Am wundersamen Kosmos der Molluskenschalen illustriert Hans Meinhardt, Physiker am Tübinger Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie, die faszinierende Theorie der selbstorganisierten Form- und Texturbildung. Dabei ist ihm ein überaus lesbares, informatives und geradezu sinnliches „Bilderbuch“ gelungen.
Nach einem kurzen Einführungskapitel über dynamische Systeme wird im Hauptteil die Musterbildung in Schneckenhäusern und Muschelschalen im Rahmen eines geistreichen Dialogs zwischen Theorie und Empirie vor den staunenden Augen des Lesers ausgebreitet. Dazu gibt es eine begleitende Programm-Diskette nebst Erläuterungen und ein Kapitel über die integrierte dreidimensionale Visualisierung von Schalenform und -textur, an dem der in Kreisen von Computergraphik-Freaks legendäre Prusinkiewicz mitgewirkt hat.
Im Anhang schließlich eröffnet der Autor rasche Einblicke in moderne Forschungsbereiche – wie das Gebiet der Embryonalentwicklung bei höheren Lebewesen -, wo die Molekulartheorie der Morphogenese weit ernsthaftere Anwendungsmöglichkeiten als die Erklärung bunter Molluskenschalen verheißt.
Vor allem aber will Meinhardt demonstrieren, was partielle Differentialgleichungen vom Reaktions-Diffusions-Typus bei der Erforschung der uns umgebenden, vielgestaltigen Wirklichkeit zu leisten vermögen. Hätte er darüber eine gelehrte Monographie verfaßt, dann wäre ihm wohl das Lob der Fachwelt ebenso gewiß gewesen wie das Desinteresse der durchaus gebildeten und belehrbaren Nicht-Spezialisten.
So aber hat Meinhardt ein fesselndes Buch für jedermann geschrieben: Die wunderschönen Molluskenschalen nehmen den Betrachter gefangen – und machen ihn bereit für die mathematische Verführung. Dabei sind die Schalen von Muscheln und Schnecken nichts anderes als zu Mustern geronnene Zeit. Denn an ihrer jahrhundertelangen Wandlung lassen sich minutiös die prägenden Prozesse ablesen.
Ein Sandkorn im Lesevergnügen: Das Buch macht – ganz Zeitgeistkonform – eine bisweilen recht geschmäcklerische Gratwanderung zwischen harter nichtlinearer Mathematik und Weichtierkunde, die keinem der beiden Gebiete vollständig gerecht werden kann. Wer die Fallstricke der Reaktions-Diffusions-Gleichungen nicht kennt, wird durch Meinhardts Abhandlung womöglich in trügerische Sicherheit gewiegt, und wem die Physiologie von Mollusken bisher fremd war, der wünschte sich hierzu vielleicht eine nicht zu knappe, elementare Einführung.
Dazu kommt der doch recht stolze Preis, der manchen vom Kauf abhalten dürfte. Dabei hat Meinhardts Buch sicher mehr verdient als auf dem Geburtstagstisch akademischer Würdenträger oder Museumsdirektoren zu landen.
Hans Meinhardt WIE SCHNECKEN SICH IN SCHALE WERFEN Springer Verlag Berlin 1997 (mit CD ROM) 252 S., DM 78,-
Hans Schellnhuber