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„Wir reden vieles kaputt“

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„Wir reden vieles kaputt“
Mal ganz unten, dann wieder hochgelobt – so stellt sich die Biotechnologie in der deutschen Öffentlichkeit dar. Was davon zu halten ist, sagt Prof. Hans Günter Gassen.

bild der wissenschaft: 1993 gründeten Sie mit drei anderen die Biotech-Firma B.R.A.I.N. Gibt es das Unternehmen noch, Herr Prof. Gassen?

Gassen: Dem Unternehmen geht es gut. Die Firma beschäftigt 30 Leute, wovon 20 Wissenschaftler sind. Die Ausrichtung hat sich allerdings geändert. Früher hatte man hochfliegende Pläne, war in der Hirnforschung aktiv, wollte in der Krebsbekämpfung Erfolge erzielen und konzentrierte sich auf die Zusammenarbeit mit der pharmazeutischen Industrie. Das sehen wir heute nüchterner, weil wir erkennen mussten, dass man als kleine Truppe nicht gegen die großen Pharma-Unternehmen konkurrieren kann. Jetzt arbeitet B.R.A.I.N. wieder dort, wo man ganz am Anfang begann und ist erfolgreich, weil die entwickelten Substanzen besonders in der chemischen Industrie gebraucht werden.

bdw: Mit dieser Ausrichtung auf verkaufbare Produkte hat B.R.A.I.N. genau jene Trendwende vollzogen, die auch andere Biotech-Firmen vor dem Absturz bewahrt haben. Wie beurteilen Sie die Biotech-Szene generell?

Gassen: Ich beurteile sie als ausgesprochener Fan der Biotechnologie. Nach den ersten eher zaghaften Anfängen in Deutschland gab es eine regelrechte Gründungswelle, die durch die massive Unterstützung des Bundesministeriums für Forschung und Technologie ausgelöst wurde. In dieser Ära wurden sehr viele Unternehmen gerade von Professoren gegründet – nur deshalb, weil es Geld dafür gab. Das ist oft schief gegangen und wird noch viel öfter schief gehen, weil universitäre Grundlagenforschung etwas anderes ist als die schnelle Entwicklung marktfähiger Produkte. Nach meiner Einschätzung werden von den knapp 400 noch existierenden Biotech-Firmen in Deutschland 200 übrig bleiben. Doch darin sehe ich nichts Beängstigendes. Das ist eine normale Konsolidierungsphase, wie wir sie in der Informationstechnologie schon erlebt haben und bei der Nanotechnologie erleben werden.

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bdw: Wann kommt es zu dieser Zäsur?

Gassen: Viele werden noch 2004 zumachen, weil ihnen das Geld ausgeht und eine Weiterfinanzierung nicht mehr erfolgt. Für die besten Mitarbeiter ist das kein wirkliches Problem. Es gibt genügend andere Unternehmen, die sie aufnehmen können. Schwierig wird es für das Mittelmaß. Nach dieser Marktbereinigung wird es nach Einschätzung vieler Experten wieder bergauf gehen: Die Biotechnologie ist international wie national wieder im Kommen. 10 Unternehmen wollen noch in diesem Jahr in Deutschland an die Börse gehen. Das wird der Hochtechnologie einen allgemeinen Aufschwung verschaffen.

bdw: Sieht man sich die Zahl der Biotech-Firmen in Europa an, rangiert Deutschland vor Großbritannien und beide liegen deutlich vor Frankreich. Bestens entwickelt haben sich die Niederlande, die skandinavischen Länder und vor allem die Schweiz.

Gassen: Nach der Zahl der Unternehmen ist Deutschland in Europa zwar Spitze. Doch wenn man sich die Struktur ansieht, liegen die Briten weiterhin vor uns. Dort sind die Biotech-Unternehmen größer, stabiler und haben weit mehr pharmazeutische Produkte in der klinischen Prüfung an Freiwilligen und Kranken. Überdies hat Großbritannien aufgrund der traditionellen Freundschaft zu den USA und derselben Muttersprache Vorteile gegenüber Mitteleuropa. Die Biotech-Szene in Großbritannien ist deshalb eindeutig die Nummer zwei in der Welt. Ganz erstaunlich sind die starken kleinen Länder, die die Fehler der Großen vermieden haben. Dazu gehört vor allem die Schweiz, wo Unternehmen wie Roche und Novartis dafür gesorgt haben, wissenschaftliche Topqualität mit der Management-Erfahrung von etablierten Unternehmen zu koppeln. Die Schweizer haben die Szene vorsichtig erschlossen, zwar etwas später, aber selbstbewusst.

bdw: Wollen Sie damit sagen, dass die Schweiz heute deshalb so gut dasteht, weil man sich dort eher bedächtig dem Markt genähert hat?

Gassen: In der Tat. Die Schweizer haben die Entwicklung langsam, aber stetig angeschoben und sind jetzt auf dem Erfolgsweg. Das müssen wir in Deutschland neidlos anerkennen. Wir reden vieles kaputt und erfreuen damit unsere Konkurrenten. Bei den öffentlichen Auseinandersetzungen um die Gentechnik – etwa um die Hoechster Insulinanlage – haben die deutschen Unternehmen die Prügel eingesteckt und der Rest von Mitteleuropa hat im Windschatten ungestört seine Geschäfte gemacht. Jetzt ist Wertbewusstein und Beharrlichkeit das Gebot der Stunde.

bdw: Müssen wir akzeptieren, dass die USA für alle Zeiten weit enteilt sind?

Gassen: Das ist eine Frage der Produkte. Wenn es um Blockbuster-Pharmaka geht – also um Arzneimittel, die gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs oder Hirn-Erkrankungen gerichtet sind –, können unsere Unternehmen mit den Amerikanern nicht konkurrieren. Unsere Strategie muss sein, Nischen zu besetzen, die die Großen nicht bedienen. Wenn wir hier unsere Fähigkeit zur Integration verschiedener Fachdisziplinen so geschickt einsetzen, wie wir das im Anlagenbau tun, gibt es viele Chancen, auch im Weltmarkt erfolgreich zu sein.

bdw: Geht das konkreter?

Gassen: Die Blutzuckerbestimmung über Infrarot-Laser ist ein Beispiel. Damit lässt sich der Blutzuckerwert ermitteln, ohne in die Haut zu pieksen. Neuerdings bieten deutsche Hersteller solche Messgeräte in der Größe einer Armbanduhr an. Über den Marktwert einer solchen Entwicklung brauche ich keine Worte zu verlieren.

bdw: Deutschland galt einmal als die Apotheke der Welt. Inzwischen gibt es hier nur noch mittelgroße Global Player – mit der Perspektive, dass auch die verschwinden. Was sind die Gründe?

Gassen: Die USA geben für die Forschung zehnmal mehr aus als wir, das führt zu entsprechend vielen Patenten. Des Weiteren ziehen sie die besten Forscher und Manager in Clustern zusammen: etwa in San Diego, etwa in Boston. So etwas ist auch ein Magnet für ausländische Firmen. Keine deutsche Pharmafirma von Rang kann es sich leisten, in San Diego nicht präsent zu sein. Weitere Faktoren kommen hinzu: Die Bevölkerung unterstützt die Biotechnologie und erkennt die Arbeit der Forscher und Unternehmer als eine gesellschaftliche Leistung an. In Deutschland werden erfolgreiche Persönlichkeiten runtergemacht. Auch in der Ästhetik sind uns die USA voraus. Bibliotheken etwa sind so einladend konstruiert, dass man sich darin gerne aufhält. Schauen Sie sich dagegen unsere heruntergewirtschafteten Zementkästen aus den siebziger Jahren an, mit den vielen unfreundlichen Beschäftigten.

bdw: Helfen Elite-Universitäten weiter?

Gassen: Die in Gang gekommene Diskussion ist hilfreich. Wenn wir es schaffen, dass die Universitäten wieder zu den Stätten für die Besten werden, die sich für ihre selbstgewählte Aufgabe auch vorbildlich einsetzen, hätten wir schon viel erreicht. Wir brauchen Leitfiguren. Eine Leitfigur bei uns hat – anders als in den Vereinigten Staaten – immer auch soziale Kompetenz. Wer seine Nächte nur im Labor verbringt, viele Veröffentlichungen hat, einen wichtigen Preis dazu, ist noch keine Leitfigur. Zu ihr gehört auch verantwortungsvolles Handeln für Tätigkeiten außerhalb des Berufs – und vor allem kommunikative Stärke.

Prof. Dr. Hans Günter Gassen

ist ein herausragender Kenner der Biotechnologie. Er promovierte in Biochemie und forschte an der Biology Division in Oak Ridge, USA, und am Max-Planck-Institut für Experimentelle Medizin in Göttingen. 1973 wurde er Professor für Biochemie an der Technischen Hochschule Darmstadt. Seit April ist er emeritiert. Gassen (Jahrgang 1938) ist Mitgründer von vier Biotech-Firmen und publizierte zehn Sachbücher. Soeben kam sein Buch „Unbekanntes Wesen Gehirn“ auf den Markt (Ko-Autorin: Sabine Minol), das dem Leser auf 180 Seiten die moderne Hirnforschung höchst verständlich nahe bringt.

Das Gespräch führte Wolfgang Hess ■

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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