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Der Schimpansen-Mann

Allgemein

Der Schimpansen-Mann
Viele Jahre hat der Schweizer Biologe unter wilden Schimpansen im Urwald Westafrikas gelebt. Er hat sie beim Nüsseknacken beobachtet und ist ihren Jagdzügen gefolgt. Am Ende war er so beeindruckt von den Leistungen dieser Menschenaffen, dass er ihnen Kultur zusprach.

Ein Biologenleben wie aus dem Bilderbuch: In einer Hütte im feuchten Urwald Afrikas leben. Um fünf Uhr morgens aufstehen. Ab sechs Uhr Schimpansen beim Aufstehen belauern. Ihnen dann den ganzen Tag auf den Fersen bleiben und schauen, was sie treiben, bevor sie abends um sechs ihre Nester bauen. So hat Christophe Boesch zwölf Jahre gelebt, zusammen mit seiner Frau Hedwige Boesch-Achermann. „Man kann also sagen, ich weiß viel über die Schimpansen“, sagt Hedwige Boesch-Achermann. Aber da gebe es einen Unterschied zu ihrem Mann. Ihr Mann, Christophe Boesch, habe ein derartiges Einfühlungsvermögen in die Tiere, dass er, wenn er den Schimpansen im Urwald folge, diese praktisch mit Schimpansenaugen sehe. So genau könne er ihr Verhalten voraussagen, dass man meint, er denke Schimpansengedanken. „Darin“ , sagt Hedwige Boesch, „ist Christophe im Vergleich zu mir selber ein Schimpanse.“ Der „Schimpanse“ hat es weit gebracht. Christophe Boesch ist Professor und Max-Planck-Direktor. Zusammen mit drei ebenso namhaften Kollegen, dem Linguisten Bernard Comrie, dem Genetiker Svante Pääbo und dem Psychologen Michael Tomasello leitet er das Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig. EVA kürzt es sich ab, und das signalisiert, worum es geht: um die interdisziplinäre Erforschung unserer menschlichen Herkunft. In einem solchen Institut kann man einen Biologen, der zugleich Schimpanse ist, gut gebrauchen. Auch wenn hier Welten aufeinander stoßen: Das feine Max-Planck-Institut mit seinen rund 300 Beschäftigten, großzügigen Fluren, edler Kaffeebar – und der Direktor mit den grauen Zottellocken, der sich hemdsärmelig und stets im Laufschritt durch die ihm nicht ganz geheuer scheinende Bürowelt bewegt. Völlig uneitel wirkt er auch im Gespräch, eher wortkarg und spröde bis ruppig. „Ich kenne ihn von einer ganz anderen Seite“, sagt dagegen sein Doktorand Roman Wittig, der auf drei Jahre gemeinsame Feldforschung zurückblickt. „Im Wald ist Christophe Boesch in seinem Element. Da ist er kumpelhaft, locker und sehr witzig.“ Eine andere Doktorandin, Ilka Herbinger, hat beobachtet: „Es braucht Zeit, bis man Vertrauen bei ihm findet. Doch wenn er gemerkt hat, dass man für die Feldarbeit geeignet ist und sehr viel Rücksicht auf die Tiere nimmt, dann unterstützt er einen voll und ganz.“ Immer wieder weise der Primatologe seine Studenten darauf hin, dass sie „nur Gäste“ im Lebensraum der Schimpansen sind. Am EVA in Leipzig studieren die jungen Wissenschaftler Fragen wie diese: Wie lernen Affen- und Menschenkinder soziales Verhalten, wie werden beispielsweise Konflikte gelöst? Welches räumliche Vorstellungsvermögen haben Schimpansen im Freiland und welches in Gefangenschaft? Und: Ab welchem Alter überflügeln Menschenkinder eigentlich ihre tierischen Verwandten, wenn es um geistige Leistungen geht? Christophe Boeschs Kollege Michael Tomasello hat da recht genaue Vorstellungen: Mit neun Monaten begännen Kinder auf Dinge zu deuten, Menschenaffen täten das nie, sagt er. Außerdem seien Kinder viel besser im Imitieren. Boesch hält dagegen: „Bevor wir nach Unterschieden suchen, sollten wir erst auf Gemeinsamkeiten achten“, sagt er. „Wir kennen doch das Leben von Schimpansen in Freiheit noch längst nicht gut genug, um ihnen bestimmte Leistungen abzusprechen. Wenn ich ein bestimmtes Verhalten im Wald nicht beobachte, kann es dafür nicht nur eine, sondern drei Erklärungen geben: Die Schimpansen können es nicht. Oder: Sie brauchen es nicht. Oder: Ich habe es nicht gesehen.“ Da spricht er aus Erfahrung. Bevor die Engländerin Jane Goodall in den sechziger Jahren mit eigenen Augen gesehen hatte, dass wilde Schimpansen aus Zweigen Stöckchen zum Angeln von Termiten herstellen, hatte man das Fertigen von Werkzeug für eine ausschließlich menschliche Eigenschaft gehalten. Und bevor Christophe Boesch beobachtet hatte, wie Schimpansen im Taï-Wald im Westen der Elfenbeinküste mit Hammer und Amboss Nüsse knackten, gab es darüber nur Gerüchte in der wissenschaftlichen Welt, von denen man nicht wusste: Sind sie Wahrheit oder Legende? 1976 machte er sich an die Aufklärung dieser Frage. Seine Frau Hedwige im Schlepptau, die damals als Laborantin in einem molekularbiologischen Labor arbeitete, zog der in St. Gallen geborene Schweizer für einige Monate an die Elfenbeinküste, um nach den geheimnisvollen Nussknackern zu suchen. Es war nicht seine erste Erfahrung in der Feldforschung: 1973 hatte der Biologiestudent für fünf Monate in Ruanda Berggorillas studiert. Unter der Ägide von Dian Fossey, jener kämpferischen Amerikanerin, die 1985 unter mysteriösen Umständen ermordet wurde. Von Fosseys Mut, ihrem „starken Charakter“ sei er sehr beeindruckt gewesen, erinnert sich Boesch. Mehr aber noch von dem Erlebnis, „die Berggorillas unter ihren natürlichen Lebensbedingungen beobachten zu können – das war unglaublich“. Von Dian Fossey lernte Boesch, wie man Spuren liest und anhand von Essensresten, Kot oder abgebrochenem Gezweig erkennt, wo die Menschenaffen sich bewegt haben – und wann. Von Jane Goodall lernte er, dass frei lebende Schimpansen sich nur sehr langsam an menschliche Beobachter gewöhnen. Erst nach Jahren tolerieren sie die Anwesenheit der Forscher anstatt vor ihnen davonzulaufen. „ Fünf Jahre dauert die Gewöhnung im Durchschnitt“, sagt Boesch. „ Manche haben es noch länger versucht und überhaupt nicht geschafft.“ So kam es, dass auch Christophe und Hedwige Boesch die nussknackenden Schimpansen zunächst nicht sehen, sondern nur hören konnten. Dann fanden sie leere Schalen und Aststücke, die Abnutzungsspuren zeigten – offensichtlich waren sie als Hämmer benutzt worden. Und erst, als aus den ersten Monaten im Taï-Wald Jahre geworden waren, aus der Pilotstudie ein Langzeitprojekt mit sicherer Finanzierung, aus anonymen Schimpansen Individuen mit Gesichtern und Namen, gab es Tage wie diese: „Da beobachte ich das Weibchen Héra mit seinem Sohn Haschich, der damals fünf Jahre alt war. Sie saßen zusammen unter einem Baum, und jeder hat mit einem Stein Nüsse aufgeschlagen. Sechs Stunden lang! Wie leicht kriegen Sie wohl einen jungen Burschen dazu, so lange mit einem Werkzeug zu arbeiten? Mit dieser Konzentration? Mit dieser Präzision und Dosierung von Kraft?“ Da war Christophe Boesch voller Bewunderung. Er fragte sich, wie junge Schimpansen so eine komplizierte Technik lernen. Im Laufe der Jahre fand er die Antwort: Sie lernen es von ihren Müttern. Affenkinder sind aktiv und lernbegierig. Schon als Winzlinge probieren sie das Nussknacken aus. „Zwei Jahre brauchen sie, um zu begreifen, dass die drei Dinge zusammengehören: Hammer, Amboss, Nuss. Mit drei Jahren haben sie die Technik verstanden, aber noch nicht genug Kraft, die Nüsse zu öffnen. Erst mit vier Jahren fangen die ersten Erfolge an.“ Während dieser ganzen Zeit müssen die Mütter die Kleinen bei Laune halten, damit sie ihre Bemühungen nicht aufgeben. „Die Jungen halten durch, weil die Mütter großzügig sind und ihre Nüsse mit ihnen teilen“, sagt Christophe Boesch. In der großen Monografie von Christophe Boesch und Hedwige Boesch-Achermann („The Chimpanzees of the Taï Forest“) kann man Details darüber nachlesen. Doch das Buch erschöpft sich nicht im Anekdotischen. Mit vielen Statistiken, Tabellen und Kurven weist Christophe Boesch nach, dass auch komplizierteste Techniken, Strategien, Kooperationen und Koalitionen sich für die Affen lohnen. „Durch das Nussknacken erwirtschaften die Taï-Schimpansen einen Nährwert von 3500 Kilokalorien pro Tag“, hat er beispielsweise herausgefunden. „Es ist viel Arbeit, aber auch viel Gewinn.“ Trotzdem hat Christophe Boesch festgestellt, dass jenseits des Sassandra-Flusses, der etwas östlich vom Taï-Nationalpark vorbeifließt, die Technik des Nüsseklopfens völlig unbekannt ist. „An den Umweltbedingungen liegt es nicht“, sagt der Biologe. Schimpansen, Nussbäume und geeignete Hammersteine oder -hölzer gebe es auch dort. Bleibt nur ein Schluss: „Der Fluss bildet eine Kulturgrenze. Der Erfinder dieser Technik muss westlich vom Fluss gelebt haben.“ Und wahrscheinlich war es eine Erfinderin: Denn Schimpansen-Weibchen sind bessere Nussknacker als die Männchen, während diese die eifrigeren Jäger sind. In der Schriftform eher wissenschaftlich-trocken, läuft Christophe Boesch als Redner zur vollen Form auf. Doktorand Wittig erinnert sich an einen Kongressvortrag, den Boesch mit einem „leaf clipping“ eröffnete: Wie es Schimpansen tun, bevor sie das Imponiertrommeln beginnen, riss er mit den Lippen Blätter von einem mitgebrachten Zweig ab. Anschließend ließ er einen Schimpansenruf („pant-hoot“) ertönen und trommelte minutenlang auf dem Rednerpult herum. Prof. Christophe Boesch ist nicht nur auf Kongressen ein gefragter Mann: Hin- und herreisend zwischen Taï-Wald, Leipziger Institut und anderen Forschungsstätten betreut er inzwischen zahlreiche Projekte, in denen Schimpansen, Gorillas, Gibbons oder Bonobos erforscht werden. Hinzu kommt sein Engagement bei der von ihm gegründeten „Wild Chimpanzee Foundation“, die sich den Schutz der Lebensräume der von ihm bewunderten Tiere zum Ziel gesetzt hat. In der Stiftung arbeitet Hedwige Boesch als ehrenamtliche Geschäftsführerin für Europa. Die Boeschs verdanken „ihren“ Schimpansen viel. Vor allem einem: Brutus. Brutus, mit geschätztem Geburtsjahrgang 1951, ist einer der Schimpansen-Senioren im Taï-Wald – und damit ein Altersgenosse seines menschlichen Erforschers. Er erwies sich als Multitalent: Ein begabter Jäger, der mit zunehmendem Alter immer besser wurde. Ein machtbewusster Herrscher, der auch in Zeiten, als er die Position des Alpha-Tiers längst an Jüngere abgegeben hatte, Koalitionen zu schmieden und sich gegen Konkurrenten durchzusetzen wusste. Dazu ein liebevoller Adoptivvater, der für verwaiste Schimpansenkinder sorgte. „Unsere Bewunderung für seine Fähigkeiten wuchs, je mehr wir über ihn erfuhren“, schreiben die Boeschs über Brutus im Vorwort ihres Buches. „Und wir mussten aufpassen, dass diese Bewunderung unsere wissenschaftliche Objektivität nicht beeinflusste.“ In einem populären Werk, an dem die beiden Forscher gerade arbeiten, wird man über Brutus und seine Gefährten hoffentlich noch mehr und auch ganz Subjektives erfahren können. Denn sie ist schon etwas Besonderes, die Affenbande aus dem Taï-Wald. Das merkt man spätestens, wenn man Christophe Boesch auf das Thema „Krieg“ anspricht. Schimpansen sind nicht immer friedlich – das weiß man, seit Jane Goodall in ihrem Forschungsgebiet, dem Gombe-Nationalpark im heutigen Tansania, beobachtet hat, wie eine Schimpansengemeinschaft bei blutigen Territorialkämpfen eine ganze Nachbargruppe ausrottete. Solche Fallgeschichten machten Wissenschaftler und Laien glauben, das Kriegerische gehöre zum uralten Verhaltenserbe der Menschheit. Dagegen sagt Christophe Boesch: „Ich rate zu großer Vorsicht bei einem Begriff wie Krieg. Und ich warne vor Verallgemeinerungen. Wie viele Menschensozietäten kennen wir heute? Rund 600. Und wie viele Schimpansen-Gemeinschaften? Acht Gruppen!“ Und schon bei den acht zeigten sich gewaltige Unterschiede. Im Taï-Wald, sagt Christophe Boesch, habe er in zwölf Jahren keinen einzigen Schimpansen gesehen, der bei Territorial-Auseinandersetzungen einen Artgenossen tötete. Auch Kindermord wie bei den Gombe-Schimpansen kam nicht vor. Eine höher stehende Kultur also? Christophe Boesch führt als objektiver Wissenschaftler erst einmal die Umwelt als erklärenden Faktor an: „Die Taï-Schimpansen kommen bei territorialen Auseinandersetzungen mit Bluffs und Tricksereien ziemlich weit. Weil die Gruppengröße im dichten Wald für den Gegner schwerer einzuschätzen ist als im offenen Gelände, versuchen sie zum Beispiel durch Trommeln und lautes Geschrei den Eindruck zu erwecken, sie seien viel mehr als sie wirklich sind.“ Und wenn man mit Köpfchen weiterkommt, so sein Argument, warum sollte man dann zu brutaler Gewalt greifen? Wenn man dagegen an die Exzesse denkt, zu denen Menschen in Kriegen fähig sind, beginnt man zu begreifen, dass es für einen Kenner beider Welten nicht ehrenrührig ist, zu den Schimpansen gezählt zu werden.

Kompakt

Christophe Boesch, geboren 1951 im Schweizer St. Gallen, Muttersprache: französisch. 1975 Abschluss des Biologie-Studiums in Genf mit einer Arbeit über Berggorillas. 1979 bis 1991 im Taï-Nationalpark/Elfenbeinküste: Erforschung frei lebender Schimpansen, zusammen mit seiner Frau Hedwige. Sie ziehen ihre zwei Kinder im Urwald auf. Seit 1998 Professor am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Seine Mission: Die Kulturen der Menschenaffen erforschen und deren letzte Lebensräume schützen.

Judith Rauch

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