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Ur-Ängste – Ängste – neue Ängste

Allgemein

Ur-Ängste – Ängste – neue Ängste
Jede Zeit gebiert ihre eigenen Ängste. Es entstehen neue Angstkrankheiten. Und die klassischen Phobien bleiben zwar erhalten, suchen sich aber aktuelle Objekte.

Praktisch über Nacht wurden Manager in den USA von Flugangst befallen. Die Zahl der Videokonferenzen verdoppelte sich innerhalb weniger Tage. Ob dies nur eine aktuelle Reaktion auf den Schock des 11. Septembers 2001 bleibt oder sich zu einer der neuen Ängste auswächst, wird sich erst noch zeigen. Immerhin haben die Terroranschläge selbst hierzulande Folgen: Deutsche Hausärzte beobachteten im Herbst bei ihren Patienten einen rapiden Anstieg der „generalisierten Angststörung“. Sie versetzt die Menschen in ein unkontrollierbares Sich-Sorgen und macht Vielen ein normales Leben unmöglich, da sie bis zu 60 Prozent des Tages damit beschäftigt sind, sich Sorgen zu machen. Jede Zeit hat ihre Ängste; jede neue Angst hat ihren Zeitgeist. Vor 170 Jahren fielen Eisenbahnreisende bei Geschwindigkeiten um 50 Stundenkilometer vor Angst in Ohnmacht. Heute lesen die Passagiere bei Überschallgeschwindigkeit in der Concorde seelenruhig Zeitung. Wissenschaftliche Entdeckungen, technischer Fortschritt, soziale Prozesse, Katastrophen – sie alle haben Einfluss auf unsere Ängste, denn was wir fürchten, ist zu einem großen Teil erlernt, sprich: kulturell geformt und sozial vermittelt, also abhängig von unserer psychosozialen Umwelt. Was also fürchtet der moderne Zeitgenosse? Er plagt sich immer noch vor allem mit den klassischen Ängsten: Agoraphobie (Angst, keinen Fluchtweg zu haben), soziale Phobie (Angst vor Menschenansammlungen), Panikstörung (Angst vor der Angst) oder mit spezifischen Phobien vor Tieren, Krankheiten, Dunkelheit oder Schmerz. Nahezu jeder zehnte Deutsche leidet aktuell an einer behandlungsbedürftigen Angst, 25 Prozent erkranken im Laufe ihres Lebens an einer Angstattacke. Aber die klassischen Phobien verändern sich. Zwar werden die meisten Panikpatienten von „alten“ Ängsten gequält – wie der Höhenangst, die schon Goethe das Leben schwer machte, oder der Agoraphobie, die Charles Darwin jahrelang daran hinderte, das Haus zu verlassen. Und manche der alten Phobien haben im modernen Leben neue Objekte gefunden. Hans Morschitzky, Psychologe an der Landesnervenklinik Wagner-Jauregg in Linz, beobachtet, wie sich Phobien mit dem technischen und sozialen Wandel entwickeln: „Manche Agoraphobiker fahren zwar entspannt mit einem Regionalzug und in Abteilwagen, aber in den neuen Expresszügen, die nur selten halten, und in Großraumwagen erleiden sie Angstattacken.“ Große Katastrophen verschieben die Rangfolge von Angststörungen merklich. „Katastrophen vernichten nicht nur Leben und die natürliche Umwelt, sie schädigen auch die psychosoziale Umwelt“, sagt Lawrence Palinkas, Psychologe an der Universität von Kalifornien in San Diego. Er diagnostizierte nach der Exxon-Valdez-Ölkatastrophe in Alaska 1989 mehr Angsterkrankungen bei der Bevölkerung: Ein Jahr nach der Katastrophe waren 20 Prozent der betroffenen Bewohner an einer generalisierten Angststörung erkrankt. An posttraumatischem Stress, der neue Ängste auslösen kann, litten knapp zehn Prozent. Die Erkrankungszahlen in diesen Gemeinden lagen damit fast viermal so hoch wie in anderen Gegenden des Landes. Werden solche Ängste nicht angemessen behandelt, können sie chronisch werden und den Verlauf anderer Krankheiten komplizieren – und das heißt auch: hohe Kosten verursachen. Aber nicht nur Katastrophen erzeugen Angst. Die Angstforschung registriert neuerdings auch eine wachsende Zahl von Umweltängsten, die sich schleichend breit machen. So begründet Ängste vor Chemikalien und elektromagnetischer Strahlung vielleicht sind, so kann offensichtlich bereits diese „Angst vor…“ krank machen: Mediziner an der Umweltmedizinischen Ambulanz der Universitätsklinik in Aachen untersuchten 50 Patienten, deren Gesundheit – vermeintlich – durch Elektrosmog und Chemikalien wie Amalgam und Pestizide geschädigt war. Die Symptome: Übelkeit, Erbrechen, Haarausfall, Muskel-, Gelenk- und Kopfschmerzen. Bei 32 Patienten, also mehr als der Hälfte, wurden durch medizinische und psychiatrische Untersuchungen ausschließlich psychische Ursachen nachgewiesen. Nach neuen Forschungen von Hermann Ebel, Ärztlicher Direktor am Klinikum Ludwigsburg, sind auch für das so genannte Sick-Building-Syndrom – Innenraumbeschwerden, an denen bis zu 30 Prozent aller Büroarbeiter in den Industrienationen leiden – häufig nicht-körperliche Faktoren verantwortlich. Angst und Bedrohungsgefühle spielen dabei eine wichtige Rolle. Ulrich Egle, Oberarzt an der Klinik für Psychosomatische Medizin in Mainz, hat ähnliche Beobachtungen gemacht: „Eine wachsende Zahl von Patienten schreibt ihre Symptome umwelttoxischen Einflüssen zu. Solche Fehlattributierung geschieht besonders häufig bei Patienten mit Angsterkrankungen.“ Auch die körperbezogenen Ängste haben sich verändert: Brachen Menschen im 19. Jahrhundert noch in Angstschweiß aus bei der Vorstellung, jemand könnte sie nackt sehen, macht sich heute zunehmend die Angst breit, der eigene, durchaus gerne nackt zur Schau gestellte Körper könnte nicht attraktiv genug sein. Mit dieser Dysmorphophobie werden Therapeuten immer häufiger konfrontiert. Die Betroffenen sind überzeugt, entstellt oder hässlich zu sein und meiden aus Angst vor Entwertung und Demütigung soziale Kontakte. Manche kontrollieren bis zu acht Stunden am Tag ihr Äußeres. „Die Störung ist mit großem Leidensdruck und starken emotionalen und sozialen Beeinträchtigungen verbunden. Und sie könnte weitaus häufiger sein als bisher angenommen, da die meisten Betroffenen sie aus Scham verschweigen“, sagt Ulrich Stangier, Leiter der Verhaltenstherapie-Ambulanz der Universität Frankfurt am Main. Er schätzt, dass rund zehn Prozent aller Menschen, die auf den Operationstischen der Schönheitschirurgen landen, Dysmorphophobiker sind. Erschreckend ist eine völlig neue körperbezogene Angst: die Angst vor der Pflegebedürftigkeit. In einer repräsentativen Umfrage im Auftrag der Apotheken-Umschau vom Herbst 2001 unter 2452 Bundesbürgern gaben 43,3 Prozent an, Angst vor der Pflegebedürftigkeit zu haben. Diese Zahl müsste alle Sozialpolitiker aufrütteln – vor allem, wenn man sie anderen Zahlen gegenüberstellt: 34,6 Prozent fürchten, dem Lebenspartner könnte etwas zustoßen, aber nur rund 20 Prozent haben Angst davor, Opfer von Kriminalität zu werden. Pflege also schlimmer als Mord und Totschlag? Die Psychotherapeutin Doris Wolf behandelt seit über 20 Jahren Angstpatienten: „Wir beobachten seit den neunziger Jahren eine wachsende Angst vor der Pflegebedürftigkeit, also vor der Abhängigkeit, vor Vernachlässigung oder sogar Gewalt in der Pflege durch fremde Menschen. Diese Angst war früher kein Thema, sie übertrumpft inzwischen bei Vielen sogar die Angst vor dem Sterben.“ Die reißerische Berichterstattung über Katastrophen und Umweltrisiken sowie aufdringliche Schönheiten in den Medien werden wohl dazu beitragen, dass diese neuen Ängste weiter zunehmen. Möglicherweise sind wir sogar auf dem Weg in ein „Zeitalter der Angst“, wie die amerikanische Psychologin Jean Twenge überzeugt ist. An der Case Western Reserve University durchforstete sie 269 Studien zum Thema Angst bei Kindern und jungen Erwachsenen, die zwischen 1952 und 1993 erschienen waren: „Was sich hier abzeichnet, ist alarmierend. Die Nennung von Angstzuständen steigt kontinuierlich an“, fasst Twenge die Ergebnisse zusammen: Gesunde Kinder in den achtziger Jahren verspürten deutlich mehr Angst als Kinder in den fünfziger Jahren, die sich wegen seelischer Schieflagen in psychiatrischer Behandlung befanden. „ Die Ängste nehmen zu“ „Angst ist erst einmal ein gesundes Gefühl, das ausgesprochen hilfreich ist zum Überleben“, erinnert Jürgen Margraf an eine vergessene Grundwahrheit. Der Angstforscher und Klinische Psychologe an der Universität Basel präzisiert weiter: Erst wenn die Furcht übermächtig wird, sich vom auslösenden Objekt trennt und zu Vermeidungsstrategien führt, deformiert sich das hilfreiche Gefühl in eine krankhafte Störung. Die kann allerdings dramatische Formen annehmen, und treibt manchen Horrorgepeinigten zum Selbstmord. Angststörungen finden sich – mit unterschiedlichen Inhalten – in allen Kulturen. Kinder und Greise, Bettelarme und Superreiche haben mehr Angst als der Durchschnitt, Frauen sind doppelt so oft betroffen wie Männer. Diagnostiziert wird die Krankheit oft falsch oder gar nicht. Behandelt wird nur die Hälfte der Betroffenen – und die meist falsch. Neben dem persönlichen Leid kann der volkswirtschaftliche Schaden, den Angst erzeugt, gar nicht abgeschätzt werden. Dennoch sagt Margraf: „Die Mehrheit der Menschen, die schlimme Dinge erlebt haben, wird nicht psychisch krank.“ Und er möchte manche aktuellen Erscheinungen gern differenzieren: „Wenn wir heute in ein Flugzeug steigen, denken wir natürlich an den 11. September. Aber das ist nicht krankhaft, sondern rational.“ Da der Mensch aber aus Erfahrung lernt, können sich auch singuläre Katastrophen durchaus im Gefühlsarsenal verankern und das zukünftige Verhalten mitbestimmen. „In diesem Sinne kann ich mir ,neue Ängste‘ vorstellen“, meint der Basler Psychologie-Professor. „Vor Aids hatte früher niemand Angst. Heute fürchten sich mehr Menschen vor Aids als vor Krebs. Dabei sterben immer noch sehr viel mehr Menschen an Krebs.“ Ob die neue, angstmachende Erfahrung in eine krankhafte Störung übergeht, hängt im Wesentlichen von drei Faktoren ab: Zu einer individuellen Anfälligkeit (Vulnerabilität) für Angst müssen Belastungen (Stress) und das Anhalten der Situation hinzukommen, um quasi auf einer schiefen Ebene in die krankhafte Angst abzurutschen. Die Vulnerabilität ist zum Teil genetisch verankert und wird zum anderen durch Erfahrung und Lernen bestimmt. Wenn der Stress des Geschehens andauert, kann ein psychisches Problem ausgelöst werden. Bleiben die ungünstigen Umgebungsbedingungen bestehen, steigt die Wahrscheinlichkeit rapide an, ernsthaft an einer behandlungsbedürftigen Angst zu erkranken. Beim Beginn einer Störung und vor allem im weiteren Verlauf kommt es darauf an, wie der Einzelne mit seinem Problem umgeht. Die besten Chancen, wieder aus dem Tief herauszukommen, hat ein Mensch, der das Problem aktiv angeht. „Wenn er das Ganze so verarbeitet, als hätte er die Kontrolle über das Geschehen“, so Margraf, „ist die Wahrscheinlichkeit eines dauerhaften psychischen Problems bedeutend geringer.“ Dabei kommt es gar nicht darauf an, wirklich die Kontrolle zu haben, es genügt schon das Gefühl, Herr der Dinge zu sein. Ein zweiter, sehr effektiver Schutzschild wird aus den „protektiven Faktoren“ geschmiedet: Familiäre Unterstützung und vertrauensvolle Beziehungen zur Umgebung helfen gegen eine Selbstauslieferung an die Angst ebenso wie Selbstkompetenz, also Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. In einem Punkt der Angstdebatte hat Jürgen Margraf eine andere Meinung als vor ein paar Jahren: „Die Ängste werden tatsächlich häufiger.“ Damit schließt er sich seiner amerikanischen Kollegin Jean Twenge an (siehe vorangehenden Beitrag), die wachsende Ängste bei Kindern nachgewiesen hat. Vor allem konnte sie belegen, dass die zunehmende Angst eng zusammenhängt mit Veränderungen in der Gesellschaft. Ein Aspekt der Studie frappiert Margraf besonders. Die amerikanische Forscherin hatte aus amtlichen Statistiken zwei soziale Variablen eingegrenzt: Bedrohung (Gewaltverbrechen, Aids, …) und soziale Verbundenheit (Singlehaushalte, Scheidungsrate, …). Ergebnis: Die Veränderungen dieser beiden Variablen gingen den ansteigenden Ängsten zehn Jahre voraus. Die krankhaften Grundformen der Angst, ist der Klinische Psychologe Margraf überzeugt, werden bleiben, in diesem Bereich wird es auch keine neuen Ängste geben. „Aber die Ängste allgemein werden zunehmen, und ihre Inhalte werden sich verschieben: Früher hatten Kinder überwiegend Angst vor einem Atomkrieg, heute haben sie überwiegend Angst vor Gewalt.“ Michael Zick Die sieben Ur-Ängste des Menschen Wie alle anderen Spezies ist auch der Homo sapiens genetisch programmiert, auf bestimmte Situationen mit Angst zu reagieren. Damit haben unsere Vorfahren erfolgreich viele der Gefahren im Leben gemeistert. Es liegt daher in unserem Überlebensinteresse, bestimmte Schlüsselreize automatisch mit Bedrohung zu assoziieren. Schließlich hätte ein Hase, der seine Furcht vor Füchsen nur durch Gebissenwerden erwirbt, keine Chance, seine Gene an die nächste Generation weiterzugeben. Diese Ur-Ängste, die für die Erhaltung unserer Spezies bedeutsam waren, nennen die Evolutionsbiologen „angelegt“ oder „präpotent“. Nach Expertenmeinung lässt sich ein Katalog aus sieben solchen angelegten Ängsten ableiten: Die Angst vor Höhen. Für den Primaten Mensch, der mühsam den aufrechten Gang erlernte, besteht permanente Absturz- und Fallgefahr. Mit sechs Monaten, wenn Babys anfangen zu krabbeln, schrecken sie erstarrend vor dem Abgrund unter einer Glasplatte zurück. Die Angst vor dem Anderen. Der Mensch ist nur im sozialen Gefüge lebensfähig. Das Gefühl, angestarrt zu werden oder in der Aufmerksamkeit der Gruppe zu stehen, löst daher die emotionale Alarmanlage aus. Bei vielen Babys tritt mit sechs Monaten, wenn sie erstmals von der Mutter wegkrabbeln, die Angst des „Fremdelns“ auf. Die Angst vor Trennung. Weil der Säugling auf Gedeih und Verderb von der Zuwendung der Mutter abhängt, ruft deren Abwesenheit oft eine animalische Panik hervor, die sich später auf den Verlust geliebter Menschen überträgt. Die Angst vor bedrohlichen Orten. Wer den sicheren Wohnsitz verlässt, setzt sich unwägbaren Gefahren aus. Sowohl offene Flächen (Angriffsgefahr) als auch enge Räume (Fluchtverhinderung) ließen bereits unseren Vorfahren das Blut gefrieren. Die Angst vor Dunkelheit. Das „Augentier“ Mensch, das alles Wichtige über den Sehsinn erfährt, wird durch Finsternis oft in eine beängstigende Ohnmacht versetzt. Die Angst vor Tieren. Für unsere Ahnen waren die Mitgeschöpfe Segen und Fluch zugleich. In der Ur-Angst vor Insekten, Spinnen, Schlangen und schlängelnden Objekten lebt die Erinnerung an die bedrohlichsten Tiere fort.

Die Angst vor plötzlichen, starken Reizen. Schon Neugeborene schrecken vor lauten Geräuschen oder anderen heftigen, plötzlich einsetzenden oder unbekannten Eindrücken zurück. Die Furcht vor unvorhersehbaren Umweltveränderungen wie Donner und Blitz ist tief in unser genetisches Programm eingeprägt.

Rolf Degen

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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