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Das Riesenreich der kleinsten Dinge

Allgemein

Das Riesenreich der kleinsten Dinge
Nanotechnologie – lukrative Zukunftswissenschaft oder Spielwiese für Spinner? Kartoffeln, Möbel, Computer, Raketen – all das soll in Zukunft von Millionen winziger Roboter aus einzelnen Atomen und Molekülen zusammengesetzt werden. Hat die Nanotechnologie das Potential zur Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts?

Das also soll der Messias sein: Ein zerstreut wirkender Mitvierziger mit deutlichen Ausfallerscheinungen des Haupthaares, eine viel zu große Hornbrille auf der Nase. Auf dem Overheadprojektor liegen ein paar handgekritzelte Folien mit Gedanken, die jeder im Saal schon seit Jahren kennt. Und doch: Alles lauscht gebannt den Ausführungen des Mannes, von dessen Visionen eine ganze Wissenschaftsdisziplin abhängt. Sein Name: Eric Drexler, seine Profession: die Nanotechnologie.

Nein, Herr Drexler gibt keine Interviews. Nicht mehr. Alles was es zu sagen gebe, sei in seinen wegweisenden Büchern „Engines of Creation“ (Schöpfungsmaschinen) und „Nanosystems“ niedergeschrieben. Darin zeichnet Drexler das Bild einer besseren Welt, in der Abermillionen winziger Maschinen von der Größe eines Staubkorns unglaubliche Dinge tun. Sie sollen in der Art von Industrierobotern zunächst Kopien von sich selbst herstellen – und dann so nützliche Gegenstände wie U-Boote, die im Blutkreislauf schwimmend Krebszellen zerstören, Weltraumraketen, die samt Treibstoff nur noch vier Tonnen wiegen, oder Computer von der Größe eines Eiweißmoleküls. Rohstoff: Einzelne Atome – vorwiegend Kohlenstoff und Silizium – sowie organische Moleküle.

Drexler hat Erfahrung mit Visionen: Während seines Studiums beschäftigte er sich mit der Besiedlung ferner Planeten und der Rohstoffgewinnung auf Asteroiden – doch daraus wurde nichts. Bei der Nanotechnologie scheinen die Realisierungschancen größer – da sind sich Drexler und die rund 400 Teilnehmer der Konferenz einig, die eigens zu diesem Thema im November in Palo Alto, Kalifornien, abgehalten wurde.

Auch die Medien sind Drexler wohlgesonnen. Vom amerikanischen Nachrichtenmagazin Newsweek wurde Drexler in den Club der 100 fürs nächste Jahrhundert wichtigsten Personen aufgenommen. Von Kollegen wird er als Erbe des Nobelpreisträgers Richard Feynman gehandelt, der Ende der fünfziger Jahre mit einem vielzitierten Vortrag die Nanotechnologie begründete.

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Drexler nahm Feynmans Ideen auf und skizzierte in seinen Büchern komplette Fabriken, in denen Nanomaschinen aus molekularen Rohstoffen makroskopische Gegenstände herstellen. Von der Beschaffung der Rohstoffe über die Fabrikkoordination und Umweltfragen bis zum Mißbrauch von Nanowaffen – Drexler hat an alles gedacht.

Im Zentrum seines Gedankengebäudes steht der Assembler: Der „Monteur“ spielt die zentrale Rolle in der Nanofabrik. Vereinfacht gesagt handelt es sich um einen Arm, der aus einem Depot Atome und Moleküle greift und diese nach einem Programm, das im Roboter gespeichert ist, an ihren Platz setzt. Als Schnappverschluß dienen chemische Bindungen, komplexe Molekülketten arbeiten als Förderbänder. Im Prinzip fabriziert der Assembler ein riesiges Molekül mit Aberbillionen von Atomen, das die Gestalt einer Kartoffel, eines Tisches oder einer Rakete annimmt.

Drexlers Assembler kann noch mehr: Durch Vervielfältigung (Replikation) stellt er unzählige Kopien von sich her, die dann für neue Aufgaben umprogrammiert werden können. Fünf Argumente sprechen nach Meinung der Nano-Optimisten zugunsten von Drexlers Ideen:

Richard Feynman hat die prinzipielle Machbarkeit postuliert. Das schwächste Argument – schließlich können sich auch Nobelpreisträger irren. Mit Rastertunnelmikroskopen ist es schon heute möglich, einzelne Atome oder Moleküle zu manipulieren und zum Beispiel neue Aminosäuren herzustellen, die in der Natur nicht vorkommen. In der Chemie werden ständig neue Stoffe aus einzelnen Atomen und Molekülen synthetisiert, wenn auch massiv parallel und weitgehend unkontrolliert. Die Nanotechnologie verletzt keine physikalischen Grundsätze – sowohl Quanteneffekte als auch Störungen durch die Wärmebewegung der Atome glauben die Physiker in den Griff zu bekommen. Jede lebende Zelle ist im Prinzip ein Assembler. Sie besitzt ein eingebautes Programm (DNA), wird von außen mit Rohstoffen und Energie versorgt und stellt unablässig Kopien von sich her. So, wie viele dieser Zellen sich zu Bäumen oder Menschen zusammenrotten, müßten sich auch künstliche Produkte herstellen lassen. Das Prinzip bleibt gleich, nur Rohstoffe und Endprodukt weichen von der Natur ab.

Damit seine Vorschläge möglichst schnell in die Praxis umgesetzt werden, hat Drexler einen Preis gestiftet. 250000 Dollar soll der erhalten, der als erster einen 100 Nanometer langen Roboterarm und einen Computer mit einer Kantenlänge von 50 Nanometern baut. Wie ernst renommierte Firmen oder Institutionen – darunter Rank Xerox, IBM und die amerikanische Raumfahrtbehörde NASA – diesen Ansporn nehmen, zeigte sich auf der Nanokonferenz. Einige Kostproben aus der aktuellen Nanoforschung:

Richard Smalley von der Rice University in Houston, Mitentdecker der Fullerene und Nobelpreisträger von 1996, berichtete über den letzten Stand in der Erforschung sogenannter Nanoröhren. Das sind zigarrenförmige Buckyballs aus Kohlenstoff mit sensationellen Eigenschaften. Sie lassen sich so beeinflussen, daß sie je nach Bauform den Strom mal besser, mal weniger gut leiten. Sie sind extrem robust und biegsam, was sie zur idealen Greifspitze in einem zukünftigen Assembler macht. Smalley zeigte eine Variante, in der der Innendurchmesser der Röhre gerade dem Außendurchmesser eines gewöhnlichen Buckyballs entspricht. Dieses Bauteil ließe sich wahlweise als Ventil, Sensor oder elektrischer Schalter einsetzen.

Schon Realität ist Papier aus Nanofasern, das sich zerreißen läßt wie normales Papier, allerdings schwarz wie Graphit ist. Forscher am Massachussetts Institute of Technology haben herausgefunden, daß die Kohlenstoffzigarren mehr Wasserstoffmoleküle speichern können als nach der Theorie möglich ist. Das macht sie interessant als Tanks für künftige Wasserstoffspeicher.

Nadrian Seeman von der New York University berichtete über Experimente, in denen er das Erbgutmolekül DNA zu einem Würfel gefaltet hat, den er als Grundstein für künftige Nanowelten benutzt. Andere Kollegen zeigten ähnliche Moleküle, die wie Legosteine ineinander schnappen – jedenfalls in der Theorie. Drexler selbst präsentierte Kugellager, Kardangelenke und einen Motor aus 3557 Silizium-, Kohlenstoff- und Schwefelatomen, der einmal als Antrieb eines Assemblers dienen soll.

Doch die meisten der bunten Bilder von atomaren Kugellagern oder Nanofabriken, in denen sich mittels virtueller Realität die Atome förmlich anfassen und verschieben lassen, haben ein Manko: Sie sind reine Fiktion. Sie sind das Produkt von Computersimulationen, die zwar die chemischen und physikalischen Gesetze einbeziehen, experimentell aber nicht nachprüfbar sind – zumindest bis heute. „Computer Aided Speculation“ (computergestützte Spekulation) nennt Phillip Barth, Ingenieur bei Hewlett Packard, diese „Ingenieursdisziplin“ scherzhaft.

Niemand – auch Eric Drexler nicht – hat bisher ein Rezept, wie man einen Assembler bauen kann. Viele Fragen sind unbeantwortet. Zu diesem Resümee kommt auch David Jones, Autor des Wissenschaftsmagazins Nature, in einer Besprechung des Buches „Nano“, in dem der Autor Ed Regis die Ideen Eric Drexlers würdigt. Jones stellt unangenehme Fragen:

Woher bezieht ein Assembler seine Informationen, welches Atom wo ist, um es auszuwählen und zu plazieren? Woher weiß der Assembler, wo auf der Nanobaustelle er sich gerade befindet? Woher bezieht der Assembler seine Energie, um Molekülbindungen zu spalten, sich fortzubewegen und Berechnungen im internen Computer auszuführen?

Bevor diese Fragen nicht geklärt sind, muß man die Nanotechnologie nicht ernst nehmen“, schließt Jones seine Kritik. „Ich bin es leid“, pflegt Drexler mit der Attitude des unverstandenen Genies auf solche Kritik zu antworten. Die Drexler-Jünger empfehlen: „Lest seine Bücher.“ Doch die in Drexlers Nano-Bibel skizzierten Lösungen, Energie über Schallwellen zu übertragen oder Informationen per Funk zu verteilen, klingen für Ingenieure heutigen Zuschnitts zu vage.

Das hindert die modernen Alchemisten um Drexler nicht, schon mal Preisvorstellungen für künftige Nanoprodukte zu entwickeln.

Ralph Merkle vom kalifornischen Kopierer-Hersteller Rank-Xerox und zweiter Mann hinter Drexler am Foresight Institut in Palo Alto schätzt, daß ein Kilogramm Nanomaterie unter einer Mark kosten wird. Vor allem Diamant wollen die Nano-Alchemisten herstellen, weil das Material leicht und hart ist und interessante elektrische Eigenschaften hat. Auch Kartoffeln oder Holz könnten in der Nanofabrik produziert werden. Irgendwann könnte jeder Haushalt ein Gerät ähnlich einer Mikrowelle haben, in der aus einer Flasche Aceton ein saftiges Steak wächst.

Doch wozu? „Holz ist unheimlich billig, und Bäume machen das sehr gut“, wendet Jane Alexander ein, die für die amerikanische Regierung über Nanoelektronik forscht. Und das Steak würde von der „Licht-Gras-Kuh“-Fabrik wahrscheinlich immer noch günstiger hergestellt. Bei vielen Produkten bekäme die Nanotechnologie harte Konkurrenz von Mutter Natur.

Außerhalb der Vereinigten Staaten werden solche Visionen deshalb kaum ernst genommen. Zwar knüpft man auch in Europa oder Japan große Hoffnungen an die Nanotechnologie, allerdings assoziieren Japaner und vor allem deutsche Forscher mit dem Schlagwort Nanotechnologie völlig andere Anwendungen.

Nicht der Bau eines Assemblers steht hier im Vordergrund, sondern weit realistischere Ziele wie die Entwicklung von hochkomplexen Schaltkreisen für superschnelle Computer, neue Diagnostika in der Medizin oder die Beschichtung von Oberflächen mit Nanopartikeln. Um auf diesem zukunftsträchtigen Markt einmal die erste Geige zu spielen, will Japan innerhalb von zehn Jahren 200 Millionen Dollar zur Erforschung der Nanotechnologie ausgeben.

Deutschland versucht nach einigem Zögern voll auf den Nanozug aufzuspringen. Bei einem Workshop, der Anfang März auf Betreiben des Bundesforschungsministeriums in Bonn stattfand, wurde die künftige Strategie diskutiert. Dabei ging es mal nicht um Fragen, was man alles tun können würde, wenn man nur wollen täte, sondern um konkrete Projekte. Dr. Gerd Bachmann vom VDI-Technologiezentrum Physikalische Technologien in Düsseldorf, der die physikalischen Nanoaktivitäten in Deutschland koordiniert, stellte sogar einen Wettbewerb in Aussicht, der nach dem Vorbild des Bioregio-Wettbewerbs Kompetenzzentren mit Entscheidungsträgern aus Wissenschaft, Wirtschaft und Verwaltung unterstützen soll.

Den Besuchern des Workshops ist klar, daß die Nanotechnologie einen langen Atem erfordert – das bestätigen auch die Teilnehmer der neuen Delphi-Studie (bild der wissenschaft 3/1998, „Was die Zukunft bringen soll“). Sie erwarten die ersten Früchte der Nanotechnologie frühestens Ende des nächsten Jahrzehnts. Mikroroboter, die sich autonom durch die Blutbahn bewegen, Werkstoffe, die sich mittels Selbstorganisation quasi von alleine bauen, oder Quantenbauelemente für molekulare Computer werden erst jenseits des Jahres 2010 aktuell.

Doch solche, für einen Visionär vom Schlage Eric Drexlers geradezu banalen Anwendungen wären höchstens der erste Schritt auf dem Weg in die Nanogesellschaft, in der niemand mehr arbeiten muß, weil alles von Robotern erledigt wird, in der Umweltverschmutzung der Vergangenheit angehört, weil Nanoroboter auf Wunsch auch aus Abfall nützliche Dinge herstellen und in der Hunger und Tod überwunden sind.

Wann es soweit ist? Da geben sich die Nanojünger zugeknöpft. Vielleicht 2020, vielleicht auch später. Drexler: „Die Nanotechnologie wird kommen. Wir müssen uns jetzt darauf vorbereiten.“ Für den Fall, daß es doch etwas länger dauert, hat Drexler verfügt, daß sein Kopf nach seinem Ableben eingefroren wird. Sein Gehirn wiederzubeleben, werde kein Problem sein, glaubt Drexler, schließ-lich könne man dann mit Hilfe der Nanotechnologie Frostschäden an Organen reparieren.

Etikettenschwindel

Wer die einschlägige Wissenschafts- und Wirtschaftspresse liest, bekommt den Eindruck, Nanotechnologie sei bereits Realität. Doch was als Nanotechnologie verkauft wird, sind häufig alte Hüte. Motoren, Sensoren und Pumpen der Mikrosystemtechnik, die schon heute in der Medizin oder in Airbags verwendet werden, sind mit Abmessungen im Mikrometerbereich größer als Nanomaschinen, die rund ein Tausendstel so klein sein sollen. Der wichtigste Unterschied: Mikrosysteme werden aus einem Block – meist Silizium – geätzt (top-down), während Nanosysteme Molekül für Molekül wie aus Bauklötzen aufgebaut werden (bottom-up).

Nanopunk und Nützlicher Nebel

„Stell dir vor, Deine Knochen wären aus Diamant-Stoff gewebt. Du könntest aus dem Fenster fallen und einfach aufstehen und weggehen.“ Eric Drexlers Ideen haben viele Science-fiction-Autoren zu eigenen Geschichten – auch „Nanopunk“ genannt – angeregt. Die irrwitzigste Idee, die dennoch schon ernsthaft theoretisch untersucht wurde, ist der „Utility Fog“ (Nützlicher Nebel): Dabei handelt es sich um eine neblige Suppe, in der unsichtbar kleine Nanoroboter mit Greifarmen schwirren. Auf Befehl rotten sie sich zu jedem beliebigen Gegenstand – zum Beispiel einem Möbelstück – zusammen. Wenn einem das Möbel nicht mehr gefällt, programmiert man den Nebel neu und ein anderer Gegenstand kristallisiert aus. Sogar Oberflächenbeschaffenheit und Farbe sollen sich über winzige Antennen der Roboter verändern lassen.

Infos im Internet

Nanotechnologie im Überblick (viele Links) http://nano.xerox.com/nano Institut für molekulare Fabrikation http://www.imm.org/

Bernd Müller

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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