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Einer von 100 000

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Einer von 100 000
Selbstheilung bei Krebs: Die Medizin nimmt die Herausforderung an. Was passiert, wenn bösartige Tumore plötzlich verschwinden? Neue Erkenntnisse der Molekularbiologie lassen jetzt ahnen, was zur Wendung des Schicksals führen kann.

Gewöhnlich nahm man an, daß die Diagnose falsch war, und da man sich zu diesem Geständnis nicht gern entschließt, wurden viele Beobachtungen entweder verschwiegen oder nur verschämt mit einem Fragezeichen mitgeteilt.“ Treffender kann die Ratlosigkeit unter den Medizinern wohl kaum formuliert werden. Über 90 Jahre ist es her, als der Chirurgieprofessor Vincenz von Czerny auf der Internationalen Konferenz für Krebsforschung in Heidelberg diese Worte sprach, und noch immer sind sie aktuell.

Weder die Krankenberichte von damals, noch die 1974 an der amerikanischen Johns Hopkins Universität in Baltimore eigens einberufene Expertenkonferenz konnten den Verdacht auf Scharlatanerie und Schwindel bei spontaner Selbstheilung von Krebs beseitigen. Im allgemeinen Krankheitsverständnis schienen bösartige Tumore nur mit Stahl, Strahl oder Chemie ausreichend therapierbar zu sein.

Erst im April vergangenen Jahres brachte das Internationale Krebssymposium in Heidelberg, an dem über 350 Wissenschaftler teilnahmen, den Durchbruch. Zahlreiche gründlich dokumentierte Krankenberichte lassen keine Zweifel mehr zu. „Die Selbstheilungskräfte der Natur sind real“, sagt Dr. Reinhold Schwarz, Leiter der Psychosozialen Nachsorgeeinrichtung an der Universitätsklinik Heidelberg.

Ein Krebspatient gilt dann als unerwartet genesen, wenn bösartige Tumore ohne die übliche Behandlung verschwinden. Statistisch gesehen gibt es im 30jährigen Berufsleben eines Krebsforschers nur eine einzige Chance, dies selbst zu erleben. Schätzungen zufolge kommt eine Selbstheilung auf 60000 bis 100000 Krebskranke. Je nach Krebsart können solche Spontanremissionen – so der Fachausdruck – aber häufiger geschehen. Zwei Drittel konzentrieren sich auf das Melanom (Schwarzer Hautkrebs), auf Nierenkrebs, das Neuroblastom (eine Form von Gehirnkrebs) und einige Arten von Lymphknotenkrebs. Es gibt aber kaum eine Krebsart, bei der die plötzliche Rückbildung noch nicht dokumentiert ist. Bei den in Deutschland häufigsten Krebsarten – Lungen-, Prostata-, Brust-, Magen- und Gebärmutterkrebs – ist sie allerdings sehr selten.

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Doch was geschieht im Körper des Kranken, wenn er sich selbst therapiert? „Auf diese Frage gibt es bisher keine eindeutige Antwort, nur Erklärungsmodelle, weil Spontanremissionen bei Krebs immer erst in der Rückschau als solche erkannt werden“, beschreibt Prof. Manfred Heim die Schwierigkeit, dem Rätsel auf die Spur zu kommen. Wie der Krebsspezialist an der Sonnenberg-Klinik in Bad Soden-Allendorf berichtet, suche man derzeit in der Vergangenheit des Patienten nach Verhaltensweisen und Ereignissen, die die Krankheit beeinflußt haben könnten. Aber wer erinnere sich schon an alles, was er vor vier, sechs oder gar zwölf Monaten erlebt, getan oder gegessen habe. Mit dem Fortschritt der Grundlagenforschung zur Tumorentstehung ist es inzwischen aber dennoch möglich, einige plausibel erscheinende Hypothesen aufzustellen.

Am wahrscheinlichsten sind derzeit zwei Theorien, meint Heim: Eine geht davon aus, daß bösartige Zellen sich zu normalen Körperzellen rückverwandeln. Die andere besagt, daß in den potentiell unsterblichen Krebszellen durch bestimmte Änderungen ein naürliches Selbstmordprogramm aktiviert wird.

Für die Umwandlungsthese spricht, daß eine Selbstheilung überdurchschnittlich oft bei den Neuroblastomen von Säuglingen vorkommt. Neuroblasten sind unvollständig ausgereifte Nervenzellen. Bei einer Fehlfunktion entsteht deshalb oft ein Tumor an der nervenreichen Netzhaut des Auges oder im Gehirn. Seine Metastasen treten an Haut und Knochen auf.

„Wir vermuten, daß hier die Reifung des Nervengewebes genetisch bedingt verzögert ist“, erklärt Prof. Frank Berthold, Kinderonkologe an der Uniklinik in Köln, vom Körper aber nachgeholt werde. Das würde erklären, warum sogar Säuglinge, bei denen sich schon Metastasen in Leber, Haut oder Knochenmark gebildet haben, zu 80 Prozent ohne eine Behandlung überleben. Ziel einer Therapie könne es daher nur sein, bei den restlichen 20 Prozent den Krebs durch wachstumshemmende Zellgifte (Zytostatika) so lange in Schach zu halten, bis die Nervenzellen ausgereift seien. Gelänge dies, sei die kritische Phase überwunden.

Eng mit der Ausreifung verknüpft ist die Vorstellung vom programmierten Selbstmord der Zelle, der Apoptose. Die Apoptose ist eine Vorsichtsmaßnahme der Natur, die einsetzt, wenn sich Körperzellen fehlerhaft entwickeln.

Sie ist auch bei gesunden Menschen lebenswichtig, weil Zellen, die sich schon häufig geteilt haben, zunehmend fehlerhafte Kopien liefern. Eine interne Kontrolle sorgt dafür, daß diese Zellen aus dem Verkehr gezogen werden, ehe sie Schaden anrichten können. Der Mechanismus wird über mehrere Proteine gesteuert, von denen das Eiweiß p53 eine wichtige Funktion hat. Schon die Veränderung eines der 393 Aminosäuren-Bausteine des p53-Eiweißes genügt, um seine Wächterfunktion zu behindern (bild der wissenschaft 5/1996, „Kamikaze in der Zelle“).

Solche Mutationen sind bei sehr vielen Krebsarten entdeckt worden. Nikotin, Alkohol, Schwermetalle und andere Zellgifte können sie verursachen. Ein weiterer Faktor, der den notwendigen Selbstmord der Zelle verhindert, ist das Enzym Telomerase. „Es schiebt den Zelltod hinaus und ist möglicherweise der Grund dafür, warum Tumorgewebe länger lebt“, erklärt Manfred Heim. Die Telomerase ist in Krebszellen dauerhaft aktiv, in anderen Geweben nur, solange sie jung sind. Ihre Produktion wird allmählich eingestellt, die Zellen altern und sterben.

Zu erkennen, was die Ursache für die spontane Heilung von Krebskranken sein könnte, ist aber nur die Hälfte. Was fehlt ist das Wissen, wie der Arzt die biologischen Abläufe so steuern könnte, daß unreife Zellen sich fertig entwickeln oder in kranken Zellen das Selbstmordprogramm anläuft. Sicher ist bisher nur: Eine einfache Lösung gibt es nicht.

Die Experten diskutieren derzeit viele Modelle: Greift man in das Programm der Krebszellen über Hormone ein oder über das Immunsystem, schneidet man die Tumore mit neuartigen Medikamenten (Endostatinen) von der Blutversorgung ab, oder soll man auf die Heilkraft der Psyche setzen?

Am wenigsten strittig ist die Heilkraft hormoneller Revolutionen im Körper, wie sie bei Schwangerschaft, Entbindung und Menopause vorkommen. Es gibt viele Beispiele zur spontanen Heilung von Hautkrebs nach dem Wochenbett oder zur Rückbildung von Brustkrebs mit dem Einsetzen der Wechseljahre. „Auch bei Nierenkrebs gibt es Indizien, daß bei Selbstheilung hormonelle Veränderungen eine Rolle spielen“, sagt der Nürnberger Krebsarzt Dr. Herbert Kappauf.

Ein hoffnungsvoller Ansatz, Spontanremissionen mit Medikamenten anzustoßen, ist es, die Durchblutung der Tumore zu stören. Krebsgeschwülste können nur dann ungehemmt wuchern, wenn sie mit Nährstoffen versorgt werden. Das geschieht über Blutgefäße, die aus dem umliegenden Gewebe in den Tumor hineinsprossen. Normalerweise besteht ein Gleichgewicht zwischen den Eiweißstoffen, die das Gefäßwachstum stimulieren und hemmen. Im Tumorgewebe ist diese Balance jedoch zugunsten der Gefäßneubildung verschoben – der Krebs wird besser versorgt als das Gewebe um ihn herum.

Die Zellregionen, die Stoffe zur Gefäßbildung produzieren, sind ungleich verteilt. Das kann dem Patienten nützen: Wird zum Beispiel bei einer Operation gerade der Teil einer Geschwulst entfernt, bei dem die gefäßneubildenen Substanzen überwiegen, kann sich unter Umständen der Tumorrest von allein zurückbilden. „In der Tat geht den meisten Spontanremissionen eine unvollständige Operation voraus“, weiß Kappauf. Es gebe aber genauso Patienten, bei denen der Krebs nach der Operation schneller wachsen würde. Mehr als 40 Medikamente, die die Tumordurchblutung hemmen sollen, werden derzeit klinisch erprobt.

Auffällig viele Rückbildungen gehen mit fiebrigen Infektionen einher. Das erkannte bereits vor 100 Jahren der New Yorker Chirurg William Coley: Er infizierte sie mit fiebererregenden Keimen, hin und wieder mit Erfolg. Heute weiß man, daß fiebrige Erkrankungen verschiedene Zellen des Immunsystems stimulieren, sogenannte Zytokine freizusetzen. Diese Zytokine aktivieren ihrerseits Teile des Immunsystems, was dazu führen kann, daß unreife Zellen sich fertig entwickeln oder die Neubildung von Blutgefäßen beeinflußt wird.

„Die Mobilisierung von körpereigenen Zytokinen könnte somit auch für einige Spontanremissionen die Erklärung sein“, spekuliert der Nürnberger Krebsspezialist Kappauf. Ganz unerwartet sei etwa ein Patient genesen, nachdem man ihm Teile eines Magentumors und Lebermetastasen herausgeschnitten hatte, und der danach an einer eitrigen Entzündung erkrankte. Die Infektion könnte die Freisetzung der Zytokine verursacht haben, worauf entweder das Immunsystem gegen den Krebs aktiviert oder der programmierte Zelltod eingeleitet worden wäre.

Kappauf warnt dennoch davor, bei Krebs einfach eine pauschale Stärkung des Immunsystems zu propagieren. „Auch wenn das Immunsystem in einem guten Zustand ist, bedeutet dies keineswegs, daß Menschen vor Krebs besser geschützt sind oder den Krebs besser überwinden können.“ Bei Lungenkrebs etwa, wo das Immunsystem im frühen Stadium noch nicht beeinträchtigt ist, sind Spontanremissionen sehr selten.

Viele Studien gehen der Frage nach, ob der Gemütszustand eines Menschen auf seine Krankheit einen Einfluß haben könnte. Sie folgen der verbreiteten Annahme, daß Krebs der körperliche Ausdruck einer seelischen Krise ist. Die Stärkung der inneren Lebenskraft über Psychoanalyse, Religion, Willenskraft oder Meditation sollen den Weg zur Genesung bahnen.

Daß sich Streß, Depressionen und Ängste körperlich auswirken, daran zweifelt heute keiner mehr. Psychoneuroimmunologie heißt der Zweig der Wissenschaft, der sich damit befaßt. Er will den Zusammenhängen zwischen Psyche, Hormonen und Immunzellen auf die Spur kommen. Ein Spezialist auf diesem Gebiet ist Prof. Manfred Schedlowski vom Institut für Medizinische Psychologie der Uniklinik Essen. Er untersucht, wie Streßsignale die Ausschüttung verschiedener Hormone veranlassen, etwa von Adrenalin, Noradrenalin und Endorphin.

Diese Hormone wirken direkt auf das Immunsystem. Aber selbst wenn die Verbindungen zwischen Immunsysten und Krebs entschlüsselt werden könnten, bliebe unklar, ob dies überhaupt eine biologische Relevanz habe. Denn was den einen Menschen belastet, macht dem anderen Spaß. Dr. Herbert Kappauf: „Es ist sicherer, der modernen Krebstherapie zu vertrauen, als auf Selbstheilung zu hoffen.“

Und keiner kann sagen, wer bei welchem Ärger welche Krankheit bekommt. Oder umgekehrt, welches freudige Erlebnis eintreten muß, damit die Selbstheilungskräfte aktiv werden.

„Wir wissen heute nur, daß Streßfaktoren auf die körpereigene Abwehr in irgendeiner Weise wirken und möglicherweise manche Krebsarten darüber gesteuert werden“, sagt der Heidelberger Psychoonkologe Reinhold Schwarz. Seine eigenen Beobachtungen würden die Theorie von einer Verflechtung zwischen Psyche, Immunsystem und Krebs aber nicht unterstützen. Vergleiche man die vielen Untersuchungen zu diesem Thema, sehe man, daß sich positive wie negative Ergebnisse über die angenommenen Zusammenhänge die Waage hielten. Seine Schlußfolgerung: „Es gibt viele Theorien. Nur – was logisch möglich ist, muß lange nicht tatsächlich passieren.“ Einem weitergehenden Schluß beugt er aber gleich vor: „Natürlich muß man Krebspatienten mit kompetenter psychosozialer Betreuung helfen, wenn man damit zumindest ihre Lebensqualität verbessern kann.“

Klar ist auch: Es werden noch zahllose Studien nötig sein, um aus den Modellen, wie es zur Spontanheilung kommt, neue Therapien zu entwickeln – und das eine Mittel gegen alle der mehr als 200 bekannten Krebsarten wird es nie geben. „Dafür spielen zu viele Mechanismen bei der Heilung eine Rolle“, konstatiert Herbert Kappauf. Es sei deshalb noch immer sicherer, der modernen Krebstherapie zu vertrauen, als auf spontane Heilung zu hoffen.

Vor fünf Jahren gaben die Ärzte Gerhard Behne noch zwei Monate…

Gerhard Behne spuckte beim Husten bereits Blut, er hatte Krebs auf beiden Lungenflügeln. Die Ärzte gaben ihm noch zwei, maximal sechs Monate. Ihr Rat lautete: Regeln Sie Ihre Angelegenheiten und machen sie sich die verbleibenden Tage so schön wie möglich. Behne war schockiert, konnte keinen klaren Gedanken fassen, setzte sich in sein Auto und verbrachte viele Stunden schweigend im Wald. Kurze Zeit später mußte der 57jährige Unternehmer ins Krankenhaus. Ihn plagten Schmerzen im linken Knie. Dort wurde die Ursache für die Metastasen in der Lunge aufgespürt: Ein bösartiger Tumor, der sofort operiert wurde. Die Ärzte rieten zu einer Chemotherapie, aber Behne lehnte ab. „Die Chancen einer Heilung lagen bei 20 Prozent. Das war mir zuwenig.“

Inzwischen waren seit der ersten Schreckensnachricht drei Wochen vergangen. Viel Zeit, in der Gerhard Behne nachdenken konnte und für sich eine Entscheidung traf. Er wollte nicht sterben, wollte kämpfen, wollte den Krebs besiegen. Sein erster Schritt: „Ich habe meine Firma verkauft und damit endlich Ruhe in mein Leben gebracht.“

Gleichzeitig fing er eine Therapie mit Mistelpräparaten an, um seinem Abwehrsystem auf die Sprünge zu helfen. Er lebte bewußter, er bekam seelische Unterstützung von seiner Familie und von Freunden, er stellte seine Ernährung um, ging lange mit seiner Frau spazieren und machte Atemübungen. „Ich habe alles versucht“, erinnert sich der heute 62 Jahre alte Norddeutsche. Und das Wunder geschah: Langsam ging es ihm besser, die Schmerzen verschwanden, er hörte auf, Blut zu spucken. Nach einem Jahr waren die Metastasen in der Lunge verschwunden. Sein Knie wollten die Ärzte jedoch noch einmal operieren und anschließend bestrahlen. „Das habe ich abgelehnt, es ging mir einfach zu gut.“ Am Ende des zweiten Jahres war Gerhard Behne krebsfrei.

Heute, fünf Jahre nach der schokkierenden Diagnose, ist er überzeugt, daß jedes kleine Detail seines privaten Kampfes gegen den Krebs zu seiner unerwarteten Genesung beigetragen hat – am allermeisten aber die Liebe seiner Familie.

Ariane Gilgenberg-Hartung

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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Tri|chlor|ethy|len  〈[–klo:r–] n. 11; unz.; Chem.; fachsprachl.; Kurzw.: Tri〉 = Trichloräthylen

feh|ler|to|le|rant  〈Adj.; IT〉 1 mit mindestens zwei unabhängig voneinander arbeitenden Systemen od. zusätzlichen Leitungswegen ausgestattet, so dass beim Auftreten von Fehlern od. Störungen die Funktionsfähigkeit erhalten bleibt ● ~e Suche 〈bei Suchmaschinen, elektron. Lexika u. Ä.〉 automatische Korrektur von Eingabefehlern … mehr

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