulphuric Acid Association. Der Löwenanteil geht in die Produktion von Kunstdünger, des Weiteren in Konsumartikel wie Tischtennisbälle, Nylonstrümpfe und Plexiglas.

Weder Nylons noch Ping-Pong-Bälle sind schwefelhaltig oder sauer – doch Schwefelsäure spielt eine entscheidende Rolle bei deren Werdegang. Um das Celluloid für einen Tischtennisball herzustellen, wird Cellulose mit einer Mischung aus Schwefel- und Salpetersäure behandelt. Im Nylonstrumpf steckt die Schwefelsäure hinter dem Molekül, das die Nylonfaser aufbaut: dem Caprolactam. Auch die molekularen Grundbausteine von Plexiglas werden mit Hilfe der Säure hergestellt.

Bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts führte die Säure ein unauffälliges Dasein. Alchemisten und Wunderdoktoren kannten sie zwar schon seit dem frühen Mittelalter als „Vitriol-Öl“, hatten sie aber immer nur in kleinen Mengen benötigt. Doch zu Beginn der industriellen Revolution verlangte die aufkeimende Textilindustrie nach der Säure, um die Farbstoffe „Sächsisch Grün“ und „Sächsisch Blau“ herzustellen und um Stoffe zu bleichen. Kluge Köpfe hatten nämlich entdeckt, dass verdünnte Schwefelsäure ihre Stoffe schneller und preisgünstiger bleichte als die zuvor übliche Sauermilch. Das war der Startschuss für einen rasanten Aufstieg. Im Erzgebirge und im Harz („Nordhäuser Vitriol-Öl“) stieg die Zahl der Brennereien, die in einer zeitaufwändigen Prozedur das Eisenmineral Vitriol zersetzten, um daraus die Säure zu gewinnen. Großbritannien produzierte Ende des 18. Jahrhunderts bereits großtechnisch „Englische Schwefelsäure“: Allein in Glasgow und Birmingham standen je acht Fabriken. Doch als sich Anfang des 19. Jahrhunderts das so genannte Leblanc-Verfahren zur Sodaherstellung durchsetzte, reichte die bis dato produzierte Schwefelsäuremenge nicht mehr. Soda – chemisch: Natriumcarbonat, heiß begehrt in der Seifen- und Glasfabrikation – konnte nach der Methode des Franzosen Nicolas Leblanc einfach aus Kochsalz und Schwefelsäure hergestellt werden.

„Die Nachfrage nach Schwefelsäure stieg in’s Ungeheure, von allen Seiten flossen die Capitalien diesem gewinnbringenden Gewerbszweig zu, die Entstehung und Bildung der Schwefelsäure wurde aufs Genaueste studirt, man kam von Jahr zu Jahr auf bessere, einfachere und wohlfeilere Gewinnungsmethoden.“ So beschrieb Chemie-Nestor Justus von Liebig 1844 die Entwicklung der jetzt boomenden Schwefelsäure-Industrie.

Schon kurz nach Liebigs Tod wurde das „Kontaktverfahren“ eingeführt, das bis heute – inzwischen zum „ Doppelkontaktverfahren“ optimiert – die gängige Technik geblieben ist: Die Hersteller verbrennen Schwefel oder rösten Schwefelerze, setzen das entstehende Gas Schwefeldioxid (SO2) an einem Katalysator aus Vanadiumoxid – dem „Kontakt“ – zu Schwefeltrioxid (SO3) um und machen daraus SO3-gesättigte („rauchende“) Schwefelsäure, die sie nach Bedarf handelsüblich verdünnen.

Andere Quellen für Schwefelsäure sind neu hinzugekommen: „Die Produktion innerhalb der klassischen Chemie ist immer stärker zurückgegangen zugunsten der Produktion bei der Verarbeitung schwefelhaltiger Erze“, sagt Prof. Franz Nader vom Verband der chemischen Industrie (VCI). Bei der Herstellung von Kupfer aus dem Mineral Kupferkies muss das dabei entstehende Schwefeldioxid aus der Abluft entfernt werden. Warum es also nicht gleich zu Schwefelsäure umsetzen und die als Nebenprodukt verkaufen?

Die betagte Herrscherin rangiert auch heute noch in der Spitzengruppe der meistproduzierten chemischen Grundstoffe (siehe Tabelle rechts „Die Top 12″). In Deutschland liegt sie auf Platz 5. In den Vereinigten Staaten hat sie nur ein einziger Konkurrent überholt: der junge Aufsteiger Ethen. Das hantelförmige Kohlenwasserstoff-Molekül mit der Summenformel C2H4 steht heute auch in Deutschland mit mehr als fünf Millionen Tonnen Jahresproduktion an oberster Stelle der Grundchemikalien-Liste.

Anfang des letzten Jahrhunderts, als die Schwefelsäure schon längst Furore gemacht hatte, galt das farblose Gas Ethen (frühere Bezeichnung: Ethylen) noch als chemische Kuriosität ohne praktische Bedeutung. Heute wird es in Massen hergestellt: 2001 lag die Produktionsmenge des Aufsteigers allein in Deutschland bei 60 Kilogramm pro Kopf der Bevölkerung. Zum Vergleich die Pro-Kopf-Produktionsmenge für Phosphorsäure, Nummer 40 in der Grundchemikalien-Liste: ganze 440 Gramm.

In dieser Aufsteiger-Erfolgsgeschichte spiegelt sich die seit Ende des Zweiten Weltkriegs ständig gewachsene Abhängigkeit der Wirtschaft vom Erdöl – denn daraus gewinnt man das Ethen – und die Karriere der Kunststoffe (Polymere). Ethen wird zu Plastiktüten, Surfbrettern, Kabelbindern, Reis-Kochbeuteln und Mülltonnen verarbeitet. Es ist der Grundbaustein des meistproduzierten Kunststoffs in Deutschland: Polyethylen (PE). Gleichzeitig ist es die Ausgangsverbindung für weitere Polymere wie Polyvinylchlorid (PVC) und Polyvinylacetat (PVAc). Klaus Blum von der Wacker Chemie, die jährlich 120000 Tonnen des Gases verarbeitet, klassifiziert die drei Kunststofftypen: „PE ist ein Standardkunststoff, PVC ist etwas veredelt, und das PVAc ist noch edler.“

Für zahlreiche Anwendungen eignet sich PE nicht – dafür aber PVAc. Durch die von der Essigsäure abgeleitete Acetat-Gruppe am Ethylen, das „Ac“ im Kürzel, lässt sich PVAc gut in Wasser verteilen, während PE organische Lösungsmittel benötigt. So wird Polyvinylacetat, das zwei- bis dreimal teurer ist als einfaches Polyethylen, häufig in lösungsmittelfreien Dispersionsfarben oder Holzleim eingesetzt. Dort bindet PVAc die Pigmente an die Oberfläche. „Auch in Druckfarben bindet der Kunststoff die Pigmente fest auf Plastik oder Metall“, erläutert Blum. „Und der Aufdruck auf Verpackungen von Schokoriegeln oder auf Plastiktüten haftet durch eine modifizierte Form des PVAc.“

Die Plastiktüten selbst bestehen meist aus dem preisgünstigeren Polyethylen. Aber PE ist nicht gleich PE. Abhängig vom Herstellungsverfahren lassen sich verschiedene PE-Arten mit sehr unterschiedlichen Eigenschaften erzeugen. „Für Wasserrohre mit großem Durchmesser benötigt man einen harten, aber gleichzeitig flexiblen Kunststoff, für Verpackungsfolien eher ein weiches Material“, sagt Blum.

Beide Anforderungen kann Polyethylen erfüllen. Denn die Flexibilität des Kunststoffs wird dadurch bestimmt, wie die einzelnen Ethen-Moleküle miteinander zu den PE-Riesenmolekülen verknüpft werden. Im Hochdruck-Polyethylen beispielsweise, das bei 1000 bis 3000 Bar hergestellt wird, verzweigen sich die Polyethylen-Ketten weitläufig. Die sperrigen Ketten haben dadurch nur wenig Kontakt zueinander. Die Konsequenz: Sie bleiben beweglich, und der Kunststoff ist daher weich. Die unverzweigten Ketten des Niederdruck-Polyethylens hingegen können wesentlich enger gepackt werden, sie kleben durch elektrostatische Kräfte stärker aneinander. Das resultierende Material ist folglich steif.

Neben diesen zwei „klassischen“ PE-Typen gibt es inzwischen eine breite Palette weiterer Polyethylen-Varianten, beispielsweise das „Linear-low-density“-PE (LLD-PE). In ihm tragen die Polymerketten viele kurze Seitenarme, ähnlich wie ein doppelzinkiger Kamm. Sie können durch die abstehenden „Zinken“ nicht eng gepackt werden – die Folge: Der Kunststoff ist extrem reißfest und dehnbar.

Dr. Karl-Alexander Rastaedter, Public Affairs and Safety-Manager bei der Deutschen Shell Chemie GmbH, veranschaulicht die Eigenschaften von reinem LLD-PE mit einem alltäglichen Bild: In einer Einkaufstüte aus diesem Material könnte man zwar im Extremfall 100 Kilogramm transportieren, ohne dass das Behältnis reißt – aber die Einkäufe würden über das Pflaster schleifen, weil die Tüte sich unter dem Gewicht enorm dehnen müsste. Eine Tüte aus reinem, einfachem Hochdruck-PE hingegen würde unter diesem Gewicht sofort zerreißen. Beide Werkstoffe lassen sich jedoch kombiniert verarbeiten – der LLD-PE-Anteil in einer Plastiktüte liegt zwischen 35 und 65 Prozent. Diese Kombination schafft eine Plastiktüte mit guten Gebrauchs- und Trageeigenschaften.

Die Zahl neuer PE-Varianten und PE-Kombinationen ist in den letzten Jahren immer weiter gestiegen – eine Überraschung selbst für die Experten. „Vor etwa 20 Jahren ging man davon aus, dass Standardkunststoffe wie Polyethylen an Bedeutung verlieren“, bezeugt Dr. Rüdiger Baunemann, Geschäftsführer des Ressorts „ Kunststoff und Verbraucher“ beim Verband der Kunststofferzeugenden Industrie. Damals schwärmten alle von Hochleistungskunststoffen aus erlesenen Bausteinen mit ausgefeilten Eigenschaften – die würden den Klassiker PE ersetzen. „Das erwies sich als Trugschluss“, sagt Baunemann rückblickend. „Die Hochleistungskunststoffe zeichnen sich neben ihren tollen Fähigkeiten auch durch einen hohen Preis aus. Außerdem gibt es heute die Metallocen-Katalysatoren.“ Mit ihnen können die Chemiker die Struktur der PE-Ketten und damit die Kunststoff-Eigenschaften maßschneidern. „Da ist längst nicht alles ausprobiert“, urteilt Baunemann. Aus Einem mach Alles: Dieser Trend katapultierte den Grundbaustein aller PE-Varianten, das Ethen, an die Spitze der heimlichen Herrscher.

Schon in der Antike könnte das Ethen die Geschicke der Menschheit mit gelenkt haben – und das mit einem verschwindend kleinen Bruchteil der Menge, die heute in den Chemieanlagen erzeugt wird. Wissenschaftler um Jelle de Boer von der Wesleyan University in Connecticut und den Florentiner Geologen Luigi Piccardi fanden nämlich heraus: Just dieses Gas quoll, durch Kohlenwasserstoff-Lagerstätten im Untergrund gespeist, aus einer Erdspalte in die Orakel-Grotte im griechischen Delphi. Dort erfragten die Mächtigen jener Epoche göttlichen Rat von einer Priesterin, die inmitten der Gasschwaden – halb betäubt – Weissagungen lallte.

Das Orakel von Delphi entschied über Bündnisse und Zerwürfnisse, über Kriegszüge und Handelsexpeditionen. So mag der heutige Industrie-Aufsteiger Ethen für den Aufstieg und Untergang ganzer Königreiche verantwortlich gewesen sein – 2500 Jahre, bevor er in der Industriewelt unserer Tage die alte Dame Schwefelsäure vom Thron stieß.

KOMPAKT

• Materielle Kultur und Lebensstandard der Industriestaaten hängen von der Verfügbarkeit weniger Grundchemikalien ab.

• Schwefelsäure war seit dem Beginn der industriellen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts der meistproduzierte chemische Industriegrundstoff. In den neunziger Jahren hat Ethen diese Rolle übernommen.

Barbara Witthuhn

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Hu|mor  〈m.; –s; unz.〉 1 Fähigkeit, auch die Schattenseiten des Lebens mit heiterer Gelassenheit zu betrachten 2 überlegene Heiterkeit, gute Laune … mehr

Dün|ger  〈m. 3〉 Zusätze für den Erdboden, die den Nährstoffbedarf der Pflanzen decken u. den Ertrag steigern helfen; Sy Dung … mehr

Grund|far|be  〈f. 19〉 1 eine der drei Farben Gelb, Rot, Blau, durch deren Mischung alle anderen Farben entstehen 2 〈Mal.〉 Farbe des Untergrundes, auf der die weiteren Farben aufgetragen werden … mehr

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige