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Weltrekord im Weitblick

Astronomie|Physik

Weltrekord im Weitblick
Astronomen haben Urgalaxien entdeckt, die sich formten, als das Universum erst wenige Hundert Millionen Jahre alt war.

Wie Paläontologen immer weiter graben, um die ältesten Relikte aus der Vorzeit zu finden, schauen Astronomen immer tiefer ins All hinaus, um dort die ältesten Objekte im All aufzuspüren. Denn aufgrund der Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit ist ein Blick in die weite Ferne zugleich einer in die ferne Vergangenheit. Die Teleskope sind gleichsam Zeitmaschinen, die in die frühesten Epochen des Kosmos vorstoßen. Das Ziel: Die Erforschung der ersten Sterne und Galaxien.

In den letzten Wochen und Monaten sind Astronomen diesem Ziel beträchtlich näher gekommen: Sie haben die tiefste Aufnahme vom frühen Universum vorgestellt und das Licht der fernsten Galaxien erhascht, das jemals beobachtet wurde.

„Das Hubble-Weltraumteleskop bringt uns fast einen Steinwurf dicht an den Urknall heran“, begeistert sich HUDF-Projektleiter Massimo Stiavelli vom Space Telescope Science Institute (STScI) in Baltimore, Maryland. Mit HUDF („Hubble Ultra Deep Field“) hat sich das Weltraumteleskop selbst übertroffen. 1995 und 1998 hatte es mit zwei Langzeitaufnahmen – „Hubble Deep Field“ (HDF) und „ HDF-South“ – Astronomiegeschichte geschrieben (bild der wissenschaft 3/1999, „Bohrloch durchs Universum“). Durch das im März 2004 veröffentlichte, viel weiter reichende HUDF-Bild ist Hubble nun fast an die Grenze zwischen dem Dunklen Zeitalter und der Kosmischen Renaissance herangerückt. Mit diesen Begriffen – angelehnt an Epochen der europäischen Geschichte – bezeichnen Astronomen den Übergang von der Finsternis ins Licht, als die Schwerkraft die ersten Sterne und Galaxien aus Verdichtungen im Urgas formte (bild der wissenschaft 10/2003, „Sterne – Die Pioniere des Lichts“). Dieses Territorium der Raumzeit ist noch immer ein fast unbekanntes kosmologisches Neuland.

Insgesamt eine Million Sekunden lang starrte Hubble auf eine winzige Stelle am Himmel im Sternbild Fornax unterhalb des berühmten Himmelsjägers Orion. Nie zuvor hatte das Teleskop mehr Zeit für eine einzige Aufgabe zugeteilt bekommen – allerdings nicht an einem Stück, sondern verteilt über 400 Erdumläufe zwischen dem 24. September 2003 und dem 16. Januar 2004. Steven Beckwith hat sogar seine ihm als STScI-Direktor zustehende eigene Beobachtungszeit dafür gespendet. Und er hat es nicht bereut: „ Die Qualität dieser Daten ist die beste, die das Weltraumteleskop je erreicht hat.“

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Das Ergebnis kann sich buchstäblich – und in dieser Tiefe erstmals – sehen lassen: Auf einer Fläche von einem Siebenundsechzigstel des Vollmond-Durchmessers, die selbst mit mittleren Teleskopen quasi „leer“ erscheint, spürte Hubble rund 10 000 Objekte auf. Die meisten davon sind Urgalaxien. Sie sind so fern, dass Hubble nur etwa ein Photon pro Minute von ihnen erhaschen kann – im Vergleich zu Millionen Photonen pro Minute von näheren Galaxien. Ihre Distanz lässt sich zurzeit nur schätzen: bis zu 12 oder 13 Milliarden Lichtjahre. „Während die HDF-Aufnahmen die Galaxien zeigten, als sie junge Burschen waren, enthüllt HUDF sie als Krabbelkinder mit raschen Entwicklungssprüngen“, kommentiert Stiavelli.

Die Daten stimmen gut überein mit noch unveröffentlichten Spektren im nahen Infrarotbereich, die das 8-Meter-Gemini-South-Telescope auf dem Cerro Pachon in Zentralchile gewonnen hat, sagt Karl Glazebrook von der Johns Hopkins University in Baltimore. Auch diese lassen darauf schließen, dass die fernsten Galaxien nur etwa 0,8 bis 1 Milliarde Jahre alt sind.

Die gute HUDF-Qualität ist Hubbles letzter Service-Mission zu verdanken: Anfang 2002 installierten Astronauten neue Kameras und Detektoren, insbesondere die Advanced Camera for Surveys (ACS). Sie hat das doppelte Gesichtsfeld der 1993 eingebauten Wide Field Planetary Camera 2, eine zwei- bis vierfach höhere Empfindlichkeit und ist auch für Strahlung im nahen Infrarot sensibel. Daher vermag sie noch Objekte aufzuspüren, die 800 Millionen Jahre nach dem Urknall aufflammten.

Das HUDF ist ein kombiniertes Bild von Daten der ACS und von NICMOS (Near Infrared Camera and Multi-Object Spectrometer). NICMOS, ein tiefgekühltes Gerät zur Abbildung und Spektralanalyse von Infrarotquellen, kann sogar noch Objekte sehen, die bereits 400 Millionen Jahre nach dem Urknall leuchteten.

Doch selbst mit dem HUDF ist nicht das Ende des kosmischen Panoptikums erreicht. Tatsächlich gelang es Astronomen vor kurzem, noch weiter in Richtung Dunkles Zeitalter vorzustoßen. Die hochgezüchtete Teleskoptechnik macht freilich nur einen Teil des Erfolgs aus. Den anderen Teil verdanken die Forscher der Natur selbst. Denn unter bestimmten Umständen können die Gesetze der Relativitätstheorie die Lichtgier der Himmelsforscher befriedigen. Das Erfolgsgeheimnis besteht in dem schon von Albert Einstein berechneten Gravitationslinseneffekt. Bei dieser kosmischem Fata Morgana lenkt ein massereiches Vordergrundobjekt – typischerweise eine Galaxie oder ein Galaxienhaufen – das Licht eines viel weiter entfernten Objekts dahinter ab und spaltet es gleichsam in viele geisterhafte Einzelbilder auf oder zieht es gar zu einem Ring auseinander. Seit 1979 haben Astronomen zahlreiche solcher Gravitationslinseneffekte entdeckt. Dabei kommt es nicht nur zu einer „Verbiegung“ der Lichtbahnen, sondern auch zu einer Lichtverstärkung oder scheinbaren Vergrößerung des Hintergrundobjekts um einen Faktor von manchmal 20 bis 100. Gravitationslinseneffekte können also Urgalaxien sichtbar machen, die sonst selbst den empfindlichsten Teleskopen verborgen bleiben.

So gelang es vor wenigen Monaten Astronomen um Jean-Paul Kneib vom Observatoire Midi-Pyrenées und dem California Institute of Technology, den Lichtschimmer von Urgalaxien bei Abell 2218 zu analysieren. Das Hubble-Teleskop hatte schon 1995 rund 120 Lichtbögen um den zwei Milliarden Lichtjahre entfernten Galaxienhaufen im Sternbild Drache fotografiert. Es sind die verzerrten Schemen von Hintergrundgalaxien, deren Licht die Gravitationslinse Abell 2218 auf krumme Touren gezwungen hatte. Kneibs Spektralanalyse einiger Bögen – gemessen mit den beiden 10-Meter-Keck-Teleskopen auf dem Mauna Kea, Hawaii – ergaben, dass eine der Urgalaxien rund 13 Milliarden Lichtjahre entfernt ist. Als ihr Licht sich auf den Weg machte, hatte unser beobachtbares Universum nur fünf Prozent seines gegenwärtigen Alters und ein Siebtel seiner heutigen Größe.

„Ohne die 25fache Vergrößerung durch Abell 2218 im Vordergrund hätten wir dieses weit entfernte, junge Objekt nicht identifizieren können – jedenfalls nicht mit den gegenwärtigen Teleskopen“, sagt Kneib. Aus dem Lichtschimmer schließt er, dass die Galaxie nur etwa 2000 Lichtjahre groß ist, in ihr aber extrem viele neue Sterne entstehen – rund drei pro Jahr. Dieser kosmische Youngster ist also ein Paradebeispiel für eine galaktische Kinderstube. Französische und Schweizer Astronomen haben diesen bisherigen Entfernungsrekordhalter nun noch getoppt. Mit dem ISAAC-Spektrometer am Very Large Telescope (VLT) der Europäischen Südsternwarte in Chile vermaßen sie das Spektrum einer Urgalaxie namens Abell 1835 IR1916. Sie steht im Sternbild Jungfrau neben dem Galaxienhaufen Abell 1835, der rund drei Milliarden Lichtjahre entfernt ist. Ihr Schimmer an der Grenze der Nachweisbarkeit war mit sechs weiteren Galaxien schon früher von anderen Teleskopen fotografiert worden und ist nur im nahen Infrarot beobachtbar, nicht aber im sichtbaren Licht.

Auch hier führte ein Gravitationslinseneffekt zu einer extremen Lichtverstärkung: um das 25- bis 100fache. Ohne ihn wäre zur Beobachtung der Urgalaxie statt des 8,2-Meter-VLT ein Teleskop mit einem 40 bis 80 Meter großen Spiegel nötig gewesen.

Nach mehreren Monaten der sorgfältigen Datenanalyse war die Überraschung groß: Abell 1835 IR1916 ist über 13,2 Milliarden Lichtjahre entfernt. (Für Experten: Mit einem z-Wert von etwa 10 ist sie das erste bekannte Objekt mit einer zweistelligen Rotverschiebung – die bisherigen Rekordhalter haben z-Werte zwischen 6 und 7.) Die Strahlung wurde bereits 460 Millionen Jahre nach dem Urknall freigesetzt, als das Alter des Universums gerade drei Prozent des heutigen betrug. Würde man die gegenwärtige Lebensdauer des Alls mit der eines 80-Jährigen gleichsetzen, wäre die bisherige Rekordhalter-Galaxie 4 Jahre, die neue dagegen nur 2,5 Jahre alt.

Trotz des spärlichen Lichts fanden die Astronomen heraus, dass die Urgalaxie einen Durchmesser von weniger als 3000 Lichtjahren hatte, höchstens ein Zehntausendstel der Masse unserer Milchstraße heute besaß und eine Epoche intensiver Sternentstehung durchlief. Es handelt sich eindeutig um einen frühen Baustein der Galaxienbildung.

„Diese Entdeckung öffnet den Weg zu künftigen Erforschungen der ersten Sterne und Galaxien im frühen Universum“, freut sich Daniel Schaerer vom Genfer Observatorium, der zusammen mit Roser Pelló vom Observatoire Midi-Pyrénées die Beobachtungen geleitet hat. Und der ergänzt: „Direkte Beobachtungen ferner Galaxien am Rand des Dunklen Zeitalters sind schon jetzt mit den besten erdgebundenen Teleskopen möglich.“

Die nun entdeckten ältesten Galaxien im Universum werfen ein neues Licht auf die Entwicklung der kosmischen Strukturen. Zu Beginn waren die Galaxien noch weit davon entfernt, sich zu den majestätischen Spiralen und Ellipsen entwickelt zu haben, die heute den Weltraum dominieren. Stattdessen waren sie kleine, unregelmäßig geformte Sternansammlungen, die dicht beieinander standen und sich im Lauf der Jahrmilliarden häufig gegenseitig beeinflussten oder miteinander verschmolzen (bild der wissenschaft 4/1998, „Der galaktische Crash“ und 5/2001, „Die kannibalische Milchstraße“).

„Die Beobachtungen stützen die Vorstellung, dass sich die Galaxien wohl vom Kleinen zum Großen geformt haben“, kommentiert Richard Ellis vom California Institute of Technology das HUDF.

„Wir blicken zurück in eine Zeit, als das Universum chaotisch war. Fast alles auf dem Bild sind Galaxien oder Objekte, die zu Galaxien wurden. Aber wir sehen eine Vielzahl ungewöhnlicher Formen, die wir noch nicht identifizieren können“, sagt STScI-Direktor Steven Beckwith. Manche Galaxien ähneln Zahnstochern, andere Halsketten, und sie scheinen teilweise gravitativ miteinander zu wechselwirken oder gar zu kollidieren. Das passt gut zu den vorherrschenden „Bottom-up“-Modellen der Galaxienentwicklung. Danach bildeten sich zuerst die kleineren Strukturen – beginnend bei den Sternen –, die Galaxienhaufen und -superhaufen kamen zuletzt. HUDF hat einen Blick auf die Frühphase des Universums erhascht, in dem die Materie erst allmählich Gestalt annahm.

„Die Bilder helfen uns auch, den nächsten Schritt von NICMOS zum James Webb Space Telescope (JWST) zu machen“, sagt NICMOS-Teamleiter Rodger Thompson von der University of Arizona und spielt damit auf den Hubble-Nachfolger an, der gegenwärtig konzipiert und vielleicht im Jahr 2010 ins All geschossen wird. „ NICMOS kann in jene Entfernungen und Zeiten zurückblicken, die das JWST mit weit größerer Empfindlichkeit erkunden soll.“

Bis dahin wird HUDF wohl das kosmische Rekordbild schlechthin bleiben, denn die aktuellen Weltraumpläne der amerikanischen Regierung fahren die astronomische Forschung drastisch zurück – und im Augenblick sieht es so aus, als würde es auch keine neue Hubble- Servicemission mehr geben, bei der das Weltraumteleskop mit noch leistungsfähigeren Geräten aufgepeppt werden sollte. „ Das wäre ein großer Verlust“, bedauert Projektleiter Massimo Stiavelli. „HUDF wird als Vermächtnis von Hubble für lange Zeit einzigartig bleiben.“ ■

Rüdiger Vaas

Ohne Titel

· Die neue, insgesamt eine Million Sekunden lang belichtete Aufnahme des Hubble-Weltraumteleskops ist der bislang tiefste Blick ins All.

· Mit Hilfe einer Gravitationslinse als natürliche „Lupe“ gelang es außerdem, das fernste bekannte Objekt im Kosmos aufzuspüren. Seine Distanz: 13,2 Milliarden Lichtjahre.

COMMUNITY Internet

Hubble Ultra Deep Field:

hubblesite.org/newscenter/newsdesk/ archive/releases/2004/07/

Urgalaxie bei Abell 2218:

hubblesite.org/newscenter/newsdesk/ archive/releases/2004/08/

Entfernungsrekord von Abell 1835 IR1916:

www.eso.org/outreach/press-rel/pr-2004/pr-04–04.html

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