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Der Heiligen Kuh schaut niemand ins Maul

Gesellschaft|Psychologie

Der Heiligen Kuh schaut niemand ins Maul
Sprichwörter sind aus der Alltagssprache nicht wegzudenken. Sie kürzen Gedankengänge ab und bringen Sachverhalte schnell auf den Punkt. Oft werden sie kreativ verfremdet.

„Wer A sägt, muss auch B sägen“, verwirrt Prof. Jan Wirrer seine Leser. Der Sprachwissenschaftler an der Universität Bielefeld spürt dem Leben und Nachleben deutscher Sprichwörter nach. Was zunächst wie eine snobistische Beschäftigung anmutet, bekommt bei näherem Hinsehen tieferen Sinn. Denn Redensarten prägen die alltägliche Kommunikation mehr, als es auf den ersten Blick scheint – ja, sie sind unerlässlicher Teil unseres verbalen Miteinanders.

Jeder hat schon einmal den „Schein gewahrt“ oder die „Nase voll gehabt“ – zumindest sprachlich. „Unser Wortschatz ist voll von solchen Bildern, die wir beim Sprechen meist nur unbewusst einsetzen und über deren Herkunft wir oft wenig wissen“, erläutert Wirrer. Und, meint der Sprichwortdeuter weiter: „Sie betreffen alle Lebenslagen.“

Etwa im politischen Bereich: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Die prophetischen Worte des damaligen Sow-jet-Präsidenten Michail Gorbatschow zum 40. Geburtstag der DDR sind zum geflügelten Wort geworden. Die Redewendung – nach Erkenntnissen der Sprachforscher vermutlich eine Schöpfung des Übersetzers – ist inzwischen fester Bestandteil des Dudens. Solche Sprachbilder entwickeln oft schon nach kurzer Zeit ein Eigenleben – völlig unabhängig vom Ursprung: Bereits heute dürften viele Menschen nicht mehr wissen, dass das Leben-Strafe-Zitat von Michail Gorbatschow stammt. Dies spielt im alltäglichen Gebrauch auch keine Rolle, bilanzieren die Sprachforscher, im Gegenteil: Auch ein historisches Wort kann den eigenen Bedürfnissen und den aktuellen Gegebenheiten angepasst werden. „Wer zu spät kommt, den bestraft …“ kann jetzt beliebig fortgesetzt werden: „… der Wirt“, „… der Chef“, „… die Bank“ , „… die Ehefrau“.

Sprichwörter zeigen den Wandel des menschlichen Umfeldes und die Lebendigkeit der gesprochenen Sprache. Redewendungen wie „Dem ärgsten Zimmermann das stärkste Beil“ oder „Es gehört mehr zum Tanz als rote Schuh“ werden heute kaum noch verwendet, selbst Sprachforschern sind die ursprünglichen Bedeutungen solcher Sprüche häufig nicht mehr bekannt. Die beiden Beispiele stammen aus einer Schatztruhe deutscher Sprache, der Sprichwort-Sammlung des Germanisten und Schriftstellers Karl Simrock (1802 bis 1876) – und sie zeigen zugleich die zeitliche und gesellschaftliche Bedingtheit von Sprichwörtern. „Sprichwörter gehen im Wandel der Zeit häufig verloren“, weiß Sprachforscher Wirrer, weil sie keinen sozialen Anknüpfungspunkt mehr haben. Denn viele Redewendungen sind im bäuerlich geprägten 19. Jahrhundert entstanden.

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Dagegen ist die Nummer 5194 der Simrock-Sammlung zeitlos: „Das Jahr hindurch kann viel Wasser den Berg hinunter laufen.“ Auch der Spruch „Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul“ blieb erhalten, obwohl er keinen modernen Bezug hat. Das Sprichwort stammt vom Viehmarkt, wo der Wert eines Pferdes anhand seines Gebisses bemessen wurde – dazu musste der Käufer dem Gaul ins Maul schauen. Eine derartige Wertmessung wäre bei einem Geschenk sicher – auch heute – unangemessen.

Ulrike Preußer fasst zusammen: „Ein Sprichwort basiert auf Volkswissen und gibt die Erfahrungen einer Gesellschaft bezüglich einer Verhaltensweise wieder.“ Die Bielefelder Sprachwissenschaftlerin ist den „Phraseologismen“ (Sprichwörtern) in ihrer Examensarbeit nachgegangen. Ereignisse oder Handlungen werden, so die Forscherin, mit Floskeln umschrieben und zur Erleichterung des Alltagslebens in die Skala gesellschaftlicher Wertvorstellungen eingeordnet:

• Sprüche wie „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen“ oder „Wer rastet, der rostet“ sind gesellschaftliche Maximen für die Lebensführung.

• Was sich zunächst harmlos anhört wie „Es gibt nichts Gutes – außer man tut es“, kann in seiner auffordernden Wirkung subtil und belehrend sein: Man soll „das Gute tun“ – und nicht nur davon reden.

• Politische oder Liebes-Affären werden verbal gern „unter den Teppich gekehrt“ – damit man das unangenehme Thema nicht so genau betrachten muss. Oder jemandem „steht das Wasser bis zum Hals“ wegen seiner vielen Schulden.

„Diese in einem lockeren Sprachstil gehaltenen Sätze fassen eine komplexe Situation pointiert zusammen“, erläutert Preußer. Ohne die Hintergründe genau zu kennen oder zu beschreiben, kann ein Ereignis dadurch im Kern erfasst werden – als peinlich empfundene Details müssen nicht explizit ausgedrückt werden.

Sprichwörter können auch dazu dienen, einen Konflikt zu entschärfen und damit zu meistern: Wenn zwei Menschen über einen Dritten reden und dieser taucht plötzlich auf, nimmt die Bemerkung: „So ist das: Wenn man vom Teufel spricht, dann kommt er“ die Spannung aus der Situation.

Redewendungen haben häufig ähnliche Muster, weiß Wirrer – mit einer Sprachschablone kann man das Sprichwort verfremden oder witzig weiterentwickeln: „Wo ein X, da ist auch ein Y“. Daraus wird im Sprachgebrauch: „Wo ein Wille ist, da ist auch Weg“. Und im nächsten Schritt: „Wo ein Wille ist, da ist auch ein Gebüsch“ .

Ähnliches gilt für die Verwendung von Sprachsymbolen in den Medien und der Werbung. Wenn ein Redakteur seinen Kommentar über die Trennung von Amt und Mandat bei den Grünen mit dem Satz beginnt: „Jetzt haben die Grünen die Heilige Kuh also doch geschlachtet“, weiß der Leser, was gemeint ist. „Der Gebrauch von Sprichwörtern bei Zeitungen hat eine entlastende Funktion für den Schreiber“, konstatiert Wirrer. „Er muss nicht neue formulieren und kann den Sachverhalt kurz zusammenfassen.“ Auch für den Zeitungsnutzer ist es leichter, denn er weiß ohne ausgiebige Erklärungen sofort, was der Kommentator meint. Dabei wird als Allgemeinwissen nur vorausgesetzt, dass in Indien die als heilig geltenden Kühe nicht geschlachtet werden dürfen.

Die „Generation @“ – also die Internet-Surfer und E-Mail-Schreiber – verwendet vor allem englischsprachige Redewendungen, wie der Sprachwissenschaftler Arne Ziegler von der Universität Münster beobachtet hat. Floskeln wie „for your information“, „by the way“ oder „have a nice day“ gehören zum Standard-Vokabular der E-Mail-Kommunikation. Diese „ konzeptionelle Mündlichkeit“, so Ziegler, soll in der durch den Computer technisierten Kommunikation ein gewisses Maß an Nähe und Vertrautheit zwischen den virtuellen Gesprächspartnern herstellen.

Auch bei der Beschreibung von Tieren sind Redewendungen tief verwurzelt. In ihrem Buch „Warum die Hündin die Hosen an und Mutter Luchs alle Pfoten voll zu tun hat“ kommt Ulrike Preußer zu dem Fazit: Nicht nur private Tierliebhaber beschreiben ihre Gefährten mit Begriffen aus dem menschlichen Verhalten, sondern ganze Wissenschaftsbereiche – vor allem die Schimpansenforschung – vermenschlichen ihr Untersuchungsobjekt. Die berühmte Jane Goodall zum Beispiel verwendete für die Beschreibung ihrer Affen vorwiegend Formulierungen wie „seinen eigenen Kopf haben“, „etwas zur Schau stellen“ oder auch „die Nerven verlieren“.

By the way, lieber Leser, hoffentlich hat Sie das Leben noch nie bestraft, weil Sie fünf Minuten zu spät gekommen sind, um die Kuh vom Eis zu holen … ■

Antje Schmid lebt als freie Wissenschaftsjournalistin in Stuttgart. Die Ethnologin schreibt vor allem über soziologische und soziale Themen.

Antje Schmid

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