Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

GEHT GOOGELN AUFS GEHIRN?

Gesellschaft|Psychologie Technik|Digitales

GEHT GOOGELN AUFS GEHIRN?
Einige Studien scheinen zu belegen: Die Häppchenkultur im Internet verdirbt die Lesefähigkeit und verändert sogar das Denken.

Bunte Fenster flackern auf dem Bildschirm: Der Posteingang blinkt, der Kollege meldet im Chat, dass er dringend eine Auskunft braucht, der Terminkalender erinnert mit einem „Pling“ an das nächste Meeting, auf der Internetseite ist ein Werbevideo aufgepoppt. Es erfordert Willenskraft, diese Reize zu ignorieren und sich auf die eigentliche Arbeit zu konzentrieren. Leichter ist es, im 30-Sekunden-Takt zwischen den Anforderungen hin- und herzuspringen und Infohäppchen statt durchdachter Antworten zu produzieren.

Die Überlastung durch das Informationsgewitter, vor allem im Internet, hat der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher bereits 2009 in seinem Buch „Payback“ angeprangert. Der amerikanische Autor Nicolas Carr hat mit „Wer bin ich, wenn ich online bin … und was macht mein Gehirn solange?“ nachgelegt. Im Englischen heißt sein Buch „The shallows“ („Seichtgebiete“). Darin führt Carr zahlreiche Studien an, die belegen sollen, dass Menschen online Informationen nur noch oberflächlich verarbeiten und dabei immer „ dümmer“ werden. Erping Zhu von der University of Michigan in Ann Arbor habe schon 1999 gezeigt, dass Menschen Verständnisfragen zu einem Thema schlechter beantworten konnten, wenn im Text durch Hyperlinks auf weitere Informationen verwiesen wurde.

Zudem lenken Bilder und Filmsequenzen vom eigentlichen Inhalt ab, belegte eine Studie von Steven Rockwell an der University of South Alabama mit rund 100 Testpersonen. Sie sollten sich Informationen über das Land Mali entweder durch einfache Texte ohne Hyperlinks auf dem Bildschirm oder mithilfe eines hypermedialen Angebots erarbeiten. Die „Nur-Text“-Gruppe konnte anschließend sieben von zehn Fragen richtig beantworten, bei der Hypermedia-Gruppe waren es nur knapp sechs. Die zweite Gruppe gab außerdem häufiger an, eigentlich nichts aus dem Angebot gelernt zu haben.

ZEITGEISTIG, ABER EINSEITIG

Sind diese Studien Beweis genug für eine Volksverdummung durch das Internet? Der Kognitionspsychologe Peter Gerjets bewertet die Forschungslage differenzierter und kritisiert das Vorgehen des Buchautors: „Carr pickt sich Studien heraus, die seine These belegen und interpretiert sie einseitig.“ Damit gebe er dem Zeitgeist zwar eine Stimme, übersehe aber, dass viele Studien keineswegs so klar zu deuten seien, betont der Leiter der Arbeitsgruppe „Hypermedia“ am Institut für Wissensmedien (IWM) der Universität Tübingen. Dort untersuchen er und seine Kollegin Katharina Scheiter, wie Menschen in Hypermedien wie Lern-CDs oder Internet Informationen suchen und zu Wissen verarbeiten. Eine Schwierigkeit: „Die meisten kognitionspsychologischen Experimente zu Informationsverarbeitung, Multitasking und Lernerfolgen in Hypermedien finden unter eingeschränkten Bedingungen statt, damit sie überhaupt aussagekräftig sind. Das erschwert die Übertragung der Ergebnisse auf das reale Leben.“

Anzeige

Eine Langzeitstudie der Stiftung Lesen belegt allerdings, dass sich die Lesegewohnheiten der Deutschen in den vergangenen 20 Jahren verändert haben. Der Anteil der Bücherfreunde, die mehr als 50 Bücher im Jahr lesen, ist mit gut drei Prozent fast stabil geblieben. „Aber die Lese-Mittelschicht hat sich reduziert“, sagt Timo Reuter von der Stiftung Lesen. Auch das Häppchenlesen nimmt zu: Viele berichteten bei der letzten Befragung 2008, dass sie Bücher nicht mehr von vorne bis hinten, sondern quer lesen. Gleichzeitig hat die Nutzung des Internets enorm zugenommen, auch in der Freizeit. Nur noch im Urlaub oder am Wochenende könnten sie sich in ein Buch vertiefen, sagte jeder fünfte Befragte. Immerhin haben Bestseller wie die Harry-Potter-Reihe in den letzten Jahren viele Jugendliche wieder zum Lesen gebracht. „Es muss nicht immer das anspruchsvollste Buch sein. Hauptsache, es wird überhaupt gelesen. Denn das ist auch im Web eine Schlüsselkompetenz“, sagt Reuter.

Die EVolution der Ablenkung

Dass wir uns beim Lesen am Bildschirm durch das bunte Geflacker schnell ablenken lassen, hat seine Gründe in der evolutionären Vergangenheit des Menschen, meint der Psychologe Karl Gegenfurtner vom Zentrum für Medien und Interaktivität der Universität Gießen. „Das Sehsystem ist darauf eingestellt, auf Veränderungen an der Peripherie des Gesichtsfelds schnell zu reagieren, da diese oftmals Bedrohungen darstellten. Wir können sozusagen nicht anders, als unseren Blick darauf zu richten“, erklärt der Psychologe. Das kostet Aufmerksamkeit und zehrt an den Ressourcen des Gehirns. Denn die Zahl der Informationen, die man gleichzeitig bewusst verarbeiten kann, ist begrenzt.

Etwa sieben Informationen kann man im Arbeitsgedächtnis behalten, zeigte der Psychologe John Miller schon in den 1950er-Jahren. Eine „Exekutiveinheit“ übernimmt dabei die Funktion, die Informationen zwischen Arbeitsgedächtnis und Langzeitgedächtnis zu verschieben. Vorwissen, das im Langzeitgedächtnis abgelegt ist, kann das Arbeitsgedächtnis entlasten, da es ermöglicht, mehrere Informationseinheiten unter einem Begriff zusammenzufassen. Das Arbeitsgedächtnis ist also eine Art Flaschenhals für die bewusste Informationsverarbeitung. Die Ablenkungen, denen man im Internet ausgesetzt ist, erhöhen die irrelevante kognitive Belastung, sodass der Flaschenhals schon damit fast gefüllt ist und kaum noch Raum für die Verarbeitung der relevanten Inhalte bleibt, meint der australische Psychologe John Sweller.

Dass sich die Hirnaktivität bei der Textlektüre von derjenigen beim Suchen im Internet unterscheidet, hat Gary Small von der University of California in Los Angeles 2009 herausgefunden. Der Neurowissenschaftler ließ 24 Versuchspersonen zwischen 55 und 76 Jahren auf einem Bildschirm einfache Texte lesen und im Internet recherchieren. Eine Hälfte der Probanden waren erfahrene, die andere unerfahrene Internet-Nutzer. Die Hirnaktivitäten zeichnete Small mithilfe funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) auf.

Beim Lesen des Textes waren bestimmte Regionen bei allen Teilnehmern aktiviert: Sie lagen in den sprachverarbeitenden Broca-Arealen, im für Gedächtnisprozesse zuständigen Hippocampus sowie im visuellen Kortex. Beim Suchen im Web unterschieden sich die Gruppen jedoch stark: Während die Hirnaktivität der Internet-Novizen dem Muster beim Lesen ähnelte, war bei Internet-Profis das Aktivierungsmuster ausgedehnt (Bilder auf Seite 83). Es erstreckte sich auch über den präfrontalen Kortex, der mit Entscheidungsfindung und Problemlösung verbunden ist.

Nicolas Carr interpretiert das Ergebnis als Überforderung: Die erfahrenen Nutzer befassen sich zusätzlich zum Inhalt des Textes mit Entscheidungen, die die begrenzten Ressourcen für das Lernen schmälern. Gary Small wertet sein Ergebnis dagegen als positives Signal: Die komplexen Anforderungen des Internet könnten älteren Menschen helfen, geistig fit zu bleiben. Denn: Nach einer Woche mit täglich einer Stunde im Internet hatten auch die Neulinge verinnerlicht, dass sie Informationen im Internet auswählen und bewerten können, und zeigten ebenso ausgedehnte Aktivierungsmuster wie die erfahreneren Testpersonen. „Beim Lesen auch Entscheidungen zu treffen, muss nicht schlecht und oberflächlich sein. Diese Prozesse können die Verknüpfung mit Vorwissen im Langzeitgedächtnis sogar fördern“, meint Smalls Kollege Gerjets.

Lernen Dank Matthäus-effekt

Doch das gilt offenbar nur, wenn genügend Vorwissen vorhanden ist. „Menschen mit geringem Vorwissen finden es oft schwierig, bei einem reichhaltigen Angebot Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Sie lernen mehr, wenn sie sich den Inhalt auf vordefinierten Pfaden erarbeiten“, erklärt Gerjets. Menschen mit gutem Vorwissen gewinnen dagegen durch vielfältige Angebote. Die Kognitionsforscher sprechen vom „Matthäus-Effekt“, frei nach dem Ausspruch des Evangelisten: „Wer hat, dem wird gegeben.“

Ebenso hilfreich wie das Vorwissen sind zwei weitere Eigenschaften, die den Internet-Nutzer schlauer machen: metakognitive Fähigkeiten und epistemologische Überzeugungen, wie die Fachleute sagen. Metakognition ist die Fähigkeit, über das eigene Wissen und Denken zu reflektieren. Damit lässt sich der eigene Wissenserwerb besser steuern. „Die metakognitiven Kompetenzen lassen sich gezielt fördern“, sagt Gerjets. Schon ein guter Vorsatz könne den Lernerfolg steigern: Man nimmt sich etwa vor, Bilder und Grafiken erst nach dem Lesen eines Abschnitts genau zu betrachten. Epistemologische Überzeugungen beziehen sich auf die Einstellung zum Wissen generell, also: Hält ein Nutzer alle Informationen im Internet für richtig? Und wie geht er mit unsicherem Wissen um?

Unerfahrenen Nutzern ist oft nicht bewusst, dass sie in den Ergebnislisten von Suchmaschinen selbst eine Auswahl treffen müssen. „Viele Nutzer nehmen bei Google einfach die ersten drei Treffer“, sagt Gerjets. Wer mit dieser Haltung nach Informationen sucht, gerät leicht auf bunte Werbeseiten oder meinungsstarke Foren und bleibt unvollständig informiert. Gemeinsam mit Yvonne Kammerer und Benita Werner testete Gerjets, wie unerfahrene Nutzer an Suchaufgaben herangehen: Sie baten Testpersonen, für einen übergewichtigen Freund im Internet nach Informationen über zwei unterschiedliche Diäten zu suchen. Die eine Hälfte der Teilnehmer wurde zudem dazu aufgefordert, während der Suche zu erläutern, warum sie bestimmte Seiten auswählten. Allein das führte dazu, dass sie wesentlich gründlicher nach seriösen Seiten suchten als die andere Gruppe – und bessere Ergebnisse erzielten.

DAs AUSGELAGERTE GEDächtnis

Viele Menschen nutzen das Internet offenbar bereits als externes Gedächtnis. Das belegte die Psychologin Betsy Sparrow von der Columbia University in New York. Sie konfrontierte rund 100 Harvard-Studenten mit einer Liste aus skurrilen Fragen, etwa: Ist beim Vogel Strauß das Auge oder das Gehirn größer? Solche Fragen lösten bei den Probanden sofort Gedanken an Suchmaschinen wie Google aus. In einem weiteren Test stellte sie fest: Studenten, die eine Liste von Fakten in einen Rechner tippten, konnten sich diese besser merken, wenn ihnen gesagt wurde, dass der Rechner sie nicht speichere. Die Studenten, die gesagt bekamen, im Computer sei alles gesichert, merkten sich stattdessen die Ordner, in denen die Fakten abgelegt worden waren.

Menschen mit guten Lesestrategien und metakognitiver Kompetenz nutzen das Internet auf ähnliche Art und Weise, wie Gelehrte es mit den Stapeln aus Büchern und Papieren auf ihren Schreibtischen tun: Sie suchen, bewerten und kombinieren die Informationen und schaffen daraus neues Wissen. Damit praktizieren sie etwas, das in der Textforschung bereits als „Expertenlesen“ bekannt ist. Und das ist heute einfacher als je zuvor. Das Internet macht die Menschen demnach nicht dümmer – es bringt schließlich das Wissen der Welt auf unsere Bildschirme. Doch es verführt zum oberflächlichen Surfen. Wie man damit umgeht, liegt bei jedem selbst. ■

ANTONIA RÖTGER lässt sich im Internet gerne mal ablenken – denn dadurch hat sie schon wundervolle Seiten entdeckt.

von Antonia Rötger

KOMPAKT

· Die Ablenkungen durch Bilder und Filmsequenzen im Internet erschweren das Lernen.

· Parallel dazu, dass immer mehr Menschen online sind, werden Bücher häufig nur noch quer gelesen.

· Die komplexen Anforderungen im Internet können älteren Menschen helfen, geistig fit zu bleiben.

MEHR ZUM THEMA

LESEN

Nicolas Carr WER BIN ICH, WENN ICH ONLINE BIN … und was macht mein Gehirn solange? Wie das Internet unser Denken verändert Blessing, München 2010, € 19,95

Frank Schirrmacher PAYBACK Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen Pantheon, München 2011, € 12,99

John Brockman (Hrsg.) WIE HAT DAS INTERNET IHR DENKEN VERÄNDERT? Die führenden Köpfe unserer Zeit über das digitale Dasein Fischer Taschenbuch, Frankfurt 2011 € 10,99

INTERNET

Studie zum Leseverhalten in Deutschland: www.stiftunglesen.de/ lesen-in-deutschland-2008

JIM-Studie zum Umgang mit Medien bei 12- bis 19-Jährigen in Deutschland 2010: www.mpfs.de/index.php?id=181

FERNSEHER SCHLÄGT COMPUTER

Eine Befragung von 6- bis 13-Jährigen zeigte: Der Fernseher ist für über die Hälfte das wichtigste Medium. Während Jungen vor allem nicht ohne Computer leben wollen (30 Prozent), mögen Mädchen Bücher lieber (11 Prozent).

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Ex|zi|si|on  〈f. 20; Med.〉 das Herausschneiden, operative Entfernung (von Gewebe, Geschwülsten) [→ exzidieren … mehr

Hyph|en  auch:  Hy|phen  〈n. 14; antike Gramm.〉 Bindestrich zw. den beiden Teilen eines zusammengesetzten Wortes … mehr

Reit|stock  〈m. 1u; Tech.〉 spitzer Metallzylinder, der das Werkstück in der Mitte einer Drehbank festhält

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige