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Mutter Natur fährt mit

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Mutter Natur fährt mit
Biologische Konstruktionsprinzipien erobern den Automobilbau – nicht nur mit leichteren und länger haltbaren Bauteilen: Die Ingenieure imitieren sogar die Evolution.

„Wir waren zu Beginn der neunziger Jahre weltweit die ersten“, sagt Dr. Lothar Harzheim. „Heute machen es so gut wie alle Hersteller.“ Wir – damit meint er die Vorausentwickler der Adam Opel AG. Es – das ist die Einführung biologischer Konstruktionsregeln im nach wie vor wichtigsten Industriezweig Deutschlands: dem Automobilbau. Harzheim leitet die Abteilung Optimierung im Internationalen Technischen Entwicklungszentrum (ITEZ) von Opel in Rüsselsheim. Biologisch sieht es in seinen Arbeitsräumen allerdings nicht aus: PC-Workstations und Monitore, Gitternetz-Konstruktionspläne von technischen Strukturen, ein paar aus Kunstharz gefertigte Modelle von Fahrzeugteilen.

„Die Biologie steckt in der Software“, erklärt Harzheim. „Wir simulieren neue Bauteile im Rechner und lassen dann unsere Optimierungsprogramme nach biologischen Wachstumsregeln Vorschläge erstellen, bei denen das Bauteil möglichst leicht ist und dennoch die geforderte Festigkeit besitzt.“ Was er meint, wird klar, als er mehrere Beispiele auf einen Bildschirm holt – schrittweise vorgenommene Änderungen an Motorhaltern, Achsschenkeln, Kühlerstützen. „Dieser Dämpfungsblock-Kern zum Beispiel wies im Ausgangsdesign eine viel zu hohe innere Spannung auf“, sagt der ITEZ-Entwickler und weist auf das Monitorbild. „So etwas verkürzt unter Umständen die Lebensdauer, es könnte zu Materialermüdung mit Rissen oder gar Brüchen kommen. Daher haben wir mit einem unserer Programme die gefährliche Spannung abgebaut.“

Drei weitere Phasen desselben Bauteils passieren den Bildschirm. „Hier ist das Ergebnis“, sagt Harzheim und weist auf das Schlußbild: „63 Prozent weniger Spannung als im Ausgangsdesign.“ Kein Einzelfall – im aktuellen Opel Astra sei mehr als nur eine Komponente von überflüssigem Gewicht und lebensverkürzender Spannung befreit worden, verrät der Rüsselsheimer. Für die neue Corsa-Baureihe habe man den Motorhalter optimiert. Derzeit nehme man sich sogar eine komplette Hinterachse vor. Es hat eine Weile gedauert, räumt der Opel-Mann ein, bis die neuen Methoden in allen Konstruktionsabteilungen des Unternehmens akzeptiert waren. „Aber die Praxis hat gezeigt, daß dabei vernünftige und vorteilhafte Ergebnisse herauskommen. Im Vergleich mit den bisherigen Konstruktionsmethoden sind rund 10 bis 20 Prozent Gewichtsersparnis pro Bauteil drin. Das senkt natürlich den Kraftstoffverbrauch.“

All seinen optimierten Auto-Komponenten ist eines gemeinsam: Sie sehen nicht mehr hundertprozentig nach einem technischen Objekt aus. Mit zusammengekniffenen Augen könnte man den Kern des Dämpfungsblocks für den Kopf einer exotischen Heuschrecke halten – und den Achsschenkel für einen skelettierten Fischkopf. Das ist kein Zufall, sondern charakteristisch für die Bionik – die Übertragung von Prinzipien der belebten Natur in die Technik. Nicht, daß die Autobranche plötzlich kollektiv in Zurück-zur-Natur-Romantik verfallen wäre. Dank Bionik läßt sich vielmehr Zeit und Geld sparen, und die biologisch getunten Produkte sind leistungsfähiger.

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Lothar Harzheim hat sein Metier bei einem Vorreiter der Bionik gelernt – bei einem, der zwar von Haus aus Physiker ist, aber ein tiefempfundenes Faible für Bäume hat. In Prof. Claus Matthecks Dienstraum, im Untergeschoß des Instituts für Materialforschung am Forschungszentrum Karlsruhe, sieht es denn auch aus wie im Vereinsheim der Förstergilde. Baumwurzeln, Stamm-Sägeschnitte und Äste füllen Regal um Regal. Von Harzduft umfächelt, warnt Mattheck erst einmal vor einem Mißverständnis: „Bionik heißt nicht, natürliche Strukturen direkt in die Technik zu übertragen.“ Man werde nie im Wald eine kurbelwellenförmige Wurzel finden, die man exakt nachbauen kann. „Man muß vielmehr die Gestaltgesetze von Knochen, Klauen und Bäumen erkennen – die Design-Prinzipien. Und die heißen: ,Vermeide lokal hohe Spannungen‘ und ,Vergeude kein Material‘. Mehr ist es nicht.“

Mit diesen aus der Baum-Beobachtung abgeleiteten Prinzipien im Hinterkopf fand der Forscher beim Nachrechnen bestätigt, warum eine Tigerkralle und der Schnabel eines Papageis genau so gekrümmt sind, wie die Natur sie schuf. Und warum ein Warzenschwein-Stoßzahn, nicht anders als die von Menschen ersonnene Eisenbahnschiene, den Querschnitt einer gestauchten Acht aufweist.

„Allen Formen der belebten Welt ist gemeinsam: Nur dort Material einsetzen, wo es tatsächlich zur Aufnahme von Druck oder Zug gebraucht wird – und die Kräfte gleichmäßig verteilen, ohne Spannungsspitzen“, erklärt Mattheck. Spannungsspitzen sind gefährlich: An Verzweigungen, Einschnitten oder Löchern – Ingenieure sprechen von „Kerben“ –, wo sich der Kraftfluß verstärkt, droht durch jäh ansteigende „Kerbspannung“ ein Riß bis hin zum Bruch.

Der Baum-Fan und sein Team vermaßen rund 10000 grüne Riesen und rechneten ihre statischen Verhältnisse durch. Ergebnis: Bäume wachsen stets so, daß ihre Oberflächen eine konstant gleichförmige Spannung aufweisen. Diese Erkenntnis setzten die Karlsruher in Computerprogramme um, mit denen Anwender wie Matthecks Ex-Mitarbeiter Lothar Harzheim seitdem biologische Prinzipien auf technische Konstruktionen übertragen können:

CAO, Computer Aided Optimization (Computergestützte Optimierung): Der Einsatz dieses Programms führt zu einer Konstruktion mit gleichverteilter Spannung an der Bauteiloberfläche. An den Kerben läßt das Programm zur Verstärkung etwas Material „wachsen“, an unterbelasteten Bereichen läßt CAO das Bauteil schrumpfen – genau wie ein Baum. „ Wir bekommen dadurch Kerben ohne Kerbspannung – ich halte das für sensationell“, freut sich Mattheck. SKO, Soft Kill Option (Sanfte Entfernung): In winzigen, behutsamen Schritten baut das Programm bei vorgegebener Zug- und Druckbelastung überall dort Material ab, wo es zur Aufnahme der wirkenden Kräfte nicht unbedingt notwendig ist. Wo Belastungen auftreten, läßt SKO zur Versteifung das Material stehen. Aus einem anfänglich klobigen Bauteil-Block wird so am Ende eine luftige Struktur aus gerundeten Stegen – die meist deutlich an Knochen erinnert. Kein Wunder, sagt der Biomechanik-Experte: „Der tierische und menschliche Körper macht das ganz genauso. Für mich ist ein Hühnerknochen ein High-Tech-Kunstwerk, das höchsten Ansprüchen an Leichtbau bei maximaler Festigkeit genügt.“

BMW, Fichtel & Sachs, Opel und Saab sind nur vier von vielen Herstellern, die heute durch CAO die Bruchfestigkeit von Fahrzeugkomponenten steigern oder, SKO-gestützt, durch Verzicht auf nichttragende Materialbereiche Leichtbau betreiben. Doch Bionik heißt nicht nur Bauteil-Optimierung. Auch die schmutzabweisende Beschichtung („Lotus-Effekt“) der Fahrzeugkarosserie ist ein Beispiel für die Adoption eines biologischen Bauprinzips. Sogar in punkto Fertigungstechnik beginnen die Ingenieure jetzt, auf das Know-how von Mutter Natur zurückzugreifen. Beim deutsch-amerikanischen Daimler-Chrysler-Konzern arbeitet eine Forschergruppe in Berlin an einem besonders ehrgeizigen Bionikprojekt: „Wir wollen technische Systeme nach einer Evolutionsstrategie automatisch erzeugen“, umreißt Dr. Frieder Lohnert die Vision seines Teams.

Es geht um „genetische Programmierung“ – ein Vorhaben, das auf den Ideen des Bionik-Pioniers Prof. Ingo Rechenberg von der Technischen Universität Berlin fußt. Das große Spiel des Lebens, das in Milliarden Jahren Erdgeschichte aus Urzellen schließlich Bakterien, Algen, Pflanzen, Tiere und Menschen entstehen ließ, nutzt dazu zwei fundamentale Regeln: Mutation und Selektion. Rechenberg schlug vor, diese Spielregeln auch für die Technik einzusetzen. Generation für Generation führen in der Natur zufällige Variationen (Mutationen) im Erbgut zu Nachkommen, deren Gen-Ausstattung sich leicht von den Vorläufern unterscheidet. Der natürliche Ausleseprozeß (Selektion) entscheidet darüber, welche dieser zufällig entstandenen Varianten sich erfolgreicher vermehrt als ihre Konkurrenten. Dieses Prinzip nutzt jetzt die Arbeitsgruppe um Frieder Lohnert – nur daß die Akteure im Evolutionsgeschehen Computerprogramme sind.

Die Berliner ließen beispielsweise in Hochleistungsrechnern die Steuerungssoftware für Montage-Roboter, wie sie zu Tausenden die Fertigungsstraßen der Automobilwerke bevölkern, von einem „ genetischen Programm“ optimieren: Zufällig erzeugte Programmvarianten mußten gegeneinander antreten und an einem virtuellen Roboter-Modell einen simulierten Arbeitsgang ausführen. An den Programm-Nachkommen, die den effektivsten und gelenkschonendsten Bewegungsablauf produzierten, wurden erneut Winzigkeiten in der Steuersoftware verändert – und so weiter. Am Ende war eine deutlich verbesserte Programmvariante geboren. In die Fabrikhallen von Daimler-Chrysler hat sie allerdings noch nicht Einzug gehalten: „Sie ist noch nicht genügend ausgereift, um als 08/15-Software breit anwendbar zu sein“, räumt Lohnert ein. Inzwischen forscht das Team an der evolutionären Verbesserung weiterer Software-Werkzeuge.

Die Bionik-Kollegen in Rüsselsheim sind allerdings beim Thema genetische Optimierung skeptisch. „Für die Optimierung von Bauteilen ist dieses Verfahren weniger geeignet, weil es wahnsinnig viel Rechenzeit benötigt“, argumentiert Lothar Harzheim. „Wenn wir beispielsweise ein Bauteil mit dem SKO-Programm optimieren, dauert das zirka 40 Stunden – mit Evolutionsprogrammen jedoch 400 bis 4000 Stunden. Deswegen setzen wir dort keine ein. Wir versuchen lieber, CAO und SKO so zu modifizieren, daß diese Programme Designvorschläge liefern, die obendrein günstig zu fertigen sind.“

Es fehlt offenbar nicht an Visionen – die Bionik hat in den Ingenieurbüros ihre Chance. Wird sie gar zum Renner? Werden die Objekte unserer technischen Welt jetzt eines nach dem anderen nach biologischen Kriterien verbessert, vom Kugelschreiber bis zur Sprudelflasche? Von wegen, sagt Claus Mattheck. 40 Lizenzen für die Konstruktions-Software CAO und SKO hat das Forschungszentrum Karlsruhe bis dato an Industriekunden verkauft. „Dafür werden wir in der Universitätslandschaft von manchen bewundert. Ich finde statt dessen: Das ist lächerlich wenig.“ Warum steigen nicht mehr Unternehmen ein? Der Karlsruher Forscher macht sich keine Illusionen: Es gibt betriebswirtschaftliche Gründe. Es sei für eine Firma nicht sinnvoll, ein Produkt zu verändern, solange es sich gut verkauft. Jede Umstellung bedeutet eine Investition mit sachlichen und rechtlichen Risiken. Warum also etwas riskieren, solange man auf die alte Weise Geld verdienen kann?

Manchmal fuchst ihn das mangelnde Interesse aber doch. Kopfschüttelnd sagt Mattheck: „Daß man mit einem bionisch optimierten Produkt, das deutlich besser ist als die anderen, den Weltmarkt aufrollen kann, interessiert offenbar kaum einen.“

Flugzeugbau und Kaffeeröster bild der wissenschaft: Bionik, „ Lernen von der Natur“ – wird mit diesem Schlagwort mehr geworben als danach gehandelt?

Nachtigall: Die Gefahr ist gegeben. Schon weil der Begriff Bionik so unklar definiert ist, kann er von jedem, je nach Interessenlage, für alles mögliche verwendet werden. Es gibt darum auch haufenweise Scharlatane und Aufspringer, die irgendwelche unsinnigen Produkte oder Weltanschauungen unter dem Etikett „Bionik“ verkaufen wollen. Deswegen bin ich seit Jahren auf Vortragsreisen und schreibe Büchååer, um den Begriff wissenschaftlich zu definieren und klar zu besetzen.

bdw: Wie lautet denn Ihre Definition?

Nachtigall: Bionik ist nach meinem Dafürhalten die Wissenschaft vom Einsatz neuer Technologien, die sich am Vorbild der Natur orientieren. Nicht etwa plump imitierend, sondern indem die fundamentalen Prinzipien intelligent in menschengemachte Technik umgesetzt werden.

bdw: Welche Aspekte des Lernens von der Natur werden heute am häufigsten genutzt?

Nachtigall: Klar durchgesetzt hat sich die Evolutionsstrategie aus der Schule von Ingo Rechenberg in Berlin – also zufällige Änderungen an einem gegebenen System und die Auswahl der jeweils besten Varianten, die wiederum weiter verändert werden. Sie wird beispielsweise im Flugzeugbau häufig angewendet. Da lassen die Luftfahrtingenieure im Rechner die Datenmodelle für Tragflächen und anderes so lange miteinander konkurrieren, bis das Optimum ermittelt ist. Aber auch in ganz anderen Bereichen wird so gearbeitet. Per Evolutionsstrategie suchen beispielsweise die großen Kaffeeröster nach den aromatischsten Mischungen aus verschiedenen Sorten.

bdw: Und was gibt es außer der Evolutionsstrategie?

Nachtigall: Ein weiterer gut genutzter Bereich der Bionik betrifft Oberflächeneffekte. Am bekanntesten ist wohl der Lotuseffekt, die Selbstreinigung von Oberflächen nach dem Vorbild des Lotusblatts – das funktioniert sehr schön. Ich habe einen Schutzanstrich, der auf diesem Effekt beruht, an meiner Gartenmauer zu Hause ausprobiert. Die bleibt tatsächlich länger sauber als die angrenzenden Mauerstücke. Jetzt sind gerade Dachziegel, die Schmutz nach diesem Prinzip abweisen, auf den Markt gekommen, und weitere Produkte sind in Vorbereitung.

bdw: Welche Industriebranchen sind die Vorreiter bei der Nutzung der Bionik?

Nachtigall: Da nenne ich die Flugzeugindustrie, weiter die Farben- und Lackhersteller – überhaupt alle Industriezweige, die sich mit der Oberflächenveredlung befassen. Ein Bereich, der ebenfalls stark nach dem Vorbild Natur arbeitet, ist die Neurobionik – beispielsweise bei der Fertigung von neuartigen Prothesen, die mit dem Körper des Patienten verbunden werden. Auch die Robotik und die Orthopädik sind längst eigenständige Industriezweige, in denen die Bionik gut etabliert ist.

bdw: Und welche Industriezweige steigen erst zögernd ein?

Nachtigall: Die Automobilbranche erwärmt sich erst seit ein paar Jahren dafür, auf natürliche Vorbilder zu schauen, aber das wird allmählich besser. Da gibt es eine Menge, wovon die Hersteller profitieren könnten. Ich verweise nur auf den Luftwiderstandsbeiwert, den cw-Wert: Hier an der Universität Saarbrücken haben wir bei Pinguinen einen cw-Wert von 0,07 gemessen. Die Tiere gleiten damit strömungstechnisch viermal besser durchs Wasser als der legendäre Audi 100 durch Luft. Davon könnten die Ingenieure sich ruhig eine Scheibe abschneiden.

Thorwald Ewe

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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