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Markrams Milliardenspiel

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Markrams Milliardenspiel
Der Schweizer Neurowissenschaftler Henry Markram will das menschliche Gehirn im Computer nachbauen. Die EU erwägt, den Forscher dabei mit einer Milliarde Euro zu unterstützen.

Henry Markram will hoch hinaus. Seine Pressekonferenz in Berlin gibt der Neurowissenschaftler von der École Polytechnique Fédérale de Lausanne in einem Turm am Frankfurter Tor. Er gehört zum Prachtboulevard Karl-Marx-Allee, dem Architektur-Stolz der ehemaligen DDR. Mit dem Fahrstuhl geht es in den 10. Stock. Von dort steigen Forscher und Reporter über eine mehrgeschossige Wendeltreppe in die Turmkuppel. Höher hinauf geht es nicht.

Die Kulisse passt zu Markrams Vorhaben: Er will nichts weniger als den menschlichen Geist im Computer simulieren – detailgetreu, Neuron für Neuron, binnen zehn Jahren. Mit diesem „Human Brain Project“ hat er sich für eine Förderung von einer Milliarde Euro beworben. Erstmals will die Europäische Kommission derart viel Geld für zwei visionäre Forschungsprojekte ausgeben, um die „ Wissenschaft über die Fiktion hinaus zu katapultieren“. Sechs Konkurrenten kämpfen derzeit um die beiden begehrten Plätze (siehe Kasten S. 44, „Der große Preis“).

„Die Simulation des Gehirns ist eine Mondmission mit nie da gewesenen Möglichkeiten für die Menschheit“, wirbt Markram auf der Pressekonferenz. 460 Krankheiten des Gehirns – von Alzheimer bis Parkinson – sind bis heute nicht wirklich verstanden. Allein in Europa verursachen sie jährlich Kosten von knapp 750 Millionen Euro. Das künstliche Gehirn soll dieses dunkle Terrain ausleuchten. Markram proklamiert sogar eine neue Generation von Medikamenten: „E-Drugs“, elektronische Tabletten. Therapien gegen Demenz, Depression und andere neurologische Leiden sollen am Kunsthirn maßgeschneidert und getestet werden, Tierversuche sollen entfallen.

Überdies soll das elektronische Gehirn die Saat für eine neue Generation von Geräten legen: von Supercomputern bis zu gehirnähnlichen Radios. Roboter mit menschengleichem Gedächtnis könnten lernen, sprechen und handeln wie Homo sapiens. „Eine neue Industrie entsteht, die Gehirntechnologie-Industrie“, verkündet Markram. Nebenbei werde die Computersimulation die Mysterien des menschlichen Geistes lüften: Wahrnehmung, Bewusstsein und Träume. Der 49-jährige Wissenschaftler verheißt einen sensationellen Überflug mit seiner Hirnmaschine. Er spricht ruhig und mit großen Gesten, auch als er sagt: „Die Simulation des Gehirns ist nicht die Aufgabe eines Einzelnen. Das ist eine Aufgabe für die Menschheit.“ Tausende Doktoranden plant er für sein Human Brain Project ein: Neurowissenschaftler, Mediziner, Physiker, Ingenieure und Informatiker. Ist das Größenwahn oder Genialität?

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Henry Markram ist in Südafrika geboren. In den 1980er-Jahren studiert er in Kapstadt Medizin, er will Psychiater werden. Aber dann erkennt er: Psychiatrische und neurologische Krankheiten werden nur anhand ihrer Symptome katalogisiert. Und nach diesem Internationalen Katalog der Krankheiten werden Patienten in aller Regel behandelt. Das findet Markram „vollkommen abschreckend“: „ Ich bin kein Katalogleser. Ein Katalog beantwortet nicht im Geringsten, wie das Gehirn funktioniert.“ Deshalb geht er in die Grundlagenforschung, schließt sich dem Neurophysiologen Rodney Douglas in Kapstadt an und dringt Stück um Stück tiefer in die Hirnforschung vor. 1988 wechselt er an das berühmte Weizmann-Institut in Israel und studiert dort die Ionenkanäle der Neuronen. Über diese Poren in der Zellwand strömen geladene Teilchen in die Zelle ein und auch hinaus. Nur deshalb können Neuronen feuern – und wir denken.

In Israel lernt Markram seine erste Frau kennen und bekommt drei Kinder mit ihr. Seine Familie bleibt jedoch zurück, als er zu Nobelpreisträger Bert Sakmann wechselt, damals am Max-Planck-Institut für medizinische Forschung in Heidelberg. Sakmann hat eine Methode entwickelt, die erstmals den Strom durch einen einzelnen Ionenkanal misst, die Patch-Clamp-Technik (siehe Kasten auf Seite 43).

DAS GROSSE GANZE

Für Markram ist der Umzug nach Heidelberg ein Wendepunkt im Leben. Er erkennt: „Ich war immer tiefer ins Detail vorgedrungen. Von da an fing ich an, mich wieder dem großen Ganzen zu zuwenden.“ Sakmann leitet diese Veränderung ein. „Er versteht es wie kein anderer, ein Problem auf das Wesentliche zu reduzieren. Ich bewundere ihn“, schwärmt Markram noch heute.

Ihm wird klar: Um das Gehirn zu verstehen, muss er die Ergebnisse der Neurowissenschaften zusammentragen. Jedes Jahr erscheinen 60 000 Fachartikel. Aus diesen Fragmenten will er grundlegende Regeln extrahieren und diese dann zu einem großen Ganzen verschmelzen – zu einem simulierten Gehirn, einer gigantischen elektronischen Kopie des menschlichen Geistes. Dafür ist die Synthese von Daten nötig, aber auch Sakmanns Kunst der Reduktion.

Dieser Einsicht lässt Markram Taten folgen. 2005 startet er an der École Polytechnique Fédérale de Lausanne das „Blue Brain Project“. Sein Ziel: im Computer ein aus 10 000 Neuronen bestehendes senkrechtes Segment aus der Hirnrinde einer Ratte, eine sogenannte kortikale Säule, nachzubauen. Dass es damals drei Jahre dauert, um ein einziges Neuron zu simulieren, schreckt ihn nicht ab. Die kortikale Säule macht Markram aus gutem Grund zum Ziel seines Vorhabens. Sie stellt für ihn eine funktionelle Untereinheit der Hirnrinde dar. Etliche Hirnforscher bezweifeln das zwar, doch Markram kann IBM für sein Projekt gewinnen. Das Unternehmen stellt den Supercomputer, der für die Simulationen notwendig ist.

Vier Geräte, jedes von der Größe eines Kühlschranks, beherbergen seither ein wachsendes Stück virtuelles Nagerhirn. 36 kortikale Säulen, eine Million Neuronen und eine Milliarde Synapsen habe er mittlerweile darin untergebracht, sagt Markram. Das menschliche Gehirn ist um mehr als das Tausendfache größer.

KEIN STILLSTAND IM GEHIRN

In einem 3D-Kinofilm, den das Lausanner Forschungsteam produzieren ließ, können Besucher Ausschnitte der bisherigen Simulationen bestaunen. Zu den Klängen des Donauwalzers wandert der Blick durch einen Dschungel aus bunt gefärbten Nervenzellfortsätzen. Sie wirken in der vergrößerten dreidimensionalen Darstellung wie gewaltige Lianen: mal zum Greifen nah, mal so, als würden sie den Körper des Zuschauers umschlingen.

Dann schaut man einem Dutzend Nervenzellen dabei zu, wie sie einander elektrische Pulse zufeuern. Dieses punktuelle Flackern wird beim Betrachten der 10 000 Nervenzellen einer kortikalen Säule zu einer breiten rhythmischen Lichtwelle. Sie läuft vom Inneren des Gehirns nach außen. „Ähnlich einem Klavier mit Tausenden Tasten, die von einer Seite zur anderen gespielt werden“ , veranschaulicht Markrams Mitarbeiter Martin Telefont. „Diese Netzwerk-Aktivität in einer kortikalen Säule können wir uns nur in der Simulation ansehen. Im Experiment geht das nicht.“

Markrams Team aus mehr als 40 Wissenschaftlern hat der elektronischen Rattendenkzentrale bereits spektakuläre Erkenntnisse entlockt. Nummer 1: Sie ist aktiv, auch wenn die Forscher ihr keine Befehle und Signale geben. Die Neuronen feuern einfach so, ohne Unterlass. „Das Gehirn kann nicht still stehen“, kommentiert Markram. Für ihn entspricht das der Wirklichkeit. „ Wenn wir keine Signale aus der Umwelt bekommen, fangen wir an zu halluzinieren. Wenn wir schlafen, träumen wir, weil das Gehirn nicht aufhören kann.“

Mit Erkenntnis Nummer 2 wagt sich Markram weit vor. Der Mensch komme „mit angeborenem Wissen“ zur Welt, das in „legoähnlichen Bausteinen“ gespeichert sei, interpretiert er seine jüngst im Fachjournal PNAS erschienene Studie. Dass uns Informationen in die Wiege gelegt werden, „ist Konsens“, entgegnet der renommierte Hirnforscher Wolf Singer vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt. An legoähnliche Speichermedien im Kopf glaubt er aber nicht: „Das angeborene Wissen ist in den Genen fixiert und drückt sich dann in den Strukturen des Gehirns aus.“

EINE BURG AUS LEGOSTEINEN

Henry Markram ist indes überzeugt, dass das Basiswissen in legoähnlichen Nervenzellclustern gebunkert ist, die er selbst als Erster im Gehirn zwei Wochen alter Ratten nachgewiesen hat. Es sind stabile Verbände aus rund einem Dutzend Nervenzellen. Im Allgemeinen können die Verbindungen zwischen den Nervenzellen unterschiedlich stark sein. Doch die Verknüpfungen zwischen den Zellen in einem Legostein sind, so entdeckte Markram, fast bis aufs Maximum ausgebaut und können kaum weiter verstärkt werden. Lediglich zu benachbarten Legosteinen besteht Spielraum, Verknüpfungen zu intensivieren. Nur diese Kontakte zwischen den Steinen können im Laufe des Lebens verändert werden. Deshalb glaubt Markram, dass Wahrnehmungen und Gedächtnisinhalte aus Kombinationen dieser Steine bestehen. „Jeder hat eine einzigartige Burg aus diesen Legosteinen im Kopf: Das ist unsere individuelle Geschichte.“

Schon kündigt Markram eine dritte Neuentdeckung an, die noch verwegener anmutet. Im virtuellen Rattengehirn hat er ein gängiges Paradigma getestet, wonach wir Neues lernen, indem Verknüpfungen zwischen Nervenzellen verstärkt werden. Diese Theorie geht auf den kanadischen Psychobiologen Donald Hebb zurück. Er postulierte, dass beim erstmaligen Betrachten eines Objektes, etwa eines Tisches, ein bestimmter Verband von Nervenzellen aktiviert wird – der sogenannte Hebbsche Verband. Sobald Neuronen des Verbands gemeinsam feuern, werden die Verbindungen zwischen ihnen verstärkt. Dieses Zusammenschweißen der Neuronen in einem Verband lässt uns lernen. Von da an genügt es, Teile des Objektes zu sehen, etwa die Tischplatte, schon wird der Hebbsche Verband aktiviert und ruft uns ins Gedächtnis, dass es sich um einen Tisch handeln muss. Aber: „Die Hebbsche Vorstellung wurde nie gründlich in Experimenten getestet“, stellt Nobelpreisträger und Gedächtnisforscher Eric Kandel von der Columbia University in New York gegenüber bild der wissenschaft klar.

Das veranlasste Markram, die Hebb-sche Regel in seinen Simulationen auf den Prüfstand zu stellen. Das Ergebnis überrascht: Wenn er das virtuelle Rattenhirn durch Verstärkung der Zellkontakte im Verband lernen lässt, zerfallen die Legosteine! Das widerspricht der Beobachtung im Experiment: Die Bausteine bleiben im Gehirn des Tieres intakt, obwohl es lernt. Der 49-Jährige sagt leise, aber eindringlich, im Wissen, dass er damit so gut wie jedem Hirnforscher seiner Zeit und jedem Lehrbuch widerspricht: „Die bestehenden Lernregeln sind alle falsch. Wir lernen nicht primär dadurch, dass Verknüpfungen zwischen Nervenzellen in einem Hebbschen Verband verstärkt werden.“ Verbindungen können Markram zufolge nur zwischen verschiedenen Legosteinen ausgebaut werden.

WIE EIN DICHTER WALD

In Kürze will Markram eine vierte Erkenntnis seiner Simulationen groß herausbringen. Und wieder wird sie mit gängigen Vorstellungen brechen. Es geht um die Frage, wie sich Nervenzellen im entstehenden Gehirn erstmals vernetzen. „Seit Jahrzehnten herrscht das Dogma, dass die Zellen einander über chemische Signale kontaktieren und dass dies das Wachstum und die Lage der Synapsen steuert“, so Markram. „Wir haben herausgefunden, dass das nicht stimmt.“ Es bedarf zweier Schritte, damit sich das Netzwerk der Nervenzellen, das „ Konnektom“, bildet, stellte Markrams Team fest (mehr zum Konnektom in bild der wissenschaft 10/2009, „Die Entschlüsselung des Gehirns“): Zuerst entstehen überall dort Verbindungen, wo sich die Nervenzellfortsätze zufällig berühren. Allein die Geometrie der Zellen und ihre Lage bestimmen dabei, wo sie sich verbinden. Markram vergleicht dieses erste Netzwerk mit einem Wald verschiedenartig verzweigter Bäume, die sehr dicht nebeneinander heranwachsen, sodass sich automatisch ein Geflecht sich berührender Äste bildet. Diese erste Verknüpfungskarte im Kopf wird erst in einem zweiten Schritt durch chemische Botenstoffe fein strukturiert.

Mit seinen Interpretationen und Befunden mischt Markram die Neurowissenschaft gehörig auf. Mittlerweile haben sich über 350 Forscher dem Human Brain Project angeschlossen. Sie gehören 13 Institutionen aus 9 EU-Staaten an. „Das Blatt hat sich gewendet“, sagt Markram und lächelt. Das Forschungszentrum Jülich will den Supercomputer bauen, der nötig ist, um das menschliche Gehirn nachzubilden. Er muss 1000 Mal leistungsfähiger sein als verfügbare Rekordrechner. Das Münchner Bernstein-Zentrum für Hirnforschung hat sich angemeldet, um aus den Daten der gesamten Hirnforschung Regeln abzuleiten, die für den Bau des virtuellen Gehirns nützlich sind. Andere schielen auf die Anwendungen, die sich aus der Hirnsimulation ergeben: Die Technische Universität München möchte zur Wiege der denkenden Roboter werden. Da kein Supercomputer in einen mannsgroßen Roboter passt, will die Universität Heidelberg handliche Chips aus Silizium konstruieren, die dem Nervenzellnetzwerk im Gehirn nachempfunden sind, sogenannte neuromorphe Chips.

WENIGER ALS EINE GLÜHBIRNE

Es ist gewiss auch die Aussicht auf die gigantische Förderung von einer Milliarde Euro, die die Forscher hinter Markram eint. Aber sachliche Argumente haben ebenso überzeugt: Der „Geist“ wiegt nur 1,5 Kilogramm und beansprucht keine Turnhalle wie moderne Hochleistungsrechner. Trotzdem kann er in vielerlei Hinsicht mehr. „Er kann lernen und sich erneuern, ist enorm robust und fehlertolerant“, erklärt Karlheinz Meier, Physiker von der Universität Heidelberg. „Das Spektakulärste ist aber der extrem geringe Energieverbrauch von 20 Watt. Das sind weniger, als die mittlerweile verbotene Glühbirne verbraucht hat, und steht in scharfem Gegensatz zu den vielen Megawatt bei unseren Großrechnern.“ Wenn die modernen Rechenmaschinen noch leistungsfähiger werden, müsse man ein Atomkraftwerk daneben stellen – „undenkbar“, sagt Meier. Nur ein Großrechner à la Gehirn könne das sich abzeichnende Energieproblem lösen, verdeutlicht Robotikforscher Alois Knoll von der Technischen Universität München. Überspitzt könnte man sagen: Die Informationstechnik steuert in eine Sackgasse, wenn sie es nicht schafft, das Gehirn zu verstehen.

Aber der Satz gilt auch umgekehrt: Die Hirnforschung werde ohne die Computerwissenschaften bald feststecken, ist Katrin Amunts vom Forschungszentrum Jülich überzeugt. Mittels Polarisationsbildgebung kann das Gehirn bis auf einen Mikrometer genau durchleuchtet werden. Pro Kopf erhält man dabei 520 Terabyte Daten, die nur mit Neuroinformatik und Computertechnik durchkämmt werden können. Amunts findet es nur logisch, dass Geist und IT miteinander verschmelzen.

Noch ein anderer Umstand hat einige Skeptiker bekehrt: Markrams Herangehensweise. Viele gängige Computermodelle des Gehirns beruhen auf Annahmen und massiven Vereinfachungen. Beides lehnt Markram ab. Er hat bewusst den Ansatz des „Reverse Engineering“ gewählt, einer Methode aus den Ingenieurwissenschaften. Die Ingenieure gehen dabei von einem fertigen Produkt aus und zeichnen im Nachhinein einen Konstruktionsplan, indem sie das Objekt akribisch studieren.

WIE EIN AUTO OHNE RÄDER

Zwei Mal kamen unabhängige Gutachter nach Lausanne, um sich das in der Praxis anzuschauen. Den letzten TÜV stieß Rodney Douglas an, der inzwischen an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich lehrt – derselbe Douglas, bei dem Markram einst in Kapstadt die Neurowissenschaften für sich entdeckt hat. Heute ist er Markrams schärfster Kritiker, polemisiert heftig gegen das Blue Brain Project. Markram habe zu wenig daraus veröffentlicht: „ Ein unveröffentlichtes wissenschaftliches Ergebnis ohne unabhängige Bewertung ist wie ein Auto ohne Räder“, wettert Douglas in einem offenen Brief. Ohne solide Daten wolle Markram nun ein noch gigantischeres Projekt aus der Taufe heben.

Douglas habe auf den Todesstoß des Human Brain Projects spekuliert, glaubt Markram. Vier Gutachter, allesamt ausgewiesene Experten der Bioinformatik, Neuroinformatik und der Computerwissenschaften, inspizierten zweieinhalb Tage lang die Labors. Sie ließen sich die Experimente und Simulationen bis ins Kleinste erklären. Am Ende stellten die kritischen Prüfer dem Avantgardisten ein hervorragendes Zeugnis aus: „Mit dem größten Enthusiasmus empfehlen wir das Blue Brain Project für eine weitergehende Förderung.“ Die Methoden seien weltweit einzigartig.

Was Markrams Mitarbeiter auf zwei Etagen eines großen Gebäudetraktes täglich tun, hat die Gutachter beeindruckt: Ein Teil analysiert die Neuronen im Rattengehirn aufs Genaueste. In einer Apparatur so groß wie eine Nähmaschine, dem sogenannten Patch-Clamp-Verstärker (siehe Kasten S. 43), den Sakmann in die Neurowissenschaften einführte, messen sie die elektrischen Potenziale von zwölf Nervenzellen gleichzeitig in einem Gewebeverband. Andere Mitarbeiter fixieren einzelne Neuronen auf einem daumenbreiten Glasträger und färben sie an. Unter einem 3D-Mikroskop kopieren sie die Gestalt der Zelle. Jeder noch so winzige Zellfortsatz wird erfasst, jeder Ionenkanal übernommen. Diese Daten bilden einen Fingerabdruck jeder Nervenzelle, den „ wir in mathematische Gleichungen übersetzen“, erklärt Telefont. Zelle für Zelle wächst so das Gehirn im Computer.

Viele Mitarbeiter sitzen in Großraumbüros vor ihren Rechnern. Nur das Klappern der Tastaturen ist zu hören. An den Wänden hängen bunte Poster, die das eingefärbte Nervenzellgeflecht aus den Simulationen zeigen. Es klingt nach einer Sisyphus-Arbeit, aber Telefont widerspricht: „Es gibt bestimmte Muster. Wir können vorhersagen, wie sich ein Neuron mit bestimmten Ionenkanälen elektrisch verhält.“ Auch die Position der Zelle schränkt ihre Eigenschaften ein: Ihre Nervenzellfortsätze können beispielsweise nicht aus dem Schädel in die Luft ragen – denn das kommt in der Wirklichkeit nicht vor. Markrams Team hat überdies eine sehr verlässliche Nachbarschaftsregel gefunden, die den Nachbau des Gehirns erleichtert: Haben zwei Neuronen zwei gemeinsame Zellen zum Nachbarn, so sind beide auch direkt miteinander verknüpft. Über solche Zusammenhänge ergeben sich viele Eigenschaften des Gehirns von selbst. Für Markram ist das nicht verwunderlich: „Es funktioniert nicht nach komplexen Regeln, sondern nach wenigen einfachen. Sonst wäre es nicht so robust.“

Den Experten-Streit hat das positive Gutachten übrigens nicht im Geringsten beigelegt. Rodney wirft Markram nun vor, er habe die Gutachter manipuliert. Er bezichtigt ihn, Luftschlösser zu errichten. Wolf Singer plädiert für eine offene Haltung: „Lasst uns auf die Publikationen warten, und dann werden wir weitersehen.“

EINE FRIEDLICHERE WELT

„Vielleicht dauert es länger“, entgegnet Markram ruhig. „Aber wenn Leute sagen, es sei unmöglich, das Gehirn zu simulieren, schere ich mich nicht darum. Ich interessiere mich nur dafür, was nötig ist, es möglich zu machen.“ Über nichts spricht der bei privaten Themen sehr zurückhaltende Wissenschaftler so gern wie über seine Vision, das Gehirn zu entschlüsseln. Erst am Ende des Interviews verrät er, warum ihn das derart gefangen nimmt. Es sind unbeantwortete existenzielle Fragen, die schon Philosophen um den Schlaf brachten: Wer sind wir? Warum führen wir Kriege? Und warum nehmen wir die Welt so ernst, obwohl alles, was wir sehen, eine imaginäre Welt ist, die unser Gehirn aus wenigen Sinneseindrücken zusammenstrickt? Markram ist überzeugt: „Wenn wir all das verstehen, kann die Welt besser und friedlicher werden.“ ■

SUSANNE DONNER findet: Henry Markram arbeitet an einem der schönsten Forschungsstandorte – mit Blick auf das Mont-Blanc-Massiv.

von Susanne Donner

Mehr zum Thema

Internet

Zum „Human Brain Project“: www.humanbrainproject.eu

Zu den Flaggschiff-Projekten der EU: www.fet11.eu/about/fet-flagships

Kompakt

· Die Simulation des menschlichen Gehirns im Computer wird der Hirnforschung und der Informatik aus der Sackgasse helfen.

· Davon sind 350 Forscher aus Europa überzeugt, die sich dem „ Human Brain Project“ des Lausanner Neurowissenschaftlers Henry Markram angeschlossen haben.

Der große Preis: Eine Milliarde Euro für riskante Forschung

Ab 2013 sollen zwei visionäre Forschungsvorhaben der Informations- und Kommunikationstechnologie für zehn Jahre mit einer Milliarde Euro gefördert werden. Mit dieser ungewöhnlich hohen Summe will die EU „riskanter Forschung“ zum Durchbruch verhelfen. Das Geld für die „Flagschiffprojekte“ soll sowohl von öffentlichen Geldgebern als auch von der Privatwirtschaft kommen. Zurzeit erstellen sechs Konsortien Machbarkeitsstudien.

· Mit dem detailgetreuen Nachbau des Gehirns hat sich der Neurowissenschaftler Henry Markram von der École Polytechnique Fédérale de Lausanne beworben.

· Das Team um Physiker Jari Kinaret von der Chalmers University im schwedischen Göteborg will den Werkstoff Graphen, eine Kohlenstoffschicht von der Dicke eines Kohlenstoffatoms, in die Elektronik- und Informationstechnik einführen. Die Forscher versprechen sich davon schnellere, durchscheinende und biegsame Geräte.

· Einen elektronischen Schutzengel hat dagegen Computerwissenschaftler Adrian Ionescu von der Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne vor Augen. Der wachsame digitale Assistent soll vor Umweltgefahren und anderen gefährlichen Situationen warnen.

· Ein ähnlicher elektronischer Weggefährte schwebt Maschinenbauingenieur Paolo Dario von einem Forschungsinstitut in Pisa vor: Der ständige Begleiter soll bei Katastrophen helfen, Menschen durch fremde Städte lotsen und sogar die Arbeit unterstützen.

· Mathematiker Steven Bishop vom University College London arbeitet an einer Simulation der Erde. Sie soll offenlegen, wie sich Gesellschaften verhalten – wie sie beispielsweise auf eine Naturkatastrophe reagieren.

· Ein deutscher Forscher, Hans Lehrach vom Max-Planck- Institut für Molekulargenetik in Berlin, will molekulare, physiologische und anatomische Daten in einer gigantischen elektronischen Patientenakte speichern und so auf Knopfdruck eine maßgeschneiderte individuelle Therapie ermöglichen.

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