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Die angehaltene Zeit

Gesellschaft|Psychologie

Die angehaltene Zeit
Mit 65 fängt für viele Menschen heute tatsächlich ein neues Leben an. Die jungen Alten sind um 10 Jahre jünger als ihre Altersgenossen vor 40 Jahren. Und selbst mit 80 gönnt sich die Rentnerin noch ein neues Kleid – es steigert das Selbstwertgefühl.

Opa Karl hat vor kurzem seinen 75. Geburtstag gefeiert. Er ist von der Sonne gebräunt, trägt Jeans, ein kurzärmliges kariertes Hemd und darüber eine sportlich moderne Outdoor-Weste. Mit seiner knapp ein Jahr jüngeren Ehefrau bewohnt er ein schmuckes Einfamilienhaus, das er fast allein gebaut hat, mit reichlich Grün drum herum. Die beiden versorgen sich vollständig selbst – sie kaufen ein, kochen, putzen, waschen und halten ihren Garten allein in Schuss.

Opa Karl ist seit 15 Jahren Rentner. Seinen Ruhestand nach einem fast 45-jährigen Arbeitsleben hat er von Anfang an aktiv gestaltet. Den Hausbau seines Sohnes hat er in dieser Zeit tatkräftig vorangetrieben und seiner berufstätigen verwitweten Tochter greift er immer gerne unter die Arme, schneidet die Hecke oder bringt im Dezember die weihnachtliche Außenbeleuchtung an. Stolz hütet Opa Karl seine beiden Urenkel, die er im Kinderwagen spazieren fährt. Seine eigenen Kinder und die Enkel mussten darauf verzichten, weil es „früher nicht üblich war, dass Männer einen Kinderwagen schieben“. Opa Karl ist mit der Zeit gegangen.

Er liest täglich Zeitung, nutzt beim Telefonieren Sparvorwahlen, bedient die neue komplizierte Kaffeemaschine mit Mahlprogramm und hat gerade elektrische Antriebe für die Jalousien seiner Fenster installiert. Gerne besucht er für ein paar Tage die Enkel und Urenkel in der fernen Großstadt oder reist mit einem früheren Arbeitskollegen in die Berge.

Kürzlich hat er sich ein neues Hüftgelenk einsetzen lassen. Bei der dreiwöchige „Reha“ in der Kurklinik waren die meisten anderen Patienten um einiges älter als er, „so um die 90″. Die haben ihn an seinen Vater erinnert. Der starb mit gerade mal 60 Jahren. „Da war er in meinen Augen ein richtig alter Mann“, sagt Karl. „Obwohl er 15 Jahre jünger war als ich heute, sah er alt und verbraucht aus.“

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Karl liegt mit seiner Beobachtung richtig – die Menschen heutzutage sind tatsächlich länger jung und fit. Die Forschungsgruppe Altern und Lebenslauf (FALL) an der Freien Universität Berlin hat Menschen in der zweiten Lebenshälfte (40 bis 85 Jahre) nach den „objektiven Lebensbedingungen sowie subjektiven Selbst- und Lebenskonzepten“ befragt. Die fast 5000 Befragten gaben den Wissenschaftlern um den Soziologie-Professor Martin Kohli ganz konkret Auskunft über ihre Lebenssituation. Kohlis Fazit: „Jede jüngere Altersgruppe weist beim Übergang in den Ruhestand ein höheres Ausbildungsniveau, eine bessere Gesundheit und – zumindest bislang – eine bessere materielle Absicherung auf, verfügt also über mehr Ressourcen für eine eigenständige Lebensführung als die vorherige.“

Die 60- oder 70-Jährigen von heute sind besonders in punkto Gesundheit vitaler als es Gleichaltrige 1950, 1960 oder sogar noch 1980 waren. Diesen Trend hat der Göteborger Sozialmediziner Alvar Svanborg bereits 1983 nachgewiesen, als er damals 70-Jährige mit gleichaltrigen Senioren des Jahres 1973 in 50 medizinisch relevanten Punkten verglich. Das Ergebnis überraschte in seiner Eindeutigkeit: Die 70-Jährigen von 1983 waren um zehn Jahre jünger und gesünder als ihre Altersgenossen nur ein Jahrzehnt zuvor.

Ein ähnliches Resümee zog einige Jahre später Tom Kirkwood. Der erste britische Professor für Gerontologie und Mediziner am National Institute of Medical Research in London bestätigte die „ Verjüngung“ der Senioren: „In vieler Hinsicht sind die heute 70-Jährigen tatsächlich wie die 60-Jährigen der Generation zuvor.“

Eine Errungenschaft, die sich nicht zuletzt die moderne Medizin auf ihre Fahnen schreiben darf. Von deren Fortschritten und Erkenntnissen haben heutige 65-Jährige enorm profitiert. Operationen und Narkosen strapazieren den Organismus längst nicht mehr so stark wie in früheren Zeiten. Vorbeugung, bessere Dia- gnostik, schonendere Therapien und das Wissen um die Wichtigkeit einer gesunden Ernährung wirken sich nicht nur lebensverlängernd aus – sie beeinflussen auch, wie der Mensch altert.

Darüber hinaus ist „Altern stets das Ergebnis eines lebenslangen Prozesses mit ureigenen Erlebnissen und Erfahrungen“ , sagt Ursula Lehr. Die emeritierte Professorin ist Gerontologin der ersten Stunde in Deutschland. Lange Zeit bevor Altern als Thema überhaupt durch Schlagworte wie „Vergreisung der Republik“ ins öffentliche Bewusstsein rückte, und viele Jahre bevor sie 1986 auf den ersten deutschen Lehrstuhl für Gerontologie an der Universität Heidelberg berufen wurde, hat sie sich für die späte Lebensphase interessiert.

Über viele Jahre hat die Psychologin Lehr das Älterwerden und Ältersein von Menschen in Längsschnittstudien beobachtet und festgestellt: „Zeit- und Sozialisationsbedingungen sind prägend.“ Denn „zweifellos sahen Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter der heute 65-Jährigen vollkommen anders aus als bei jenen, die um 1900 geboren wurden. Die sind in verschiedenen politischen Systemen aufgewachsen, haben zwei Weltkriege bewusst und zum Teil auch aktiv miterlebt und wissen, was es heißt zu hungern.“

Ein solches Leben hinterlässt andere Spuren als eines, das überwiegend in Friedenszeiten stattfindet und kaum materielle Not kennt. Das ist auch ohne wissenschaftliche Studien den Gesichtern der alten Alten auf den ersten Blick anzusehen: „Vergleichen Sie in Fotoalben Ihre Großeltern oder Urgroßeltern als 60-Jährige mit heutigen Sechzigern“, rät die Heidelberger Gerontologin. „Es scheinen Welten dazwischen zu liegen. Die Älteren sehen verbraucht aus.“

Häufig sind die Gesichter von Oma und Opa oder Uroma und Uropa eingefallen, das Kinn ist spitz und sticht ein wenig hervor. Die Erklärung ist einfach: Zahnersatz war – anders als derzeit (noch) – keine Selbstverständlichkeit und selbst wenn es ihn gab, waren die Gebisse oft so grob gefertigt, dass sie an allen Ecken drückten und oft einfach im Nachttisch verschwanden.

Auch bei der Kleidung unterscheiden sich heutige 65-Jährige von denen, die um 1900 geboren wurden. „Dass Frauen Hosen tragen, war noch in den sechziger Jahren verpönt“, erinnert sich Ursula Lehr. Während damals Kleidung eher nach Zweckmäßigkeit gekauft wurde, entscheidet heute zumeist das Selbstwertgefühl über eine Neuanschaffung. Um sich wohl zu fühlen, investieren heute auch 65-Jährige in ihr Äußeres, was sie sich finanziell eher leisten können als ihre Altersgenossen vor 40 Jahren. „Selbst die 80-Jährige gönnt sich heute noch ein neues Kleid, weil das den Selbstwert steigert“, sagt die Alternsforscherin.

Das ist sicher ein Indiz dafür, dass sich auch in den Köpfen der Senioren etwas verändert hat. Dass heutige 65-Jährige andere Werte schätzen als die vor 40 Jahren gilt als sicher, wissenschaftlich nachweisbar ist es kaum, weil „die Alten“ in den sechziger Jahren kein Forschungsthema waren und bei den sporadischen Umfragen persönliche Einstellungen etwa zu ehelicher Treue, Religion oder Politik nicht erfasst wurden.

Ursula Lehr sieht in der meist härteren körperlichen Arbeit einen Grund dafür, dass die Menschen in der Vergangenheit schneller alterten. Um 1900 Geborene mussten weitgehend auf Maschinen verzichten, die ihnen die Arbeit hätten erleichtern oder abnehmen können, was für 1940 Geborene im Laufe ihres Lebens fast selbstverständlich geworden ist. „Schauen Sie sich einmal das Tätigkeitsfeld einer Hausfrau an“, erklärt die Psychologin. „ Wer kann sich heute angesichts von Waschmaschine und Trockner vorstellen, welche tagelange Knochenarbeit das Wäschewaschen für Generationen von Hausfrauen im 20. Jahrhundert gewesen ist?“

Nicht nur bei der Hausarbeit, auch im beruflichen Bereich hatten die Menschen mit wesentlich schlechteren Bedingungen zu kämpfen. Die um 1900 Geborenen standen meist mit 15 Jahren im Beruf. Heutige 65-Jährige, so Lehr, haben die Schulbank oft etwas länger gedrückt, und der Anteil der Studierten unter ihnen ist ebenfalls höher. Ihr Einstiegsalter ins Berufsleben lag allerdings noch weit unter dem heutiger Berufsanfänger, die im Durchschnitt erst mit 25 Jahren selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen.

Freizeit war für die alten Alten Mangelware. Sie hatten Zeit ihres Lebens weitaus weniger Chancen, eigene Interessen zu entwickeln. „Hobby war für die Senioren in den sechziger Jahren noch ein richtiges Fremdwort“, weiß die Alternsforscherin Lehr. „ Sie hatten, anders als Gleichaltrige heute, nach der Arbeit selten die Möglichkeit, Sport zu treiben, ein Buch zu lesen oder ins Theater zu gehen, um so körperlich und geistig Ausgleich für die harte Arbeit zu bekommen und sich bis ins Alter fit zu halten.“

Bei der körperlichen Ertüchtigung waren vor allem die zu Beginn des 20. Jahrhunderts geborenen Frauen benachteiligt. „ Sport war für Mädchen unschicklich. Wer in jungen Jahren mit einer solchen Einstellung konfrontiert wird, der legt sie im späteren Leben kaum noch ab“, sagt Ursula Lehr, die mit ihren 74 Jahren noch joggt, schwimmt, Rad fährt und auch im Fitnessstudio trainiert. Dass „körperliche Aktivität zum Beispiel das Herz-Kreislauf-System stärkt und entscheidend dazu beiträgt, gesünder und kompetenter zu altern“ ist eine Erkenntnis, die sie aus ihrer langjährigen Forschung für ihr eigenes Altern beherzigt.

Auch um die beiden anderen wichtigen Säulen für ein erfreuliches Altern muss sich die erste deutsche Gerontologin keine Sorgen machen: Kontakte und Gehirnjogging. Dafür, dass sie nicht vereinsamt und die grauen Zellen ständig gefordert sind, sorgt sie nicht allein. Fast täglich erreichen die Wissenschaftlerin Anfragen zu Vorträgen über die alternde Gesellschaft. Bekannt geworden ist Ursula Lehr auch als Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (1988 bis 1991). Sie hat den ersten Altenbericht der Bundesregierung initiiert, der die Bedürfnisse der älteren Bevölkerung umfassend darstellte.

Dass heutige 65-Jährige in der Regel geistig vitaler als Gleichaltrige vor 40 Jahren sind, führen Wissenschaftler auf die gravierenden Unterschiede in der schulischen Bildung und der beruflichen Qualifizierung zurück. Während nur sehr wenige der um 1900 Geborenen auf eine weiterführende Schule gingen – Frauen so gut wie gar nicht –, sind heutige 65-Jährige durch eine bessere Schulbildung eher gewohnt, Geist und Gedächtnis zu trainieren. „ Eine bessere Geroprophylaxe als lebenslanges Lernen gibt es nicht“ , meint Lehr. „Das endet auch mit der Pensionierung nicht.“

Denn der Ruhestand ist nicht mehr – wie noch vor 40 Jahren – als „Restzeit“ anzusehen. Wer heute in Rente geht, freut sich in der Regel auf die nun unbegrenzte Freizeit und die Möglichkeit, sich fortan ganz seinen Hobbys widmen oder für längere Zeit verreisen zu können.

Das war noch bis etwa 1970 anders: Damals herrschte unter den angehenden Pensionären geradezu Panik vor einem Übermaß an Freiheit. Mediziner sprachen vom „Pensionsschock“ oder „ Pensionierungstod“. Die Senioren fühlten sich auf ein kurzes Abstellgleis geschoben, das unweigerlich den baldigen Tod bedeutete. Eigens eingerichtete „Vorbereitungskurse auf die Pensionierung“ sollten bereits nach dem 55. Lebensjahr Abhilfe schaffen und die zukünftigen Rentner auf die „unerwartete Zeit aufgezwungener Muße“ einstimmen. „Solche Seminarangebote boomten“ , erinnert sich Alternsforscherin Lehr. „Und sie hatten Erfolg. Sie erleichterten den Menschen tatsächlich die Anpassung an die Situation des Pensionärs.“

Wer damals in den Ruhestand trat, der hatte de facto den größten Teil seines Lebens hinter sich. Die durchschnittliche Lebenserwartung betrug 67 Jahre. 70- oder 80-Jährige oder gar noch Ältere waren die große Ausnahme. So wurden 1965 in den alten Bundesländern 158 100-Jährige gezählt. Im Jahr 2003 gratulierte der Bundespräsident 3883 Mitbürgern zum 100. Geburtstag, dazu 336 Frauen und Männern, die 105 bis 111 Jahre alt wurden. Die heutigen 65-Jährigen gehören nicht mehr zu den Ältesten der Gesellschaft und haben guten Grund, den Ruhestand nicht als kurze „Restzeit“, sondern als eine neue Lebensphase zu betrachten: Vor ihnen liegen im Durchschnitt noch 20 Jahre, also fast ein Viertel ihres Lebens, so Lehr.

Opa Karl gehört mit seinen jetzt 75 Jahren noch lange nicht nicht zum alten Eisen. Er genießt das Gefühl, von der Familie gebraucht zu werden. Deshalb hat er zur Zeit ein großes Ziel: Die Gehhilfe, die er noch benötigt, um das neue Hüftgelenk zu entlasten, will er so schnell wie möglich loswerden. „Stöcke sind was für Alte“, sagt er. ■

Kathryn Kortmann arbeitet als freie Wissenschaftsjournalistin in Berlin. Ihre Schwerpunkte sind der Mensch und seine Umwelt.

Kathryn Kortmann

COMMUNITY Fernsehen

In Kooperation mit bdw hat das TV-Wissenschaftsmagazin „nano“ einen Fernsehfilm über die „Jungen Alten“ produziert: Erstausstrahlung auf 3Sat ist am Donnerstag, 25. November, um 18.30 Uhr. Weitere Informationen unter: www.3sat.de/nano

LESEN

Ursula Lehr

PSYCHOLOGIE DES ALTERNS

Quelle & Meyer Wiebelsheim 2003, € 22,–

Martin Kohli, Harald Künemund (Hrsg.)

DIE ZWEITE LEBENSHÄLFTE

Gesellschaftliche Lage und Partizipation im Spiegel des Alters-Survey

Leske und Budrich Leverkusen 2000 (vergriffen)

INTERNET

Forschungsgruppe Altern und Lebenslauf (FALL): fall-berlin.de

Auskunft über die durchschnittliche Lebenserwartung aller Altersgruppen:

gerostat.prz.tu-berlin.de/maske.py? TABLE_=M_LE&RESTRICT=YES

KONTAKT

Deutsches Zentrum für Alternsforschung an der Universität Heidelberg

Bergheimer Str. 20 69115 Heidelberg Tel. 06221 | 54 81 01

www.dzfa.uni-heidelberg.de

Ohne Titel

• Wer gut vorbereitet ins Alter geht, hat heute alle Chancen, es zu genießen.

• Bessere Bildung und eine effizientere Medizin halten die jungen Alten fit.

• Der Rentner von heute ist nicht am Ende seines Lebens angelangt, sondern hat im Schnitt noch 20 Jahre vor sich.

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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