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Röhren, Räder und Rotoren

Allgemein

Röhren, Räder und Rotoren
Die Natur hält alle Patente der Nanowelt. Die Natur hat das Rad schon lange vor dem Menschen erfunden – außerdem Pumpen, Förderbänder, Elektromotoren und zahlreiche andere „Maschinen“, von denen Ingenieure nur träumen können.

Jetzt ist der Stürmer an der gegnerischen Abwehr vorbei, läuft noch ein paar Schritte und holt aus zum Schuß. Das runde Leder schnellt wie eine Rakete durch die Luft und – Toooor. Was für ein Tag!“

Eine ganz gewöhnliche Fußballreportage? Vielleicht. Aber keine gewöhnliche Übertragung. Die Stimme kommt nämlich nicht aus dem Lautsprecher eines Radios, sondern flüstert aus einer unscheinbaren Zellkultur im Labor der Abteilung für Biophysik an der Universität Stuttgart. „Wir untersuchen, wie Zellen miteinander kommunizieren“, erläutert Prof. Dieter Hülser schmunzelnd. Die Fußballreportage hat er mit Hilfe einer Elektrode als moduliertes elektrisches Signal an einer Stelle in die Zellkultur eingeleitet und an einer anderen Stelle wieder aufgezeichnet und verstärkt. Damit will Hülser demonstrieren, daß seine Zellen auch diese Art von Informationen durchschleusen können.

Die Vorführung zeigt, daß die Natur in einem Jahrmilliarden währenden Wechselspiel aus Zufall und Notwendigkeit – in einer vollkommen ziel- und absichtslosen Evolution – geschafft hat, wovon Nanoforscher bislang nur träumen: molekulare Elektromotoren und Räder, kleinste Synthesemaschinen, Pumpen, Förderbänder und Propellerantriebe sowie raffinierte Methoden im Aufbau komplexer Strukturen. Sogar die Informationsgesellschaft ist in der Biologie vorweggenommen: Innerhalb und zwischen den Zellen findet ein reger Informationsaustausch statt – wenn es sein muß, werden sogar Fußballreportagen übermittelt.

Eine wichtige Rolle spielen dabei feine Kanäle. „Bis auf Blut- und Skelettmuskelzellen sind alle untersuchten Körperzellen, die eine gemeinsame Aufgabe haben, über Zell-Zell-Kanäle miteinander verbunden“, erklärt Hülser. „Manche leiten sogar Strom durch den Körper.“

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Erste Hinweise auf die Existenz der Zell-Zell-Kanäle gab es bereits Ende der fünfziger Jahre. Später wurden in elektronenmikroskopischen Aufnahmen sogenannte „Gap Junctions“ entdeckt, charakteristische Kontaktzonen zwischen den Zellen, die nur durch einen drei Nanometer schmalen Spalt getrennt sind (ein Nanometer ist ein millionstel Millimeter). Inzwischen weiß man, daß winzige Röhren mit einem Durchmesser von nur 1,5 Nanometer diesen Spalt zapfenartig überbrücken. Sie bestehen aus einer bestimmten Sorte von Eiweißmolekülen, die die Wissenschaftler „Connexine“ nennen.

Verbindet sich eine solche Proteinröhre einer Zelle mit einer Röhre der Nachbarzelle, entsteht ein Zell-Zell- Kanal. Die Verbindung gleicht der Kopplung eines Gartenschlauchs. Gap Junctions enthalten Hunderte dieser zapfenartigen Verbindungen zwischen den Zellen, die ständig auf- und abgebaut werden. Durch sie gleichen sich elektrische Potentiale oder Konzentrationen kleiner Moleküle – zum Beispiel Zucker – über die Zellen hinweg aus. Große Moleküle dagegen werden wie von einem Filter zurückgehalten.

Neben Gap-Junction-Kanälen gibt es in den Zellmembranen noch viele weitere Kanalproteine mit anderen, raffinierteren Funktionen. Ein Beispiel sind die Natrium-Kalium-Pumpen, die Natrium-Ionen aus dem Zellinneren nach außen schaffen und dafür Kalium ins Innere schleusen. Diese Leistung hat allerdings ihren Preis: Die Pumpen gehören zu den größten Energieverbrauchern in der Zelle. In Nervenzellen verschlingen sie bis zu 70 Prozent der verfügbaren Energie.

Unter den Ionenkanälen sind aber nicht nur Energiekonsumenten, sondern auch Energieerzeuger. Zu den Schlüsselmolekülen zählt die ATP-Synthase, die fast im gesamten Organismenreich zu finden ist – von den einfachsten Bakterien bis zu den kompliziertesten Vielzellern. Sie dient zur Bildung von Adenosin-Triphosphat (ATP). Dieses energiereiche Molekül ist eine Art Universalwährung, mit der in der Zelle viele Stoffwechselprozesse „bezahlt“ werden.

Die ATP-Synthase gleicht einer Münzprägemaschine, die durch eine Art Wasserrad angetrieben wird. Paul D. Boyer von der University of California in Los Angeles hat sie als eine „molekulare Maschine“ bezeichnet. Zusammen mit John E. Walker vom Medical Research Council Laboratory of Molecular Biology im britischen Cambridge bekam er für die Aufklärung der Struktur und Wirkungsweise der ATP-Synthase letztes Jahr den Nobelpreis für Chemie verliehen. Dritter Preisträger war Jens C. Skou von der dänischen Aarhus-Universität, der die Natrium-Kalium-Pumpe entdeckt hat. Nicht der Mensch hat also das Rad erfunden, sondern die Natur ein paar Milliarden Jahre vor ihm.

Die ATP-Synthase ist aber nicht das einzige molekulare Rädchen, das das Leben am Laufen hält. Die Geißeln von Bakterien – korkenzieherartige Fortsätze, die zur Fortbewegung dienen – machen sich dieses Prinzip ebenfalls zunutze. Eine Bakteriengeißel ist über mehrere ring- und plattenförmige Strukturen in die Zellmembran eingebaut und sitzt auf einer Art Kugellager.

Ringsum befinden sich Protonenkanäle, die wie ein Elektromotor wirken, wenn sich die positiv geladenen Teilchen durch die Porenöffnungen hindurch in die Zelle zwängen. Auf eine noch nicht genau bekannte Weise wird dabei eine elektrische Abstoßung erzeugt, die die Geißel wie einen Propeller mit bis zu 250 Umdrehungen pro Sekunde in Rotation versetzt.

„Für eine Umdrehung müssen rund 1200 Protonen durch die Bakterienzellmembran strömen – durch nur ein Dutzend Kanäle“, sagt Dr. Stephan Schuster vom Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried bei München. Zusammen mit seinen Kollegen Harald Engelhardt und Edmund Bäuerlein hat er den Aufbau eines wichtigen Bausteins des Geißelmotors in dem Bakterium Wolinella succinogenes aufgeklärt. „Wir bezeichnen diese Komponente als Basalplatte. Sie ist 170 Nanometer groß und ein Teil des Kugellagers für die Geißel. Sie besteht aus Proteinen und hat eine spiralförmige Struktur.“

Die Platte ist freilich nur eine der mindestens 40 verschiedenen Komponenten des Geißelapparats, an dessen Aufbau ungefähr 55 Gene beteiligt sind. „Bei den Kolibakterien und anderen Mikroorganismen, die mehrere Geißeln über den ganzen Zellkörper verteilt tragen, fehlt die Basalplatte“, sagt Schuster. „Wahrscheinlich konzentrieren sich hier an einem Punkt weniger starke Kräfte, so daß ihre Stützfunktion entbehrlich ist.“

Die Rotationsrichtung der Bakteriengeißeln wechselt ungefähr im Sekundentakt zwischen Uhr- und Gegenuhrzeigersinn. Dreht sie sich im Gegenuhrzeigersinn, wird das Bakterium wie ein kleines Motorboot vorwärtsgetrieben.

Bei Kolibakterien spiralisieren sich die einzelnen Geißeln zu einer Superhelix auf und drehen sich gemeinsam. Auf diese Weise können sich die Mikroorganismen bis zu 75 tausendstel Millimeter pro Sekunde fortbewegen. Eine Rotation im Uhrzeigersinn – die die Superhelix wieder auflöst – hat eine ungezielte Fortbewegung zur Folge.

Das Ergebnis des ständigen Hinundher ist ein nur scheinbar wirrer Zickzackkurs. „Wir sprechen von einer gerichteten Zufallsbewegung“, erläutert Schuster. „Die Bakterien haben nämlich sehr wohl eine bevorzugte Richtung, beispielsweise zu Nährstoffen hin oder von Giftstoffen weg. Und diese Richtung schlagen sie, statistisch gesehen, dann auch ein.“

Auch höherentwickelte Einzeller, etwa das Pantoffeltierchen Paramecium, besitzen fadenförmige Anhängsel zur Fortbewegung, die Cilien. Sie funktionieren jedoch völlig anders als Bakteriengeißeln. Ihre Energie beziehen sie nicht über einen Protonenstrom, sondern über den Abbau von ATP.

Die glatte Perlmuttschicht einer Muschel (rechts) entpuppt sich bei 4000facher Vergrößerung als bizarres Mauerwerk (oben). Die Weichtiere legen zunächst ein Gerüst aus Zuckerfasern (Grafik unten: gelb) mit einer Proteinhülle (rot) an. In diesen „Mörtel“ wachsen die „Backsteine“ aus Kalk (blau). Die Kalkkristalle bleiben durch feine Poren miteinander verbunden. Diese Architektur ist besonders leicht und extrem belastbar. Angetrieben werden sie nicht durch einen rotierenden Motor, sondern durch Muskeln, die die Cilien in ein graziles Schlagmuster versetzen. Diese ruderartigen Bewegungen treiben die Zelle voran. „Die Cilien führen 10 bis 50 Schläge pro Sekunde aus“, sagt Klaus Hausmann, Zoologe an der Freien Universität Berlin, der diese peitschenartigen Bewegungen mit Hochgeschwindigkeits-Filmkameras und Stroboskopblitzen studiert hat.

Das Kernstück der Cilien ist das Axonem. Es besteht aus zahlreichen Proteinröhren, die so aneinander gelagert sind, daß sie einen Hohlzylinder von etwa 200 Nanometer Durchmesser bilden. Die Röhren und andere Proteinstrukturen bilden auch das Skelett im Inneren der Zellen. Neben einer Stütz- und Stabilisierungsfunktion haben sie wichtige Transportaufgaben. Sie arbeiten wie winzige Förderbänder, die große Moleküle durch die Zelle bewegen. Bei der Zellteilung trennen die Proteinfasern sogar die zuvor verdoppelte Erbsubstanz und teilen sie gleichmäßig auf die beiden zukünftigen Zellen auf.

Das Zellskelett ist wesentlich an der Fortbewegung von Einzellern auf Oberflächen beteiligt. Dabei wirken die Proteinfasern als Kraftzentren im Zellinneren, an die sich andere Eiweißmoleküle einhaken. Diese dienen als winzige „Füßchen“: Sie ragen durch die Zellmembran, verankern sich in Unebenheiten auf dem Boden und stoßen die Zelle immer wieder davon ab. Aus Tausenden solcher molekularen Schritte besteht das Vorwärtskriechen einer Amöbe.

Die biologischen Kleinststrukturen entfalten ihre raffinierten Leistungen auch bei der Muster- und Strukturbildung, die nicht wie in der Technik Pläne und zielgerichtete Aktionen erfordert, sondern im Rahmen der physikalisch und chemisch gegebenen Randbedingungen gleichsam von selbst abläuft. Ein eindrucksvolles Beispiel für diese Selbstorganisation ist die Biomineralisation. Darunter versteht man den Aufbau fester mineralischer Strukturen – insbesondere von Kristallen aus Kalziumkarbonat (Kalk), Kalziumphosphat und Kalziumoxalat – durch lebende Zellen. Dies geschieht in der Regel wohlgeordnet mit Hilfe eines Gerüsts aus organischen Molekülen.

Ein besonders gut erforschtes Beispiel für Biomineralisation ist die Bildung von Perlmutt. Daraus besteht die glatte Innenschicht von Muschelschalen und das Gehäuse von Meeresschnecken. Was je nach Lichteinfall weißlich-grau erscheint oder aber in allen Farben des Regenbogens schillert, offenbart sich auf den zweiten, mikroskopischen Blick als filigranes Wunderwerk.

Perlmutt ähnelt einem Mauerwerk aus Backsteinen und Mörtel. Die Backsteine sind flache, parallel zur Schalenoberfläche angeordnete Kalkblättchen – die Aragonitkristalle -, die das auftreffende Licht verschiedenartig reflektieren können. Der Mörtel besteht aus nur 10 Nanometer dünnen Fasern aus langkettigen Zuckermolekülen, die von einer Proteinschicht umhüllt sind. Wie ein Team japanischer Wissenschaftler unter der Leitung von Kunio Naka- shima der Mie-Universität herausgefunden hat, ist eines der Proteine ähnlich aufgebaut wie Seide.

Maurer bauen eine Mauer, indem sie die Steine in einer bestimmten Anordnung aufeinanderschichten und mit dem Mörtel dazwischen verbinden. Beim Mauerwerk des Perlmutts ist das gerade umgekehrt. Denn hier wird erst das Mörtelgitter fertiggestellt, in das die Backsteine hineinschlüpfen. Die Oberflächenzellen der Weichtiere scheiden bei der Schalenbildung nämlich zuerst die organischen Substanzen aus. Anschließend werden die Aragonitkristalle in das Gitter der Fasern eingelagert.

Wie das möglich ist, haben vor kurzem Tilmann Schaffer und seine Kollegen vom Materialforschungszentrum der University of California in Santa Barbara entschlüsselt. Mit Hilfe des Rasterkraftmikroskops, das mit einer feinen Siliziumspitze noch millionstel Millimeter kleine Strukturen abtasten kann, entdeckten sie, daß das Gitter von zahlreichen 5 bis 50 Nanometer großen Poren durchsetzt ist. Sie stellten Veränderungen der Leitfähigkeit während der Perlmuttbildung fest, was bedeutet, daß Ionen durch die Poren strömen. Daraus schließen die Forscher, daß die Aragonitkristalle durch die winzigen Öffnungen wachsen, und zwar ohne Unterbrechung und ohne daß ständig neue Kristallisationskeime nötig wären.

Mit dieser Biomineralisation nach Plan errichten die Weichtiere eine komplexe Kleinstarchitektur, die trotz ihres geringen Gewichts eine hohe mechanische Belastbarkeit und damit einen verhältnismäßig effektiven Schutz garantiert. Eines Tages, so hoffen die Nanoforscher, könnten außer Muschelschalen auch Autokarosserien oder Raketenteile nach diesem Prinzip entstehen.

Infos im Internet

Zell-Zell-Kanäle http://www.uni-stuttgart.de/RUSuser/bioinfo/Institut/biophys/home.htm

ATP-Synthase http://www.nobel.se/announcement-97/chemistry97.html

Wahrnehmung und Bewegung von Bakterien http://www.zoo.cam.ac.uk/zoostaff/levin/Chemotaxis.html

Rüdiger Vaas

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