Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Eberhart Zrenner Der Visionär

Gesundheit|Medizin Technik|Digitales

Eberhart Zrenner Der Visionär
Der Tübinger Augenarzt hat beharrlich einen Traum verfolgt: Blinden das Augenlicht wiederzugeben. Jetzt tragen die ersten Patienten dauerhaft seinen Seh-Chip. Ein Porträt.

Wie muss man sein, um Wunder möglich zu machen? Vielleicht wie Eberhart Zrenner. „Es hat mich frustriert, Patienten mit degenerativen Netzhauterkrankungen sagen zu müssen: Ich kann Ihnen nicht helfen“, sagt er. „Ich war es auch satt zu hören, eine technische Lösung werde es nie geben, das sei Spinnerei.“ Also ging er es an, der Professor, im Jahr 1995, mit einem kleinen Team aus Biologen, Physikern, Ingenieuren und Chirurgen: Gemeinsam entwickelten sie einen Chip, der in der Netzhaut die abgestorbenen Sehzellen ersetzt und den nachgeschalteten Nervenzellen Signale übermittelt, die das Hirn als Seheindrücke verarbeiten kann. Nach vielen Verzögerungen und Rückschlägen kann Zrenner heute, 16 Jahre später, sagen: Es geht! Es ist keine Spinnerei.

Anfang Mai berichtete der 65-Jährige auf der Jahrestagung der Association for Research in Vision and Ophthalmology in Fort Lauderdale, Florida, von ersten Ergebnissen aus der zweiten klinischen Studie des von ihm und seinen Mitstreitern 2003 gegründeten Unternehmens Retina Implant AG: Nach den elf Pionieren der ersten Studie, bei denen für die Stromversorgung noch ein dünnes Kabel durch die Haut geführt werden musste, tragen derzeit neun Menschen ein auf Dauer angelegtes kabelloses Implantat. Sie können damit geometrische Formen, aber auch normale Gegenstände wie Teller, Löffel, Messer oder ein Bierglas erkennen und gezielt greifen. Zrenner, Gründer und bis vor Kurzem Leiter des Forschungsinstituts für Augenheilkunde der Universität Tübingen, kündigte voller Optimismus an: „Im Verlauf unserer weiteren Forschung freuen wir uns darauf, Patienten, die derzeit im Dunkeln leben müssen, die Möglichkeit zu geben, nicht nur Licht und Bilder zu erkennen, sondern auch die Fähigkeit, Aufgaben des täglichen Lebens selbstständig auszuführen.“

Auch Miikka Terho freut sich. Darauf, dass er vielleicht bald wieder etwas sehen kann. Der Finne, der im Sportmanagement arbeitet, war einer der ersten Blinden, die versuchsweise den Zrennerschen Chip trugen: vom 19. November 2008 bis zum 19. Februar 2009, er weiß es noch genau. „Es hat gar nicht lange gedauert, bis ich etwas erkennen konnte“, erinnert sich Terho an seine Trainings-Einheiten in Tübingen, die jeweils über ein bis drei Stunden gingen. Tag für Tag wurde es mehr, und als er schließlich bewies, dass er lesen konnte – „Sie halten mich wohl für einen Formel-1-Fahrer“, kommentierte er die Buchstabenfolge „ Mika“, die seinen eigenen Vornamen Miikka fehlerhaft wiedergab –, brach das Labor in Jubel aus. „Das hat für die Wissenschaftler mehr bedeutet als für mich“, sagt der 47-Jährige. Für ihn war vielmehr der Tag entscheidend, als er bei einem Sehtest mit 2,1 Prozent Sehschärfe abschnitt – das ist erbärmlich schlechtes Sehen, gilt aber nicht mehr als Blindheit. „Ich war der erste Mensch der Welt, der durch einen Chip vom Blinden zum Sehenden geworden ist“, sagt Terho.

Eberhart Zrenner brachte 1995, als er mit seinem Entwickler-Team loslegte, viele gute Voraussetzungen mit: Er hatte sich in seiner bisherigen Karriere zwischen Medizin und Technik hin und her bewegt, hatte zwischen Forschung und Anwendung die Balance gehalten. „Erst habe ich an der Technischen Universität München vier Semester Elektrotechnik studiert“, erzählt er. „Ich wollte Ingenieur werden, mich mit Satelliten und Informationstechnik beschäftigen.“ Dann hörte er eine Vortragsreihe über Hirnforschung und erkannte: „Was das Gehirn macht, ist derart fantastische Informationsverarbeitung – das ist von keinem Computer zu überbieten.“ Zrenner, Spross einer bayerischen Ärztefamilie, wechselte in die Medizin. Nach den vorklinischen Studien in Erlangen zog es ihn zurück an die TU München, denn dort gab es mittlerweile einen Studiengang, in dem er Elektronik und Medizin kombinieren konnte.

Anzeige

Hier stieß er auf sein Lebensthema: das Auge. „Unser Gehirn beschäftigt sich zu 40 Prozent mit Seheindrücken. Das Auge ist somit das zentrale Tor zum Gehirn.“ In seiner Doktorarbeit studierte er sehr grundlegend die optische Auflösung im Frosch-Auge und wechselte dann ans Max-Planck-Institut für Klinische und Physiologische Forschung in Bad Nauheim. An dessen Außenstelle an der Universitäts-Augenklinik Frankfurt am Main forschte er ab 1973 erstmals an Patienten. Ein Aufenthalt in den USA eröffnete ihm die Möglichkeit, die Netzhaut von Affen zu untersuchen. Er habilitierte sich über das Farbensehen bei Primaten und verfasste über dieses Thema auch ein Buch.

„1981 war klar, dass ich Hochschullehrer werde“, sagt Zrenner. Sein Vater gab die Hoffnung auf, der Sohn werde einmal die Praxis für Allgemeinmedizin in Regensburg übernehmen. Aber die Forschung füllte nicht Zrenners ganzes Leben aus. Er hatte sich zum Notarzt ausbilden lassen und schob zehn Jahre lang Dienst für die Johanniter-Unfallhilfe. „Am Wochenende bin ich mit Blaulicht rumgesaust“, berichtet er. „Da kamen immer 40 bis 50 Fälle zusammen – Koliken, Unfälle, Todesfälle.“ Ein Mädchen, deren blonde Haare sich im Rübenkraut verfingen, als man sie aus dem Acker zog, wird er nicht vergessen: Sie hatte sich bei einem Autounfall den Nacken gebrochen. Die Notdienst-Tragödien, aber auch die Freude am Helfen hätten seine Forscherjahre in Frankfurt sehr geprägt, sagt Zrenner.

Er fragte sich, wie sein Leben weitergehen sollte. Und beschloss, den Pfad der reinen Wissenschaft zu verlassen und seine Facharzt-Ausbildung zum Ophthalmologen zu beenden. Mit 36 begann er an der Universitätsklinik München bescheiden wieder als ärztlicher „Azubi“. „Ich habe niemandem erzählt, dass ich schon habilitiert bin.“ Einige Jahre später konnte er auch hier wie in Frankfurt Forschung und Praxis kombinieren: als Professor und als Leiter einer Arbeitsgruppe der Max-Planck-Gesellschaft an der Münchner Universitäts-Augenklinik.

Seit 1989 wirkt Zrenner in Tübingen. Er wird hier Spuren hinterlassen, nicht nur als Wissenschaftler und Lehrstuhlinhaber. In den 16 Jahren, während der er die Universitäts-Augenklinik leitete, hat er sie umgeformt: Zusammen mit seinem Direktoren-Kollegen Ulrich Bartz-Schmidt baute er sie aus zu einem Zentrum für Ophthalmologie, in dem sich Forschung und Klinik eng verzahnen. „Das ist genau das Modell, das die Deutsche Forschungsgemeinschaft empfiehlt“, sagt er stolz. „Es wird nur zu selten umgesetzt.“

Eine Wand in Zrenners Büro ist völlig mit Bauplänen bedeckt: Der Direktor a.D. kümmert sich gerade um einen Neubau, der das Ineinandergreifen von Forschung, Lehre und Krankenbetreuung auch in seiner komplexen Architektur sichtbar machen wird. „Bausumme 48 Millionen Euro, sieben Vollprofessuren, mehrere EU-Projekte“ nennt Zrenner als Eckdaten des neuen Zentrums, das spätestens 2014 eröffnet werden soll. Schon jetzt gibt es zahlreiche Arbeitsgruppen: Sie beschäftigen sich mit der Genetik des Sehens, mit der Neurobiologie des Auges, der Informationsverarbeitung in der Netzhaut, mit chirurgischen Methoden, Farbensehen, Elektrophysiologie und Gentherapie. Das bekannteste Projekt ist natürlich der Seh-Chip. Er hat Zrenner weltberühmt gemacht. Aber auch glücklich: „Es hat mir von Anfang an so viel Spaß gemacht, daran zu arbeiten“, schwärmt er. „Alle meine Interessen sind zusammengeflossen in diesem Chip.“

Geboren wurde die Idee 1995. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung lud rund 60 Experten ein: Was gibt es an Ansätzen für das künstliche Sehen?, lautete die Frage. „Ich vertrat den biologischen Ansatz“, sagt Zrenner. „Ich kannte ja die Netzhautphysiologie sehr genau.“ Im Gegensatz zu seinem Kollegen aus Bonn, der den Chip außen auf die Netzhaut aufsetzen und mit einem elektronisch verarbeiteten Kamera-Bild speisen wollte („ Epi-Ret“), beabsichtigte der Tübinger, den Chip unter die Nervenzellschicht zu schieben („Sub-Ret“), um deren Leistungen zu nutzen. Denn bei degenerativen Netzhauterkrankungen sind ja nur die Sinneszellen zerstört. Der lichtempfindliche Chip mit seinen 1500 Photodioden, Verstärkern und Elektroden kann sie ersetzen, wenn auch unvollkommen. Die nachgeschalteten Nervenzellen der Retina, Ganglien- und bipolare Zellen, können auch nach längerer Blindheit wieder lernen, ihre Arbeit zu tun, so Zrenners Hoffnung, der erste erfolgreiche Tierversuche Nahrung gaben.

Das Bundesforschungsministerium förderte beide Ansätze mit Millionenbeträgen. Es kam zum Wettlauf der Systeme – Epi-Ret gegen Sub-Ret –, der von den Medien mit Spannung verfolgt wurde und noch nicht zu Ende ist: Beide Forschergruppen, Eberhart Zrenners Tübinger Sub-Ret-Team und Rolf Eckmillers Bonner Epi-Ret-Truppe, erlebten Erfolge und Rückschläge, Geldfluss und Geldmangel. Sie trafen sich auf Konferenzen, lästerten auch mal übereinander, kündigten Meilensteine an und mussten sie verschieben. Auch die internationale Konkurrenz schlief nicht. Allein in den USA gibt es rund ein halbes Dutzend ernst zu nehmende Teams.

„Die Tübinger sind vorne mit dabei“, sagt Heinrich Gerding, der am Augenzentrum der Klinik Pallas im schweizerischen Olten arbeitet und die Implantat-Entwicklung von Anfang an verfolgt hat. Allerdings habe das US-Unternehmen Second Sight, Entwickler eines Epi-Ret-Implantats, am Markt die Nase vorn. Sein Chip „ Argus II“ ist seit März 2011 in Europa als Medizinprodukt zertifiziert. Weltweit tragen ihn bereits 30 Menschen. Zrenners Retina Implant AG in Reutlingen setzt dagegen auf eine bessere Sehqualität. Schließlich hat ihr Chip 1500 Bildpunkte, Argus II nur 60. Und dieses Mehr beginnt sich in der Praxis auszuwirken, wie Geschäftsführer Walter Wrobel berichtet: „Die Patienten, die derzeit das Implantat tragen, können zum Teil Gesichter erkennen. Zwar reicht die Auflösung dafür eigentlich nicht aus, aber sie nutzen Frisuren und die Form von Brillen, um Personen zu identifizieren. Einer berichtete, er könne sogar die Schatten zwischen den Zähnen seiner Freundin erkennen, wenn sie lächelt. Jedenfalls werden die beiden heiraten.“

Es geht um Lebensqualität, aber auch um einen großen Markt: Eine Milliarde Menschen leben in Ländern mit Krankenversicherung und genug Wohlstand für eine Hightech-Medizin. Jedem Viertausendsten von ihnen droht die Erblindung durch Retinitis pigmentosa. Wrobel rechnet also mit weltweit 20 000 bis 40 000 Eingriffen pro Jahr, bei denen ein Retina-Implantat eingepflanzt wird. 60 000 bis 80 000 Euro soll der Reutlinger Chip kosten, wenn er – vielleicht schon im nächsten Jahr – zugelassen wird. „ An Anfragen herrscht kein Mangel“, versichert Wrobel. Augenarzt Gerding sorgt sich sogar, die Krankenkassen könnten Seh-Chips allzu schnell in ihre Finanzierung aufnehmen. „Die Erwartungen sind sehr hoch. Ich fürchte, bei der derzeitigen Qualität könnten sie manche Patienten enttäuschen.“

Zrenners Vision ist also in greifbare Nähe gerückt – auch wenn es etwas länger gedauert hat. Bleibt nur noch eine Frage zu klären: Warum ist der Mann so nett? Wie kann man so große Räder drehen – in der Forschung, in der Wirtschaft – und dabei so freundlich bleiben? „Ich habe das immer so gemacht“, sagt Eberhart Zrenner mit seinem feinen Lächeln. „Diskussionen auf Augenhöhe, präzise Argumente, Fairness, Achtung der Würde des anderen und der Versuch, immer wieder Situationen herzustellen, bei denen beide Seiten gewinnen. Für mich gehört das zu einem modernen Führungsstil.“ Forscher könne man nicht mit hartem Druck motivieren. „Sie brauchen eine sensible Lenkung wie ein Hightech-Auto, kein schroffes Hin und Her.“ Und notfalls müsse man Krisen auch mal aussitzen. Es dauert dann eben ein bisschen länger, bis das Wunder geschieht. ■

Text: Judith Rauch, Fotos: Wolfram Scheible

KOMPAKT

· geboren am 18. Oktober 1945 in München

· Studium der Elektrotechnik und Medizin in Erlangen und München, Augenarzt und Professor

· von 1991 bis 2007 Leitung der Universitäts-Augenklinik Tübingen

· ab 1995 im Team Entwicklung eines Netzhaut-Implantats mit großen Marktchancen

· 2009 mit dem Karl Heinz Beckurts-Preis geehrt, 2011 mit dem Euretina Innovation Award

· 2011 Übergabe des Postens als Direktor des Forschungsinstituts für Augenheilkunde an seinen Nachfolger, trotzdem weiterhin Professor und Ordinarius

· heute unabhängiger Forscher mit Stiftungs- und EU-Mitteln

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Dossiers
Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Ve|no|le  〈[ve–] f. 19; Med.〉 kleinste Vene

Lauf|kat|ze  〈f. 19; Tech.〉 Fahrwerk auf Trägern mit Einrichtung zum Heben u. Befördern von Lasten; Sy Läufer ( … mehr

Me|ga|lo|ma|nie  〈f. 19; unz.; Psych.〉 = Größenwahn (1) [<grch. megale … mehr

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige