Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Kathedralen aus Atomen

Allgemein

Kathedralen aus Atomen
Die Ästhetik des bizarren Universums aus Molekülen und Festkörper-Kristallen inspiriert Chemiker dazu, bis an die Grenzen des Machbaren vorzustoßen.

“Eaton ist für Chicago, was Michelangelo für Florenz war” , zitierte die Tageszeitung Chicago Tribune 2001 einen Bewunderer. Besagter Philip E. Eaton hat keine Skulptur und kein gemaltes Kunstwerk erschaffen – sondern einen Super-Sprengstoff namens Octanitrocuban. Das hymnische Lob kam von Bart E. Kahr, Chemieprofessor an der University of Washington. Er ist des schwarzen Humors unverdächtig und war schlicht begeistert, dass es dem Kollegen an der University of Chicago gelungen war, ein „ würfelförmiges Molekül von makelloser Symmetrie” zu synthetisieren.

Die Makellosigkeit des Würfels aus acht Kohlenstoff-Atomen hat Konsequenzen. Bei einem Bindungswinkel von rund 109 Grad zueinander würden sich Kohlenstoff-Atome sozusagen pudelwohl fühlen – die Struktur nähme dann ein Energieminimum ein und wäre dementsprechend stabil. Im perfekten Kohlenstoffwürfel jedoch liegen Bindungswinkel von 90 Grad vor. Eaton erzwang sie mit Tricks und hohem Energieaufwand, der in der Struktur gespeichert bleibt.

Da knistert es im Molekül-Gebälk. Erstaunlich, dass das Chicagoer Labor von Phil Eaton noch steht: Auch wenn von praktischen Experimenten noch nichts bekannt wurde – nach den Berechnungen der Experten ist das so schön gebaute Octanitrocuban der stärkste nicht-nukleare Sprengstoff, der jemals auf Erden existiert hat. „Schönheit” schreiben die Chemiker weniger bestimmten Stoffen und deren makroskopischen Eigenschaften zu, beispielsweise einer attraktiven Färbung. Sie begeistern sich vielmehr an der ästhetische Struktur der submikroskopisch kleinen Bausteine – der Moleküle und Kristalle. Über 20 Millionen unterschiedliche chemische Substanzen sind derzeit bekannt. Ästhetisch reizvoll an deren Formeln oder dreidimensionalen Modellen finden die Forscher in der Regel, was hochgeordnet und symmetrisch ist.

In diesem Punkt entspricht das Ästhetikgefühl der Chemiker dem Schönheitsempfinden der Allgemeinheit: Viele wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass hochsymmetrische Formen von den meisten Menschen als attraktiv wahrgenommen werden. An bestimmten regelmäßig gebauten Körpern – das griechische Wort „ Symmetrie” heißt „Gleichmaß” – lassen sich Operationen wie Drehungen, Spiegelungen oder Schraubungen vollführen, ohne dass die Körper nach diesen Prozeduren für den Betrachter verändert aussehen.

Anzeige

Schon in der Antike bewunderten Menschen solche Strukturen. Für den griechischen Philosophen Platon war darüber hinaus die mathematische Einfachheit der Beschreibung gleichbedeutend mit Schönheit. Er stellte eine Theorie der Materie auf, in der regelmäßige Objekte wie Tetraeder, Würfel, Oktaeder, Ikosaeder und Dodekaeder – heute als platonische Körper bezeichnet – eine zentrale Rolle spielten.

Chemiker wie der Nobelpreisträger Roald Hoffmann und der Bonner Professor Fritz Vögtle – er arbeitet unter anderem an baumartig verästelten „Dendrimeren” aus immer gleichen Untereinheiten – berufen sich in ihren Ansichten über die Schönheit von Molekülstrukturen auf diese Ästhetik-Kriterien der Antike. Aber bei Joachim Schummer stößt das auf Widerspruch. Schummer, Gastprofessor an der University of South Carolina in Columbia, USA, ist Doktor der Philosophie und Diplom-Chemiker. Er spürt in seiner aktuellen Forschungsarbeit der Frage nach, welche Strukturen Menschen als ästhetisch empfinden. „Chemiker freuen sich natürlich über Molekülmodelle und Strukturen, die sich durch ein klares, durchschaubares Bauprinzip auszeichnen”, räumt Schummer ein. Doch er bezweifelt, dass der bloße Eindruck, ein Molekül sei schön, bereits alles ist.

„Nach Immanuel Kant ist das Glücksmoment eines Wissenschaftlers beim Betrachten und Begreifen eines solchen Molekülmodells nicht Ausdruck eines ästhetischen Reizes, sondern Folge eines Erkenntnisaktes”, argumentiert Joachim Schummer. Daher misstraut er der aus der Antike übernommenen Deutung, es käme nur auf hohes Gleichmaß an. Auch in der Kunst hätten mathematische Symmetrie und gedankliche Einfachheit allein nie die entscheidende Rolle gespielt.

Genau wie beim Betrachten eines Kunstwerks spielen für den Chemiker beim Anblick einer Strukturformel oder eines Molekülmodells sowohl Erkenntnis als auch Empfindung eine Rolle, ist Schummer überzeugt. „Gute Wissenschaftler haben ein emotionales Verhältnis zu ihren Forschungsgegenständen. Das wollen sie sich selbst aber nicht immer eingestehen, und es ist vielen nicht bewusst.” Der Wissenschaftsphilosoph wertete 300 zufällig ausgewählte Zuschriften an die Fachzeitschrift „ Angewandte Chemie” aus. In immerhin 6 der eingesandten Arbeiten gaben die Autoren ausdrücklich an, der ästhetische Wert eines Moleküls sei für sie ein Motiv für dessen Herstellung gewesen. Chemiker beschränken sich offenbar nicht auf das Genießen molekularer Schönheit – es reizt auch ihren professionellen Ehrgeiz: Schaffe ich es, solch eine Struktur zu synthetisieren, oder werde ich daran scheitern?

„In der Organischen Chemie ist die Ästhetik, die mit der Gestalt hochsymmetrischer Moleküle verbunden ist, für Chemiker eine Quelle der Inspiration und treibt sie immer wieder zu Höchstleistungen, um die Grenzen des theoretisch und präparativ Machbaren zu erweitern.” Das schreibt Prof. Hans-Jürgen Quadbeck-Seeger, ehemaliger Forschungsvorstand der BASF AG, in seinem Buch „Chemie-Rekorde”.

Diesem Drang, das präparativ Machbare auszuloten, ist auch Philip E. Eaton erlegen: Seinem Wunsch, als erster einen perfekten Würfel aus Kohlenstoff-Atomen hinzukriegen, entsprang das Octanitrocuban. Und selbst Platon mit seinem Symmetrie-Tick hätte dabei zufrieden geseufzt.

KOMPAKT:

• Der ästhetische Eindruck einer Struktur erschöpft sich nicht in „symmetrisch gebaut, daher schön”.

• Vielmehr begeistert auch die Erkenntnis des Bauprinzips den Chemiker und stachelt seinen professionellen Ehrgeiz an, ungewöhnlich gebaute Moleküle im Labor zu synthetisieren.

Frank Frick

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Nacht|af|fe  〈m. 17; Zool.〉 Angehöriger einer zu den Rollschwanzaffen gehörenden Gattung der Breitnasen mit großen Augen u. buschigem Schwanz in Süd– u. Mittelamerika: Aotes

Bau|schaf|fen|de(r)  〈f. 30 (m. 29); meist Pl.〉 im Bauwesen werktätige Person

Zahn|bras|se  〈f. 19; Zool.〉 zur Familie der Brassen gehörender Speisefisch des Mittelmeeres: Dentex vulgaris

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige