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LASST SIE MENSCHEN SEIN!

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LASST SIE MENSCHEN SEIN!
In Körperbau und Verhalten sind Schimpansen und Bonobos den Menschen dermaßen ähnlich, dass sie in unsere Gattung „Homo” gehören.

Bald werden Schimpansen und Bonobos der Gattung der Menschen zugeordnet. Es dürfte nachdenklich stimmen, wenn dann auf Schildern in Zoos und Versuchslabors „Homo troglodytes” und „Homo paniscus” geschrieben steht. So jedenfalls wird es sein, wenn es nach mir geht – und einer wachsenden Zahl von Zoologen, Evolutionsbiologen und Genetikern. Denn „Pan” von „Homo” zu unterscheiden wie bisher, hat weniger mit Naturwissenschaft zu tun als mit Religion – und dem Dogma, dass Menschen klar von Tieren zu unterscheiden sind.

Religiös motiviert war auch Carolus Linnaeus, als er mit seinem Werk „Systema Naturae” von 1735 die biologische Systematik begründete. Der schwedische Biologe, nach der Erhebung in den Adelsstand als Carl von Linné bekannt, glaubte, ein Schöpfer habe die abgestufte Ähnlichkeit der Lebensformen wundersam hervorgebracht – und sie zu systematisieren hieß, die Gedanken Gottes zu lesen. Über Affen war nicht viel bekannt. Reiseberichte über fremde Völker und behaarte Fabelwesen hatten sich zu einem grotesken Gewirr von zoologischer Information und Legenden verknotet. So brachte Linné ab der 10. Auflage von 1758 erstmals halbwegs Ordnung in das Chaos fantastischer Affengeschichten, indem er die zoologische Ordnung „Primates” einführte. Sie umfasste zunächst die Gattungen „Homo” (Mensch), „Simia” (Affen), „Lemur” (Halbaffen) und „Vespertilio” (Fledermäuse). Zu Homo stellte Linné „Homo sapiens”, den Menschen, samt einigen geographischen und legendenhaften Varianten. Die noch weitgehend unbekannten Menschenaffen wurden unter Namen wie „Simia satyrus” und später als „Simia troglodytes” geführt.

Alle Tiergruppen waren über zumindest ein spezifisches anatomisches Merkmal definiert. Hinsichtlich Homo konnte Linné allerdings keinen solchen grundsätzlichen Unterschied zu den Nachbargruppen seines Systema Naturae ausmachen – den Halbaffen und Affen. Deshalb stellte er der von ihm kreierten Gattung Homo die Formel „Nosce te ipsum! – Erkenne dich selbst!” zur Seite. Denn der Graben zwischen Menschen und Tieren manifestierte sich für Linné nicht über den Körperbau, sondern den Geist – etwa die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis, die allein den Menschen „weise” macht, eben zum Homo sapiens.

Gleichwohl galt Linnés Systematik vielen Zeitgenossen als skandalös, war doch der Abstand zwischen Mensch und Tier bedenklich geschrumpft. Schließlich konstatierte die Bibel, allein der Mensch sei nach Gottes Ebenbild geschaffen. Sollten, weil gebührender Abstand fehlte, nun etwa auch die Affen gottähnlich sein? Statt nach Gemeinsamkeiten wurde deshalb eifrig nach „Humana” gesucht, nach Merkmalen, die unsere Einzigartigkeit belegen sollten. Der Göttinger Anthropologe Johann Friedrich Blumenbach etwa führte um 1779 für Menschen wieder eine eigene Ordnung ein – „Bimana” (Zweihänder), im Unterschied zu den äffischen „Quadrumana” (Vierhändern). Während der deutsche Zoologe Karl Illiger den Namen „Erecta” (Aufrechte) schuf und der englische Urzeitforscher Richard Owen die „Archencephala” (überlegene Gehirne).

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Die Begriffe waren allesamt kurzlebig. Genauere Forschung förderte stattdessen mehr und mehr Gemeinsames in Körperbau und Verhalten von Menschen und nichtmenschlichen Primaten zutage. Der vermeintliche Angriff auf die Würde des Menschen erfuhr eine heftige Steigerung in den Werken Charles Darwins, denn der englische Naturforscher behauptete, die Vielfalt der Organismen sei nicht Werk eines Schöpfers, sondern habe sich allmählich aus Urformen entwickelt. Dank Darwin wissen wir nun, warum wir anderen Affen so nahe stehen: Wir teilen deren Stammesgeschichte über weite Strecken.

Doch selbst jene, die das Faktum der Evolution anerkennen, versuchen nur allzu oft, unsere nächsten Verwandten auf Distanz zu halten – was die windungsreiche Namensgebung der Menschenaffen illustriert. Konsens besteht heute zumindest darüber, dass die Ordnung der Primaten eine Gruppe einschließt, deren Mitglieder – im Unterschied zu „echten” Affen – keinen Schwanz haben. Diese sogenannten Menschenähnlichen (lateinisch „Hominoidea”) umfassen Kleine Menschenaffen (Gibbons), Große Menschenaffen (Orang-Utans, Gorillas, Schimpansen, Bonobos) und Menschen.

Doch die familiäre Unterscheidung zwischen Menschenaffen und Menschen ist irreführend. Denn sie nährt die Vorstellung, dass die Großen Menschenaffen (Schimpansen, Bonobos, Gorillas, Orang-Utans) untereinander enger verwandt sind als mit uns Menschen. Diese Vorstellung ist aber seit Jahrzehnten widerlegt: Der nächste Verwandte der Schimpansen und Bonobos ist nicht der Gorilla, sondern der Mensch! Innerhalb der Menschenähnlichen sind – bildlich ausgedrückt – Menschen, Schimpansen und Bonobos Geschwister, Gorillas ihre gemeinsamen Cousins, Orang-Utans etwas weiter entfernte Großcousins.

Genetischen Untersuchungen zufolge trennten sich die Stammlinien von Orang-Utans und Menschen vor etwa elf Millionen Jahren, während die Gorillas vor sechs Millionen Jahren ihre eigene Entwicklung einschlugen. Die heutige Gattung Homo (zu der wir Menschen zählen) und die Gattung Pan (mit Schimpansen und Bonobos) hatten weiterhin einen gemeinsamen Vorfahren, und ihre Linien begannen sich erst vor etwa 5 Millionen Jahren zu trennen. Die Stammbäume von Schimpansen und Bonobos spalteten sich noch einmal vor etwa 1,5 Millionen Jahren auf. Auf verschiedene Formen von Urmenschen folgte schließlich vor etwa 200 000 Jahren der moderne Mensch – Homo sapiens. Dabei kreuzten sich die Linien der Vorfahren heutiger Schimpansen und Menschen noch über Millionen Jahre hinweg ziemlich regelmäßig. Vielleicht waren die Gruppen auch nie komplett getrennt. Einiges spricht dafür, dass sie sich bis heute miteinander fortpflanzen könnten.

Schimpansen und Bonobos stehen uns also ohne Zweifel genetisch sehr nahe. Doch kompliziert sich die Aussage, weil jene Prozentzahlen, die Ähnlichkeit und Differenz ausdrücken sollen, auf sehr unterschiedliche Weise ermittelt und gedeutet werden. Die systematische Einteilung der Lebewesen wurde vor etwa 30 Jahren durch die Technik der DNA-Hybridisierung revolutioniert. Dabei wird die Stabilität einer DNA-Doppelhelix ermittelt, die zuvor durch Stränge zweier verschiedener Arten gebildet wurde. Zwischen Mensch und Schimpanse beträgt die so gemessene genetische Übereinstimmung beispielsweise 97,6 Prozent. Allerdings gibt es Teile im Genom, die sich nicht hybridisieren lassen – womit die Differenz zwischen Schimpanse und Mensch auf vielleicht drei bis vier Prozent anwachsen würde. Andererseits betreffen zahlreiche Unterschiede im Erbgut jene riesigen „ stummen” Abschnitte der DNA, die gar keine Eiweiße kodieren – die sogenannte „junk DNA” (Schrott-DNA). Diese Mutationen sollten bei den Kalkulationen vielleicht nicht berücksichtigt werden. Zudem mutiert die DNA nicht nur in einzelnen Positionen, sondern auch, wenn ganze Abschnitte des Riesenmoleküls verloren gehen (Verlustmutation) oder als Kopien anderswo ins Genom eingebaut werden (Gen-Duplikation). Wenn ein solches Bruchstück 1000 jener „ Buchstaben” enthält, aus denen die DNA aufgebaut ist, zählen manche Wissenschaftler hier 1000 Unterschiede, während andere die Mutation als ein einziges Ereignis werten.

Der genetische Unterschied ist also je nach Zählweise größer oder kleiner. Die publizierten Werte schwanken entsprechend um den Faktor 10, nämlich zwischen 6,4 und 0,6 Prozent. Am häufigsten wird ein Wert um 1,5 Prozent genannt, in dem sich Schimpansen von Menschen unterscheiden – während übrigens durchschnittlich 2 bis 4 Prozent zwischen einem Menschenmann und einer Menschenfrau liegen!

Die evolutionäre Genetik, so atemberaubend ihre Entdeckungen sind, steht immer noch ziemlich am Anfang. Aufgrund dieser Einschränkungen halten manche Wissenschaftler genetische Ähnlichkeit für ein ungeeignetes Maß der Verwandtschaft, weil es Divergenzen in Körperbau und Verhalten zwischen Menschen und Menschenaffen nicht im richtigen Verhältnis widerspiegelt. Andere Forscher finden, dass die geringen genetischen Differenzen die Unzuverlässigkeit unserer Wahrnehmung offensichtlich machen – ganz ähnlich wie das „Oberflächenmerkmal” Hautfarbe uns oft dazu verleitet, Unterschiede zwischen Menschengruppen gravierender einzuschätzen, als sie sind.

Wenn es um Kriterien für eine klare Einteilung geht, schaffen Molekularbiologie und Genomik also paradoxerweise mehr Probleme, als sie lösen. Das ist wie bei einem Vergrößerungsglas: Je besser es auflöst, desto mehr Unterschiede werden sichtbar. Es ist aber noch immer weithin in das Ermessen der jeweiligen Wissenschaftler gestellt, welche dieser „innerartlichen” Variationen sie als so essenziell ansehen, dass eine eigene Kategorie gerechtfertigt ist.

Was hat das alles mit der Frage zu tun, ob Schimpansen und Bonobos in Homo umbenannt werden sollten? Ganz einfach: Auch der letzte gemeinsame Vorfahr von Zebras und Pferden lebte vor 4 bis 6 Millionen Jahren, das Erbgut dieser Huftiere differiert um etwa 1,5 Prozent – und sie gehören zu derselben Gattung: „Equus”. Ähnlich verhält es sich mit Tigern und Löwen, die zur Gattung „ Panthera” zählen. Und differierte das Erbgut zweier Käfer um dieselben Bruchteile wie das zwischen Pan und Homo, dann würden sie gewiss nicht alternativen Gattungen zugeschlagen! Somit ist es keine seltsame, sondern eine rationale Forderung, Menschen mit Schimpansen und Bonobos in derselben Gattung zu vereinen.

Man könnte nun tun, was Linné tat, und den Unterschied in den „ geistigen” Fähigkeiten zwischen Menschenaffen und Menschen zum Kriterium einer Gattungsunterscheidung machen. Doch auch diese Position ist unhaltbar, wie die enormen Fortschritte der Primatologie in den letzten 50 Jahren wieder und wieder illustrierten. Denn kaum war ein Merkmal definiert, das die „ Sonderstellung” des Menschen begründen sollte, so fand sich bereits ein Affe, der sich nicht darum scherte – ob es sich nun um Werkzeugherstellung handelte, Zukunftsplanung, Zahlenverständnis, das Sich-Erkennen im Spiegel, Selbstmedikation, sprachliches Kommunizieren, politisches Agieren oder Empathie.

Somit liegt der Fall ganz klar: Schimpansen sollten in Homo troglodytes umbenannt werden und Bonobos in Homo paniscus. Diese Klassifikation ist wissenschaftlich die einzig haltbare. Sie dürfte auch psychologische Wirkungen entfalten – indem sie unserer Überheblichkeit Wind aus den Segeln nimmt und uns dazu motiviert, gegenüber unseren nächsten Verwandten den Respekt zu zeigen, der ihnen zukommt. Deshalb fordert etwa das von den Philosophen Paola Cavalieri und Peter Singer initiierte „Great Ape Project”, einige für Menschen reservierte Privilegien auf Menschenaffen auszudehnen – darunter das Recht auf Leben und Freiheit sowie ein Verbot von Folter. Augenmaß ist dabei gewahrt, denn weder wird ein Recht auf Bildung für Bonobos gefordert noch Wahlrecht für Gorillas, Datenschutz für Schimpansen oder ein Mindestalter für Sex unter Orang-Utans. Es geht schlicht und einfach darum, einen weiteren „Ismus” zu bekämpfen. So, wie wir heute Nationalismus, Rassismus und Sexismus als antiquierte Weltanschauungen ansehen, werden sich zukünftige Generationen wohl fragen, warum wir so lange dem „Speziesismus” aufsaßen.

Eine engagierte Diskussion hinsichtlich einer Erweiterung der Gattung Homo ist jedenfalls bereits im Gange. Da die Gattung Pan erst um 1816 von dem deutschen Naturforscher Lorenz Oken eingeführt wurde, hat der ältere Name Vorrang. Ansonsten könnten wir auch in die Situation geraten, uns selbst umbenennen zu müssen – in Pan sapiens: „weise Schimpansen”. ■

Volker Sommer

Ohne Titel

Volker Sommer

ist Professor für Evolutionäre Anthropologie am University College London (UCL). Er erforscht wild lebende Primaten in Asien und Afrika und berät die International Union for Conservation of Nature als Menschenaffen-Experte. Als wissenschaftlicher Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung setzt Volker Sommer sich für einen evolutionären Humanismus ein. Öffentlich bekannt ist der engagierte Naturschützer durch Radio, Fernsehen und Bücher. Das Foto oben zeigt den Schimpansen Max (1974 bis 2009) aus dem Zoo Heidelberg.

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