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Glas mit Grips

Allgemein

Glas mit Grips
Mitdenkende Technik: Die Adaptronik kündigt sich an. Anpassung an die Umgebung – das schaffen nicht nur Lebewesen. Lichtregelnde Scheiben, Antischall-Systeme, aktive Stoß- und Schwingungsdämpfer: Im Automobil und im Flugzeug übt eine faszinierende neue Disziplin ihre ersten Schritte.

Nachts auf der Bundesstraße: Der Rückspiegel zeigt undurchdringliche Dunkelheit. Da erscheinen zwei grelle Lichtpunkte und vergrößern sich rasch.

Unwillkürlich wendet der Fahrer seinen Blick ab, um nicht von den Scheinwerfern des nahenden Fahrzeugs geblendet zu werden. Aber die Vorsichtsmaßnahme ist überflüssig. In dem Moment, wo das gleißende Licht auf den Spiegel trifft, verdunkeln sich die Spiegelgläser in Sekundenschnelle.

Neubesitzer von Luxuskarossen kennen diesen Effekt. Seit einigen Jahren rüsten Autofirmen wie Daimler-Benz oder BMW ihre Spitzenmodelle mit automatisch abblendenden Rück- und Seitenspiegeln der US-Firma Gentex aus. Sie enthalten die typischen drei Elemente eines “intelligenten” oder “aktiven” Systems:

Ein Sensor registriert die äußeren Bedingungen. Beim intelligenten Spiegel übernimmt dies eine Fotozelle, die die Helligkeit mißt und in ein elektrisches Signal übersetzt. Eine Regelelektronik verarbeitet die Information und steuert… …den Aktor, der auf die veränderten Außenbedingungen reagiert. Beim Autospiegel ist das ein elektrochromes Glas, dessen Lichtdurchlässigkeit eine angelegte elektrische Spannung regelt. So läßt sich das Spiegelglas abdunkeln (siehe Kasten “So funktionieren intelligente Fenster”, Seite 42). Während die intelligenten Rück- und Seitenspiegel schon heute einen Markt erobert haben, denken die Hersteller bereits weiter. Sie wollen die elektrochromen Gläser auch in gewöhnlichen Fenstern etablieren. Dabei haben sie besonders Niedrigenergie-Häuser im Auge, die durch verglaste Südfassaden einen Großteil der Heizwärme von der Sonne beziehen. Intelligente Fenster könnten dann im Sommer eine Überhitzung der Räume verhindern.

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Mehrere Firmen stellten in den vergangenen Jahren Prototypen vor. Zur Marktreife gelangte bislang keiner. “Die Herstellung des komplexen Schichtsystems ist schwierig und deshalb teuer”, erklärt Dr. Volker Wittwer vom Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE) in Freiburg. Auf 1000 bis 2000 Mark schätzt er den Quadratmeterpreis solcher intelligenten Scheiben für den Endnutzer. Was bei Autospiegeln wegen der kleinen Glasflächen zu vertretbaren Kosten führt, wächst bei Fenstern zu unbezahlbaren Summen.

Wittwer und seine Mitarbeiter tüfteln indes gemeinsam mit der Firma Interpane in Lauenförde – spezialisiert auf Flachglas-Veredlung – an einer Variante der elektrochromen Schichten, die sie für kostengünstiger halten. “Gasochrome Gläser” nennen sie ihre Entwicklung, die mit weniger Schichten auskommt. “Mit diesem System sollte der Quadratmeter deutlich unter 1000 Mark kosten”, hofft Wittwer, der vor allem Bürogebäude im Visier hat.

Obwohl die technische Entwicklung weitgehend abgeschlossen ist, rechnet Dr. Rolf Blessing in frühestens zwei Jahren mit einem Marktprodukt. “Es geht nicht nur um neue Fenster”, begründet der Geschäftsführer von Interpane. “Wir wollen ein Gesamtsystem anbieten, das Architekten und Bauherren akzeptieren.” Der springende Punkt: Die gasochromen Gläser brauchen eine eigene Gaszufuhr und bringen damit eine neue Technologie auf die Baustellen. Blessing: “Wenn wir nur eine Bastellösung auf den Markt werfen, werden sich unsere Fenster nicht verkaufen lassen.”

Der große Durchbruch von intelligenten Systemen steht noch aus. Die Firmen verhalten sich zögerlich und lassen ihre aktiven Entwicklungen vorerst im Labor. Noch gilt die neue Technik häufig als zu teuer, im Vergleich mit konventionellen Lösungen. Allerdings fallen die Preise für digitale Signalverarbeitungs-Prozessoren, Kernkomponenten der “intelligenten” Steuerelektronik.

Inzwischen schiebt sich ein anderes Hindernis in den Vordergrund: die Angst der Firmenchefs, auf ein falsches Pferd zu setzen. “Die meisten aktiven Systeme sollten 10 bis 20 Jahre in Betrieb sein. Sie sind aber oft noch so neu, daß keine Erfahrungen über ihre dauerhafte Zuverlässigkeit vorliegen”, sagt Dr. Ralf Schirmacher vom Akustik-Beratungsbüro Müller BBM in München.

Ein typisches Beispiel für die Zurückhaltung der Unternehmen sind Antischall-Anlagen für Autos, die den Lärm im Inneren des Fahrzeugs mit Gegenlärm bekämpfen. VW stellte schon 1989 sein Forschungsfahrzeug FUTURA mit “Active Noise Control” für den Fahrzeuginnenraum vor, und Daimler-Benz berichtete 1995 in der Firmenzeitschrift HighTechReport ausführlich über Anti-Schall-Aktivitäten.

Doch allein japanische Kunden konnten bislang für kurze Zeit ein Fahrzeug mit intelligenter Geräuschkontrolle kaufen. Nissan rüstete 1992 seinen Bluebird mit einer sehr einfachen und deshalb wenig wirksamen Antischall-Variante aus. “Alle deutschen Autohersteller sitzen in den Startlöchern, aber keiner wagt den ersten Schritt”, glaubt der Akustiker Dr. Dieter Guicking vom 3. Physikalischen Institut der Universität Göttingen.

Unangenehme Geräusche entstehen im Auto vorwiegend durch die Zündvorgänge im Motor und durch unausgeglichene Massenkräfte. Die Frequenzen dieser störenden Töne sind Vielfache der Motordrehzahl. Als das größte Übel gilt unter Akustikern die “zweite Ordnung” bei Vierzylindermotoren – das ist ein Frequenzwert, der der zweifachen Drehzahl entspricht. Dadurch entsteht ein unangenehmes Brummen, das bei den leiseren Sechszylinder-Antrieben nicht auftritt.

Weil sich im Fahrzeuginnenraum äußerst komplexe Schallfelder aufbauen, ist die aktive Lärmbekämpfung schwierig – obwohl sich ihr Prinzip unter Laborbedingungen leicht demonstrieren läßt: Ein Mikrofon mißt den störenden Lärm und leitet die Information an einen digitalen Signalprozessor weiter. Einziger Unterschied: Die Schwingungen des Gegenlärms sind gegenüber dem Störschall so phasenverschoben, daß jeweils Wellenberge und Wellentäler aufeinandertreffen und einander löschen.

Die Entwickler versuchen auf dreierlei Wegen, aktiv Ruhe im Auto zu erzeugen:

Sie statten den Innenraum des Fahrzeugs mit mehreren Mikrofonen und Lautsprechern aus, um die komplizierte Schallverteilung zu erfassen und für alle Insassen eine gleichmäßige Dämpfung zu erreichen. Sie plazieren Lautsprecher und Mikrofon am Auspuffrohr. Sie bringen sogenannte aktive Tilger – meist steuerbare Federsysteme – an der Motorlagerung an, die schon dort auf die Motorvibrationen mit Gegenschwingun- gen antworten.

“Wir verfolgen alle drei Richtungen und haben bereits verschiedene Systeme zur Serienreife gebracht”, sagt Dr. Gerhard Thoma. Er ist bei BMW in München für den Bereich Akustik verantwortlich. Doch auch die bayerischen Autobauer wollen ihre aktiven Entwicklungen zur Zeit nicht an den Kunden bringen: “Die Kosten für die aktive Geräuschkontrolle würden unverhältnismäßig ins Gewicht fallen.” Auch der BMW-Akustiker will aber einen künftigen Einsatz nicht ausschließen und hält sein Unternehmen gegen eventuelle Vorstöße von Konkurrenten für gewappnet.

Viele Experten streben für die Zukunft eine Kombination aus passiven Dämmstoffen und aktiver Geräuschkontrolle an. “Hohe Frequenzen bilden häufig sehr komplexe Schallfelder, die man aktiv nur durch großen Aufwand bekämpfen kann”, erklärt Dieter Guicking. Dagegen seien aktive Systeme ideal für Frequenzen unter 300 Hertz, die man passiv nur durch große Mengen an schweren Dämmstoffen bekämpfen könne. Besonders, wenn die Fahrzeuge immer sparsamer und damit leichter werden sollen, bietet sich also die intelligente Schallbekämpfung an.

Während der Käufer auf Antischall-Systeme im Auto warten muß, gibt es bereits Anwendungen dieser intelligenten Technik in anderen Bereichen. Passagiere von Propellerflugzeugen können heute schon erleben, was für Autofahrer bislang noch Zukunftsmusik ist.

Der schwedische Hersteller Saab rüstete zwei seiner Modelle, einen 50-Sitzer und eine Maschine mit 30 bis 35 Plätzen, mit aktiver Schalldämpfung aus. Sie wurde vom britischen Unternehmen Ultra Electronics gemeinsam mit Noise Cancellation Technologies aus den USA entwickelt.

Durch Verwirbelungen an den Propellerblättern belästigt in Turboprops – anders als in Düsenjets – besonders starker Lärm die Insassen. Abhilfe schaffen die Akustiker mit einem Satz von Mikrofonen und Lautsprechern im Innenraum, ähnlich wie beim Auto.

Saab steht mit seiner Lösung nicht allein: Das US-Unternehmen Lord Corporation entwickelte bereits für mehrere Flugzeugtypen intelligente Anti-Schallsysteme. Und die Europäische Kommission unterstützt seit einigen Jahren das Programm “Aircraft Interior Active Noise Control”, in dem mehrere europäische Partner an einer aktiven Geräuschkontrolle für Flugzeuge arbeiten. In Deutschland beteiligt sich daran der Daimler-Benz-Unternehmensteil Dornier in Friedrichshafen.

Auch in die Raumfahrt halten aktive Systeme Einzug: Akustiker von Dornier arbeiten etwa an einer aktiven Vibra- tionsdämpfung für die neue “Ariane 5”. Ziel ihrer Bemühungen ist der Transportraum für Satelliten in der Spitze der Rakete. Dort entstehen beim Start so hohe Lärmpegel, daß die teuren High-Tech-Trabanten ungeschützt Schaden nehmen würden.

Bislang wehren die Konstrukteure den Schall nur passiv ab. Der Nachteil: Die notwendigen Dämmstoffe beanspruchen viel Platz und reduzieren den Nutzlastanteil im Raketenkopf. Für die Zukunft peilen die Entwickler deshalb eine aktive Geräuschminderung mit einer Aktor-Kombination aus Lautsprechern und Piezokristallen an.

“Aktive Systeme setzen sich zuerst dort durch, wo man mit den passiven Lösungen nicht mehr weiterkommt”, beschreibt Ralf Schirmacher von Müller BBM den allgemeinen Trend. “Erst anschließend werden sie in konsumnähere Bereiche vordringen.” Kein Wunder also, daß zur Zeit hauptsächlich Einzellösungen für High-Tech-Anwendungen realisiert werden.

Wo es um höchste Präzision geht, mausern sich intelligente Schwingungsdämpfer bereits zur Standardausrüstung – etwa in Forschungslabors oder bei der Fertigung von Halbleiter-Chips. Dort stören schon winzige Schwingungen mit Auslenkungen unterhalb eines tausendstel Millimeters. Allein die interne Mechanik eines Geräts genügt bereits, um solche Nano- und Mikro-Erschütterungen auszulösen.

“Diese Vibrationen lassen sich nur aktiv bekämpfen”, sagt Robert Hamrodi von der Firma Integrated Dynamics Engineering (IDE). Das mittelständische Unternehmen mit Sitz in Raunheim und in den USA baut intelligente Systeme, die Vibrationen, Schall und Magnetfelder dämpfen. Hamrodi: “Im Moment läuft das Geschäft weltweit richtig an.”

So funktionieren intelligente Fenster

Bei elektrochromen Scheiben schließen zwei herkömmliche Glasscheiben wie ein Sandwich fünf dünne Schichten ein. Die färbende Schicht – meist aus Wolframoxid (WO3) – liegt zwischen einer transparenten Elektrode und einem Ionenleiter, dem Elektrolyten. Eine Ionenspeicherschicht und eine zweite Elektrode schließen sich an. Liegt zwischen beiden Elektroden eine kleine elektrische Spannung, fließt ein Ionenstrom in die WO3-Schicht. Elektronen kompensieren die Ladung der Ionen.

Gasochrome Scheiben kommen mit zwei Schichten und einem Spalt für die Gaszufuhr aus. Fließt durch ihn ein Gemisch aus Argon und Wasserstoff (Verhältnis 100 zu 1), kommt es am Katalysator zu einer Ionenreaktion. Sie löst die Verfärbung des Wolframoxids aus. Wird ein sauerstoffhaltiges Gas (etwa Luft) durch den Spalt geschleust, kehrt sich die Reaktion um.

Das ursprünglich transparente Wolframoxid färbt sich durch die eingelagerten Ionen und Elektronen blau. Bei umgekehrter Spannung wird der Effekt rückgängig gemacht.

Intelligente Exoten im Einsatz

Sensoren, Aktoren, Elektronik und herkömmliche Konstruktionswerkstoffe sind die Zutaten der neuen Adaptronik. Ein Beispiel: Künftige Airbus-Flugzeuge sollen auf adaptiven Tragflügeln gleiten, die ihre Form an die äußeren Bedingungen anpassen (bild der wissenschaft 12/1996, “Spritsparende Schwingen”). An ihrer Entwicklung beteiligt sich die Deutsche Forschungsanstalt für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Braunschweig, eines der wichtigsten Zentren der Adaptronikforschung in Deutschland.

Bei den Aktoren haben es die Adaptroniker oft mit Exoten zu tun, die entweder erst vor wenigen Jahren entwikkelt wurden oder bislang hauptsächlich in Forschungslabors Einsatz fanden. Hier die wichtigsten:

Piezokristalle – keramische Werkstoffe, die sich nach Anlegen einer elektrischen Spannung ausdehnen oder zusammenziehen. Intelligente Flüssigkeiten – sie sollen vor allem als Stoß- und Schwingungsdämpfer zum Einsatz kommen, weil sich ihre Zähigkeit schnell und genau steuern läßt. Sie bestehen aus Dispersionen von Kunststoff- oder Eisenteilchen. Formgedächtnislegierungen – sie haben zwei Gestalten. Adaptive Flügel sollen den Spritverbrauch von Flugzeugen reduzieren. Beispiel: Die sogenannte Fowlerklappe am hinteren Tragflächenrand wird flexibel und verbessert so die Aerodynamik. Über- oder unterschreitet ihre Temperatur einen bestimmten Wert, wechseln sie in die andere Form. Meist bestehen sie aus Nickel-Titan-Legierungen. Beim Hubble-Teleskop klappten sie die Sonnensegel aus.

Frank Fleschner

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