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Gut oder böse: Können wir wirklich wählen?

Gesellschaft|Psychologie

Gut oder böse: Können wir wirklich wählen?
Ist der freie Wille eine Illusion, wie Gehirnforscher behaupten? Darüber diskutierten der Bremer Hirnforscher Gerhard Roth und der Frankfurter Strafrechtler Klaus Günther auf Einladung von bild der wissenschaft und des Instituts Technik– Theologie–Naturwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

bild der wissenschaft: Wenn ein Mensch beschließt, etwas zu tun, hat er meist das Gefühl, diese Entscheidung bewusst zu treffen und frei zu handeln. Herr Professor Roth, warum zweifeln Sie an dieser scheinbar selbstverständlichen Vorstellung?

ROTH: Beim Entstehen von Wünschen und Absichten hat das unbewusst arbeitende emotionale Erfahrungsgedächtnis das erste und das letzte Wort. Die „Letztentscheidung“ fällt ein bis zwei Sekunden, bevor wir sie bewusst wahrnehmen und den Willen verspüren, die Handlung jetzt und genau so auszuführen. Der amerikanische Neurobiologe Benjamin Libet konnte schon vor über 20 Jahren in den Gehirnwellen nachweisen, dass das so genannte Bereitschaftspotenzial sich aufzubauen beginnt, noch ehe die Versuchspersonen ihre Entscheidung, etwas in diesem Augenblick zu tun, subjektiv überhaupt getroffen haben.

bdw: Dabei ging es um sehr simple Aufgaben. Die Versuchspersonen sollten einen Arm bewegen. Lässt sich das wirklich auf schwerwiegende Entscheidungen übertragen – wenn etwa jemand überlegt, einen Mord zu begehen oder nicht?

ROTH: Egal wie moralisch oder philosophisch ich entscheide, irgendwann muss ich etwas tun. Ob beim Handzucken oder bei der Unterschrift unter eine Urkunde, irgendwann muss das Gehirn – oder der denkende Mensch – den Bewegungsapparat in Gang setzen. Und das funktioniert nur, wenn im Gehirn die unbewusst arbeitenden Basalganglien aktiv werden. Etwas nur mit der Großhirnrinde bewusst zu wollen, genügt nicht.

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bdw: Aber taugt das viel zitierte Libet-Experiment denn wirklich als Beweis für etwas so Fundamentales wie die Abschaffung des freien Willens?

ROTH: Die Frage ist berechtigt. Aber dieses Experiment stimmt mit vielen anderen Versuchen überein. Man kann Menschen etwa durch Hypnose oder elektrische Stimulation im Gehirn zu etwas veranlassen. Hinterher behaupten sie trotzdem, es sei ihr eigener Entschluss gewesen.

bdw: Diese Versuche klappen oft, aber nicht immer. Könnte es nicht irgendwo doch noch einen Rest freier Entscheidungsfähigkeit geben?

ROTH: Weder die Hirnforschung noch die Psychologie noch irgendeine Wissenschaft kann absolut sicher behaupten: Es gibt Willensfreiheit oder es gibt keine. Sie alle können nur bestimmte Annahmen wahrscheinlich oder unwahrscheinlich machen. Die entscheidende Frage ist: Gibt es irgendein sinnvolles Denkmodell, nach dem in den anscheinend dichten Kausalketten doch irgendwo Kausallücken sind? Manche Philosophen und Theologen glauben an solche Lücken. Aber keiner kann erklären, wie es zu ihnen kommen soll. Deshalb lehnen viele andere Philosophen eine solche Annahme ab.

bdw: Herr Professor Günther, wie Herr Roth sind Sie von Hause aus Philosoph, hauptamtlich jedoch Strafrechtler. Da das Strafrecht den Tätern einen freien Willen unterstellt, müssten Sie zu dessen Rettung nach einer solchen kausalen Lücke suchen. Haben Sie eine gefunden?

GÜNTHER: Auch ich glaube nicht an solche mystischen Lücken. Aber die Frage ist, ob man daraus die gleichen Konsequenzen ziehen muss wie Gerhard Roth. Könnte man nicht sagen: Wir nennen einen Menschen frei, der überlegen kann und dessen Handlungen einen Bezug zu seinen Überlegungen haben? Dabei müssen die Überlegungen die Handlungen gar nicht direkt kausal verursachen. Aber wenn ein Mensch überlegen kann, heißt das doch, dass es Alternativen gibt und die Entscheidung somit offen ist. Sonst gäbe es gar keinen Anlass zu überlegen. Natürlich bin ich nicht absolut frei, meine Lebensgeschichte beeinflusst mich und vieles andere mehr. Dennoch benötige ich die Überzeugung, frei zu sein. Sonst bräuchte ich gar nicht erst anfangen zu überlegen, ob ich beispielsweise den Ruf an eine andere Universität annehmen soll. Dann könnte ich zu einem Neurobiologen gehen, mein Gehirn analysieren lassen, und mir sagen lassen, was bei den Überlegungen am Ende ohnehin herauskommen wird.

ROTH: Das ist ein sehr schönes Beispiel dafür, wo die Irrtümer liegen. Der Grundirrtum ist die Annahme, dass die Neurobiologen genau wissen, wie das Gehirn funktioniert, und ebenso genau ausrechnen können, was es in Zukunft tun wird.

bdw: Tun sie denn nicht so, als wüssten sie es?

ROTH: Nein, nein. Ganz grob verhält es sich folgendermaßen: Im menschlichen Gehirn gibt es zunächst einmal einen unbewussten Bereich. In dem werden Dinge abgehandelt, bei denen man nicht überlegen muss, die also automatisch ablaufen. Es gibt aber auch große Bereiche unserer Großhirnrinde, die aktiv werden, wenn die Dinge nicht von vornherein klar liegen, sondern abgewogen werden müssen. Unser Gehirn lädt dann sozusagen alle vergleichbaren bisherigen Problemfälle in dieses Bewusstsein hinein, wo dann anhand der gesamten Erfahrung komplexe Argumente abgewogen werden. Das ist unendlich kompliziert und überhaupt nicht vorauszuberechnen. Und dieses Nicht-Voraussagenkönnen unseres eigenen Handelns erleben wir im Alltag als Freiheit. Trotzdem folgt der ganze Ablauf offenbar strikt den Naturgesetzen…

bdw: …also dem Schema von Aktion und Reaktion. Aber wie kann jemand für eine Tat verantwortlich sein, wenn er nur den Naturgesetzen gehorcht, wenn auch auf sehr komplizierte Weise? Kann es Freiheit und Verantwortung nicht nur außerhalb von Naturgesetzen geben?

GÜNTHER: Nein. Wir können zum Beispiel sagen: Wer überlegt gehandelt hat – oder zumindest die Fähigkeit dazu gehabt hätte –, den können wir für seine Handlungen zur Verantwortung ziehen. So halten wir es ja auch im Alltag. Wir rechnen uns selber Entscheidungen zu, indem wir sagen: Ich hatte Gründe dafür, deshalb habe ich so gehandelt. Diese Sicht erlaubt es uns, den Freiheitsbegriff weiter zu verwenden, ohne zu bestreiten, dass es keinen Ausstieg aus der Kausalität der Naturgesetze gibt.

bdw: Aber kann denn das Gebäude der Strafjustiz stehen bleiben, wenn man sein Fundament wegzieht, dass nämlich Täter auch objektiv betrachtet frei sind?

GÜNTHER: Die Frage ist, ob das jemals das Fundament gewesen ist.

bdw: Der Bundesgerichtshof hat geurteilt, der Mensch sei „auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt“ und daher befähigt, „sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden“. Nur deshalb könne man ihm einen Schuldvorwurf machen.

GÜNTHER: Der Bundesgerichtshof sagt vieles, und diese Entscheidung stammt von Anfang der fünfziger Jahre. Man kann streiten, ob er damit eine Freiheit außerhalb der Naturgesetze gemeint hat. Ich denke, dem Strafrecht würde erst dann das Fundament entzogen, wenn es überhaupt keine Willensfreiheit gäbe, auch nicht in dem eingeschränkten Sinn, den ich beschrieben habe.

bdw: Das würde heißen: Eine wirkliche Freiheit des Willens gibt es zwar nicht, aber wir tun so, als ob es sie gäbe. Denn wir empfinden es so, haben uns für dieses Menschenbild entschieden und lassen uns von den Neurobiologen mit ihren Einwänden nicht stören.

ROTH: Da wühlen Sie in einer tiefen Wunde. Auch einige Philosophen sagen: Frei ist der Mensch, wenn er die Fähigkeit hat, über seine Motive zu reflektieren – wenn ich mich also frei fühle, dann genügt das schon. Natürlich kann man Autonomie und Verantwortlichkeit so definieren. Aber dann bleibt die Frage, ob dies Freiheit im traditionellen Sinn ist. Die Antwort lautet: Nein.

bdw: Könnte man nicht einfach den freien Willen und den darauf gründenden Schuldbegriff aus dem Strafrecht verbannen und sagen: Strafe soll keine Sühne sein, sondern den Täter und andere gefährdete Bürger von Verbrechen abhalten, also ausschließlich präventiv wirken?

GÜNTHER: Ich bin für den alten Grundsatz: Keine Strafe ohne Schuld. Der Schuldbegriff begründet Strafe nämlich nicht nur, sondern begrenzt sie auch. Wenn es nur noch um Prävention ginge, liefe man Gefahr, die Verbindung zwischen Strafe und Tat zu verlieren. Dann sagen wir womöglich: Es war zwar nur ein einfacher Diebstahl, aber der Täter leidet unter schweren Defiziten, deshalb sperren wir ihn jetzt zehn Jahre ein, dann ist er resozialisiert. Oder wir schauen auf die Tat und finden beispielsweise: Bei diesem Verkehrsdelikt müssen wir mal wieder ordentlich klar machen, dass das nicht in Ordnung ist. Deshalb schlagen wir besonders hart zu.

ROTH: Ich akzeptiere diese Bedenken vollkommen. Aber auch wenn es eventuell schwerwiegende Folgen hat, dürfen wir doch nicht an einem Begründungskonzept festhalten, das wissenschaftlich und philosophisch als obsolet angesehen werden muss. Das ist vielleicht unsere Tragik.

bdw: Die Dikussion geht ja schon weiter. Angeblich lassen sich anhand von genetischer Disposition, Hirnschädigungen und früher Traumatisierung viele Männer aufspüren, von denen jeder Dritte irgendwann gewalttätig werden wird. Sollte man eingreifen, bevor es soweit kommt?

GÜNTHER: Man weiß im Einzelfall allerdings nicht, ob jemand nicht doch zu den zwei Dritteln gehört, die das Glück haben, diese Risikofaktoren irgendwie kompensieren zu können. Trotzdem könnte man auf den Gedanken kommen, vorsichtshalber schon mal die DNA dieser Leute zu speichern. Und wenn dann eine Gewalttat passiert, rastert man die ganzen Proben durch und hat den Täter vielleicht schon…

bdw: …wie jüngst im Mordfall Moshammer in München.

GÜNTHER: Bei Exhibitionisten geschieht das bereits – sie könnten ja auch einmal eine Vergewaltigung begehen. Das zeigt, was geschehen kann, wenn die Schuld keine Rolle mehr spielt.

bdw: Aber könnte die Konsequenz nicht auch „Therapie statt Strafe“ lauten?

GÜNTHER: Die Frage ist doch: Mit welchem Ziel therapieren wir, wenn wir die Idee der Freiheit aufgeben?

bdw: Zum Beispiel zur Einhaltung der Gesetze?

GÜNTHER: Aber doch nicht wie bei der Dressur eines Hundes! Das Ziel der Resozialisierung war schließlich immer ein freier Mensch, der mehr oder weniger aus Einsicht die Gesetze befolgen kann. In anderen Gesellschaften versucht man es damit, die Täter fünf Jahre einzusperren und jeden Tag zu traktieren und zu dressieren. Dann denken sie in Zukunft bei kriminellen Anwandlungen sofort ans Gefängnis und lassen die Pistole fallen. Aber ist das unser Ziel?

ROTH: Das kann nicht das Ziel sein. Selbst wenn man es richtig technizistisch angeht, muss man einen Menschen schon so therapieren, dass er aus Einsicht anders handelt. Und Einsicht erreichen wir nicht über Konditionierung. Es ist völlig klar, dass die Therapie eines Straftäters völlig anders aussehen muss als eine Konditionierung wie im Film „Uhrwerk Orange“.

bdw: Herr Roth, Sie sehen die Ursachen von Straftaten doch in der Hirnchemie: Zu wenig von dem Nerven-Botenstoff Serotonin macht aggressiv, zu viel von dem Sexualhormon Testosteron. Warum nicht hier ansetzen?

ROTH: Das wird ja schon gemacht.

bdw: Sie meinen die so genannte chemische Kastration mit Pillen gegen das Testosteron?

ROTH: Nein, viel harmloser. Testosteronblocker oder Serotonin-Aufpepper helfen in schweren Fällen sowieso nicht. Man muss früher ansetzen. Der Heidelberger Psychiatrie-Professor Manfred Cierpka und seine Mitarbeiter arbeiten therapeutisch schon mit Müttern und ihren Säuglingen. Denn bei etwa jedem zehnten männlichen Säugling ist die Beziehung zur Mutter gestört. Und wenn da etwas schief läuft, dann läuft das eventuell fürs Leben schief. Darum werden die Eltern darin unterrichtet, wie sie auf ein verhaltensverändertes Kind adäquat reagieren können. Diese Therapie ist nicht nur moralisch erlaubt, sondern ethisch geboten. Am Ende verändert eine gelungene Eltern-Kind-Beziehung auch die Gehirnchemie. Spritzen und Hirnoperationen, wenn emotionale Probleme sich über lange Zeit entwickelt haben, nützen meist gar nichts. Sondern man muss früh mit einer komplexen sozialen Verhaltensbeeinflussung anfangen. Das nennt man normalerweise Erziehung.

Das Gespräch führte Jochen Paulus ■

Ohne Titel

Klaus Günther (links) bekleidet an der Universität Frankfurt am Main die Professur für Rechtstheorie, Strafrecht und Strafprozessrecht. Er hat in Frankfurt Philosophie und Rechtswissenschaft studiert und sich über das Thema „Schuld und kommunikative Freiheit“ habilitiert. Günther, Jahrgang 1957, gehört zum wissenschaftlichen Beirat einer Forschungsgruppe, die sich mit der Freiwilligkeit des Handelns beschäftigt.

Gerhard Roth (rechts) ist Professor für Verhaltensphysiologie an der Universität Bremen, Direktor des dortigen Instituts für Hirnforschung und Rektor des Hanse-Wissenschaftskollegs in Delmenhorst. Er hat in Philosophie und Biologie promoviert und forscht an der Schnittstelle der Neurowissenschaften und der Sozialwissenschaften. Roth, geboren 1942, hat außerdem Germanistik und Musikwissenschaft studiert.

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