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„Mehr als Knallen und Stinken“

Allgemein

“Mehr als Knallen und Stinken”
Das Image der Chemie muss entscheidend verbessert werden, fordert Prof. Wolfram Koch, Geschäftsführer der Gesellschaft Deutscher Chemiker.

bild der wissenschaft: Mit dem öffentlichen Ansehen der Chemie ist es nicht zum Besten bestellt. Deshalb behelfen sich sogar chemische Unternehmen mit englischsprachigen Konstrukten wie „ Life Sciences”. Wann benennt sich die Gesellschaft Deutscher Chemiker um, Herr Prof. Koch?

KOCH: In der Tat führen auch wir Diskussionen über den Begriff „Chemie”, allerdings mit einer anderen Stoßrichtung als Unternehmen. Bei Aktien-Analysten etwa ist es nicht schick, Chemie zu machen, weil sie damit wenig Innovation verbinden. Wer sich innovativ geben will, siedelt sich in der pharmazeutischen Branche an, macht Biotechnologie oder Nanotechnologie. Doch in allen Fällen ist das nichts anderes als Chemie. Wir als Gesellschaft Deutscher Chemiker haben eher das Problem, dass der Begriff zu sehr einengt auf das, was früher war. Deshalb bringen wir die „Molekularen Wissenschaften” ins Spiel – nicht als Ersatz für Chemie, sondern als Hinweis auf die Bandbreite, über die wir reden. Immer dann, wenn es um molekulare Wechselwirkungen geht, haben wir es mit Chemie zu tun. Um es salopp zu formulieren: Chemie ist heute eben nicht mehr das, was knallt und stinkt.

bdw: Ist der Begriff Chemie also ein Anachronismus?

KOCH: Dazu ist der Name zu etabliert. Die Gesellschaft Deutscher Chemiker wird sicherlich nicht in Gesellschaft Deutscher Molekularwissenschaftler umfirmiert. Aber man wird Chemie um Begriffe erweitern, die zeigen, dass sich darunter mehr verbirgt, als landläufig angenommen wird.

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bdw: Ob Sie nun von Chemie oder Molekularen Wissenschaften sprechen – es ändert nichts daran, dass die Herstellung von chemischen Verbindungen zu Unfällen führen kann. Auch ein neuer Name wäre dann schnell beschmutzt.

KOCH: Dennoch glaube ich, dass gegenüber der Situation vor 15 oder 20 Jahren eine Entspannung eingetreten ist. Das hängt ursächlich damit zusammen, dass es in der jüngeren Zeit in Deutschland keine Aufsehen erregenden Störfälle gegeben hat. Nach einem Unfall wäre die skeptische Haltung sofort wieder da, da gebe ich Ihnen Recht. Andererseits gibt es gesellschaftlich positiv besetzte Bereiche, in denen wir viel stärker in Erscheinung treten müssen. Sowohl was die Nachhaltigkeit als auch was die Innovationskraft der chemischen Industrie angeht, gibt es genug Potenzial, um an Image zu gewinnen. Gerade bei nachhaltigen, Umwelt schonenden Produktionsverfahren liegen wir deutlich vor anderen Branchen. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass eine wirklich nachhaltige Entwicklung nicht mit weniger, sondern nur mit mehr innovativer Chemie realisiert werden kann.

bdw: Eine weitere Chance der positiven Darstellung hätten Sie, wenn mal wieder über die schlechte Zusammenarbeit zwischen deutschen Universitäten und der Wirtschaft lamentiert wird. In der Chemie gibt es kaum Probleme.

KOCH: Das ist richtig. Ich behaupte sogar, dass die Verzahnung in den vergangenen Jahren zugenommen hat, weil sich die chemische Industrie aus der risikoreichen Grundlagenforschung zurückzieht und diese vermehrt in Partnerschaft mit Hochschulen und anderen Forschungseinrichtungen betreibt. Beide Bereiche befruchten sich: Die chemischen Institute an den Hochschulen wären schlechter ausgestattet, wenn wir keine so starke chemische Industrie hätten. Und andererseits profitieren die Unternehmen natürlich von der international vorzeigbaren universitären Forschung.

bdw: Wenn es um die Forschung so gut bestellt ist, warum fallen nicht mehr Nobelpreise für Chemie nach Deutschland?

KOCH: Das liegt wohl an Mängeln, die den Wissenschaftsstandort Deutschland nicht so attraktiv erscheinen lassen wie die USA. Der Wettbewerbsgedanke ist bei uns weniger ausgeprägt. Aus politischen Gründen wollten die Hochschulen hierzulande viele Jahre gar nicht mehr um die Besten konkurrieren. Überdies verstehen die US-Forschungsstätten es geschickt, den Eindruck zu erwecken, dass dort alles besser sei als anderswo in der Welt. Das lockt die guten Leute an. Und wenn sie sich bewähren, tun die guten Universitäten alles, um sie zu halten. Dieses Maß an Flexibilität, das auch finanzielle Spielräume umfasst, haben wir hier noch nicht.

bdw: Für Studierende ist die Chemie in Deutschland neuerdings dennoch attraktiver geworden.

KOCH: 1991 hatten wir in Deutschland 6000 Studienanfänger in Chemie, Mitte der neunziger Jahre sank diese Zahl auf unter 3000. Unterdessen steigt die Nachfrage wieder: Nach den verfügbaren Zahlen für 2002 verzeichneten die chemischen Fachbereiche erstmals wieder mehr als 5000 Studienanfänger, fast die Hälfte davon sind Studentinnen. Der Einbruch in den neunziger Jahren hatte sicherlich auch etwas mit dem damals restriktiven Einstellungsverhalten der Industrie zu tun. Das wirkt sich noch immer aus: Durch die lange Dauer des Chemiestudiums, dessen Regelabschluss die Promotion ist, wird die Zahl der dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehenden Absolventen in den nächsten Jahren drastisch einbrechen. Während lange Zeit jährlich etwa 2000 promovierte Chemiker den Arbeitsmarkt bereicherten, werden wir in den kommenden Jahren zum Teil sogar weniger als 800 Berufseinsteiger haben. Sie werden den Bedarf bestimmt nicht decken können. Die Einsteiger können sich zwar auf lukrative Gehälter freuen. Für die Branche insgesamt ist die Entwicklung aber unerfreulich, weil man die Stellen mit Hochschulabsolventen aus anderen Fachdisziplinen besetzen wird.

bdw: Wie lange braucht ein Studienanfänger, bis er ins Arbeitsleben eintreten kann?

KOCH: Die Hälfte der Studierenden schließt die Promotion statistisch betrachtet nach 18,8 Semestern ab, also nach etwas mehr als neun Jahren. An dieser Studiendauer hat sich in den vergangenen Jahren nicht viel verändert. Gleich geblieben ist auch die Studiendauer bis zum Diplom, das die Hälfte der Absolventen nach 11,3 Semestern in der Tasche hat.

bdw: Wie verträgt sich dies mit der Forderung, dass Hochschulabsolventen jung ins Berufsleben eintreten sollten?

KOCH: Natürlich sind Leute, die mit 28 oder 29 im Beruf anfangen, schon aus privaten Gründen nicht mehr ganz so flexibel wie Mitte zwanzig. Doch dieses Problem hat die Chemie weltweit. Selbst in den USA geht es kaum schneller. Dort ist man zwar mit dem ersten Abschluss nach sechs Semestern schnell fertig. Doch zur Promotion braucht man dort deutlich länger, weshalb sich frisch Promovierte in den USA und in Deutschland altersmäßig kaum unterscheiden.

bdw: Warum herrscht in der Chemie de facto immer noch ein Promotionszwang?

KOCH: Wenn fast jeder promoviert, liegt das daran, dass früher die Absolventen erst mal in die Forschung gesteckt wurden. Dort läuft ohne Promotion nichts. Inzwischen diskutieren auch die chemischen Unternehmen mit anderen Institutionen, ob die Promotion der einzige berufsqualifizierende Abschluss bleiben soll. Neue Studiengänge an deutschen Hochschulen, die Abschlüsse wie Bachelor oder Master zum Ziel haben, belegen, dass tradiertes Denken aufgebrochen wird.

bdw: Wann führt die Abkehr vom tradierten Denken dazu, den schulischen Chemie-Unterricht lebensnaher zu gestalten?

KOCH: Im Moment passiert eine Menge. Mitangestoßen wurde die Entwicklung durch eine breite Mobilisierung im Rahmen der seit 2000 veranstalteten Jahre der Wissenschaften. Ein Ziel dabei ist es, Kinder und Jugendliche zu sensibilisieren, dass Wissenschaft, insbesondere Naturwissenschaft, etwas Wichtiges und Faszinierendes ist. Selbst Kindergärten werden von Hochschulen umworben. Für Lehrer haben wir von der Gesellschaft Deutscher Chemiker zusammen mit dem Fonds der Chemischen Industrie sechs Fortbildungszentren an Hochschulen eingerichtet. Dort tun wir alles, damit Lehrer einen attraktiven Unterricht gestalten können.

bdw: Was versprechen Sie sich vom Jahr der Chemie 2003?

KOCH: Im Gegensatz zum Jahr der Lebenswissenschaften 2001 oder zum Jahr der Geowissenschaften 2002 ist das Besondere am Jahr der Chemie, dass neben dem Bundesforschungsministerium und der Initiative Wissenschaft im Dialog alle relevanten Chemieorganisationen aus Wissenschaft und Wirtschaft dieses Veranstaltungsjahr tragen und aktiv mitgestalten. 2003 ist für die Chemie auch deshalb ein bedeutsames Jahr, weil wir eine Reihe von Jubiläen haben, unter anderem den 200. Geburtstag von Justus von Liebig, des Begründers der modernen Chemie schlechthin. Das Jahr der Chemie wollen wir nutzen, um der Öffentlichkeit zu zeigen, dass uns im Alltag Chemie ständig begleitet. Ob es sich um Körperabwehrreaktionen handelt, um die Informationsverarbeitung der Zukunft oder um die Brennstoffzelle – all das basiert auf chemischen Vorgängen. Wir wollen ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Chemie nicht das Gegenteil von Natur ist, sondern dass die Natur auf einer Vielzahl von chemischen Vorgängen basiert. Weiterhin wollen wir dokumentieren, dass Chemie nicht nur eine Disziplin der Wissenschaft, sondern auch einen wichtigen Wirtschaftsfaktor unserer Volkswirtschaft verkörpert. Darin unterscheiden wir uns beispielsweise von der Physik oder den Geowissenschaften.

Wolfgang Hess

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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